Zum Jahrestag des Kriegsbeginns im Irak kam die Karlsruher Rechtsanwältin Brigitte Kiechle auf Einladung des Friedensforums Lahr nunmehr zum zweiten Mal zu einem Vortrag in die Stadtmühle. Durch ihre vielfältigen Kontakte in den Irak konnte sie auch diesmal aktuelle Informationen bieten, die sonst kaum zu erhalten sind.
Entgegen der hierzulande häufig verbreiteten Einschätzung, so Kiechle, hat der von Seiten der US-Besatzung "handverlesene" Regierungsrat keinen Rückhalt in der irakischen Bevölkerung. Es sei allzu offensichtlich, daß dieser keinerlei Kompetenzen habe. Im Irak wird vielmehr gemutmaßt, daß von US-Seite eine Dreiteilung des Irak in einen kurdischen, einen sunnitischen und einen schiitischen Teil geplant sei. Frau Kiechle räumt dem aber keine reelle Chance ein, da die entsprechenden Siedlungsräume stark durchmischt sind. Beispielsweise liege die Stadt mit dem größten zahlenmäßigen Anteil kurdischer Bewohner, nämlich Bagdad, keineswegs im sogenannten Kurdengebiet und umgekehrt seien die Kurden in den beiden kurdischen Städten Kirkuk und Mossul in der Minderheit. Eine ethnisch-religiöse Aufteilung des Irak habe zudem keinerlei Tradition.
Die Berufung des Regierungsrats durch die US-Besatzungsmacht habe bereits zu Kuriositäten geführt, die den Spott der Iraker herausforderten. So wurde beispielsweise Ahmed Chalabi, der im Irak als Handlanger des CIA bekannt ist, über die schiitische Liste berufen und der Vertreter einer kommunistischen irakischen Partei gelangte über dieselbe Liste in den Regierungsrat. Zudem werde im Irak genau registriert, daß der Regierungsrat nicht das geringste Mitspracherecht über die Verwendung der Ölförderung hat.
Bisher ist es der US-Regierung nicht gelungen, dem Regierungsrat Legitimität zu verleihen. Auch innerhalb der verschiedenen Gruppierungen wie der Schiiten oder der Kommunisten gibt es heftige Diskussionen über die Beteiligung am Regierungsrat und letztere haben sich über dieser Frage gar gespalten. Da es innerhalb der irakischen Opposition gegen das Saddam-Regime keine Einigkeit über die Frage einer Beteiligung am von der US-Besatzung berufenen Regierungsrat gegeben hatte, lieferte dies Vorwände für einen "Zwang" zur Beteiligung. Bisher hat dieser Regierungsrat lediglich einige Feiertage eingerichtet, mit der Entscheidung für die Scharia als Grundlage des Familienrechts eine rückwärtsgewandte Entwicklung für die irakischen Frauen eingeleitet, die deren gesellschaftliche Stellung hinter die der Saddam-Jahre zurückzuwerfen droht. Im übrigen diente der Regierungsrat als "Blitzableiter" für Entscheidungen des US-Militärs.
Der Druck auf die Besatzungsmacht, endlich Wahlen zuzulassen, wächst stetig an. Besonders die Schiiten, die zahlenmäßig die stärkste Gruppe im Irak bilden, drängen darauf - und zugleich auf einen Abzug der US Streitkräfte. Am 30. Juni soll die Regierungsmacht formell übertragen werden, doch Wahlen sollen - so heißt es - spätestens Ende 2004 oder im Januar 2005 stattfinden. So sieht die Planung auch vor, daß die "souveräne" irakische Regierung noch vor den Wahlen eine "Einladung" an die US-Regierung ausspricht, ihre "Schutztruppe" im Irak zu belassen.
Am 8. März wurde ein erster Entwurf für eine neue irakische Verfassung vorgelegt. Mit einem Kompromiss-Papier wurde versucht, alle am Regierungsrat beteiligten Gruppierungen einzubinden. So ist es auch nur eine relative unbedeutende Niederlage für Sunniten und Schiiten, daß der Islam lediglich als eine Quelle des irakischen Rechtssystems festgeschrieben wurde. Lediglich in einer Hinsicht werden Sonderkompetenzen zugestanden: Die Übergangsregierung soll bindende internationale Verträge abschließen können und eine "vertrauensvolle Zusammenarbeit" mit der Besatzungsmacht wurde festgeklopft. Daß es sich bei den internationalen Verträgen um solche mit der US-Regierung um Militärbasen und mit den Öl-Multis um Konzessionen über die Erdölfelder handeln wird, dürfte kaum als Prophetie anzusehen sein.
Positiv am Verfassungsentwurf sind hingegen die proklamierten Menschenrechte, formale rechtsstaatliche Garantien, Gewaltenteilung, die Gleichstellung der Geschlechter und ein Mindestquorum für den Frauenanteil bei der Nationalversammlung von 25 Prozent zu werten. Ebenso gewisse Autonomierechte für die kurdischen, aber auch andere Gebiete, Regionalparlamente und eine damit einher gehende Schwächung der Zentralregierung. All dies existiert bisher jedoch lediglich auf dem Papier und entgegen dem Bild das in westlichen Medien gezeichnet wird, sind bis heute Demonstrationen und Kundgebungen nicht generell erlaubt.
Zum Charakter des bewaffneten Widerstands im Irak erläuterte Frau Kiechle, daß es starke Gruppierungen im Irak gibt, die zwar einen bewaffneten Volksaufstand gegen die Besatzung begrüßen würden, sich an den gegenwärtigen bewaffneten Aktionen aber aus verschiedenen Gründen nicht beteiligen. Über diese sei außerhalb des Irak nur wenig zu erfahren. Die Gegnerschaft zu den militanten Gruppen resultiere zum einen daher, daß diese nicht in der Bevölkerung verankert sind, zum anderen, daß diese ganz andere Ziele verfolgen. Statt dem Aufbau einer Demokratie, strebte ein Teil dieser militanten Gruppen ein autoritäres Regime ohne große Unterschiede zum Regime Saddam Husseins an, ein anderer Teil - islamistische Gruppen - einen Gottesstaat nach dem Vorbild des Iran.
Vielfach sei erkennbar, daß die Angriffe auf US-Einheiten eine militärische Ausbildung voraussetzten. Von daher sei zwar naheliegend, daß es sich um ehemalige Militärangehörige oder Mitglieder der Baath-Partei handele. Andererseits folgt daraus nicht zwingend, daß diese Kräfte für eine Rückkehr Saddam Husseins kämpften. Gezielte Angriffe auf Angehörige des US-Militärs oder Kollaborateure hätten zwar durchaus Unterstützung in der Bevölkerung, allerdings nur in konkreten Konfliktsituationen, wo es beispielsweise darum gehe, Personen vor dem Zugriff des US-Militärs zu verstecken. Im Zweifelsfall entscheide sich die Bevölkerung eher für irakische Kämpfer als für das US-Militär.
Die Situation sei vergleichbar mit der in Nordirland zur Zeit der schärfsten Konfrontation oder der in Palästina. Die einfachen Leute litten vor allem unter den häufigen Razzien. Vor diesem Hintergrund einer ständig aufgeheizten Konfrontation seien auch die spontanen Lynchmorde an GIs zu sehen. In manche Viertel in Bagdad würde sich das US-Militär heute nicht mehr hineintrauen. Es entstehe eine Dynamik und die Anzahl der Anschläge nehme weiter zu. Diese seien teilweise völlig wahllos und so wurden auch auf Schlange stehende Arbeitslose schon mehrfach Anschläge verübt. Kein vernünftiger Mensch im Irak würde bei der gegenwärtigen Not, Arbeitsuchende als Kollaborateure bezeichnen
Auf der anderen Seite gebe es auch eine Art Selbstorganisation in den Stadtteilen, es werde versucht gemeinsame Gremien zu bilden, um für Sicherheit im Viertel zu sorgen und soziale und Nahrungsmittel- Versorgung zu organisieren. Auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad nimmt zu und auf dieser zivilen Ebene kommt es ebenso zu Konflikten mit der Besatzung. Dabei geht es nicht nur um die extrem schlechte Entlohnung, auch gegen Privatisierungen insbesondere in der Mineralölindustrie wurde gestreikt. Die Besatzung mußte solche Privatisierungen teilweise zurücknehmen.
Um den Widerstand der Iraker zu brechen, griffen US-Konzerne schon auf philippinische Arbeitskräfte zurück oder brachten Arbeitskräfte aus den USA mit in den Irak. Und um die gewerkschaftliche Interessenvertretung kontrollieren zu können, wurde versucht, die "Gewerkschaften" aus der Saddam-Hussein-Ära wieder einzusetzen. Mindestens in einem Fall spitzten sich die Konflikte derart zu, daß eine Raffinerie von Arbeitern besetzt wurde. Ein "Kommando" brachte den Direktor um.
Über die Situation der irakischen Frauen zeichnete Brigitte Kiechle ein ebenso bedrückendes Bild. Die Mehrzahl der fortschrittlichen Frauenorganisationen hatte sich vor gut einem Jahr gegen den Krieg ausgesprochen. Immerhin war es ihnen auch in der Saddam-Hussein- Ära möglich, eigenständige Strukturen aufrecht zu erhalten und sie befürchteten einen Rückschlag in Hinblick auf die Frauenrechte. Dies ist nun leider auch eingetreten. Eine irakische Frauen-Aktivistin, Nadia Mahmoud, erklärt hierzu: "Wenn die irakischen Frauen beginnen, ihre jetzige Situation mit derjenigen unter dem Baath-Regime zu vergleichen und sagen, es sei damals besser gewesen, zeigt dies, wie weit wir in unserem Kampf zurück geworfen wurden." Im Poker um Einfluß im Regierungsrat wurden die Frauenrechte als Verfügungsmasse eingesetzt und durch Zugeständnisse an die Schiiten-Organisationen immer weiter eingeschränkt.
So wurde Anfang dieses Jahres die Scharia als Grundlage des Familienrechts vereinbart, womit altes geltendes Familienrecht aus dem Jahr 1959, das auch in der Saddam-Hussein-Ära weitgehend respektiert worden war, abgeschafft wurde. Es wurden wesentliche Änderungen im Eherecht, Erbrecht und Kinderrecht eingeführt, die dem Gleichstellungsgrundsatz der Geschlechter im Verfassungsentwurf widersprechen. All dies wurde nicht über den Irak hinaus bekannt, und diese Änderungen treten in Kraft, wenn der US-amerikanische "Zivilverwalter" Bremer kein Veto einlegt. Gegen diese rückwärts gewandte Entwicklung gab es massive Proteste, an denen sich mehr als 80 Frauengruppen, darunter auch religiös und nationalistisch orientierte, beteiligten. Selbst eine Frau aus dem Regierungsrat nahm daran teil. Die Gesetzesänderungen wurden als "größter Angriff auf die Frauenrechte sei 40 Jahren" bezeichnet.
Die für die irakischen Frauen nachteilige Entwicklung ist auch in den großen Städten sichtbar. Frauen sind jetzt mehrheitlich verschleiert oder trauen sich gar nicht mehr auf die Straße. Danach gefragt, werden als Begründung mangelnde Sicherheit, Vergewaltigungen, Entführungen und Attacken auf nicht-verschleierte Frauen genannt. Selbst Kinder werden deshalb oft nicht mehr zur Schule geschickt. Ob bei den Frauenentführungen kriminelle Banden oder islamistische Kräfte dahinter stecken, läßt sich zur Zeit kaum beantworten. Überall jedoch, wo Islamisten Einfluß gewannen, wurden frauenfeindliche Regelungen umgesetzt.
Oft auch greifen Frauen wegen der latenten Bedrohung zum Schleier. Mißliebige Frauen wurden auf offener Straße verprügelt oder s wurde gegen sie gar eine Fatwah (religiöser Mordaufruf) verhängt. Manche Frauenaktivistinnen trauen sich nur noch mit Bodygards in die Öffentlichkeit und wechseln täglich ihre Wohnung. Bezeichnender Weise wird außerhalb des Irak auch kaum bekannt, daß Kritikerinnen der Besatzung vom US-Militär nicht geschützt werden.
Nach Einschätzung von Frau Kiechle will die Mehrheit der irakischen Bevölkerung keinen "Gottesstaat". Die Irakerinnen und Iraker haben der Iran vor Augen und sind unmittelbar auch von iranischen Flüchtlingen über die Situation im Iran informiert. Selbst schiitische Organisationen vertreten nur einen Teil der Schiiten.
Den Kurden im Norden des Irak wurde vom US-Militär in den letzten Jahren in einer willkürlich begrenzten Zone eine gewisse Autonomie eingeräumt. Die Auseinandersetzungen um den zukünftigen Status werden nun jedoch immer heftiger. Die beiden großen Kurden-Parteien, PUK (Patriotische Union Kurdistans) und KDP (Kurdische Demokratische Partei), hatten mit dem US-Militär zusammen gegen Saddam Hussein gekämpft und mehr Autonomie als Belohnung erwartet. Doch inzwischen macht Desillusionierung breit, denn es ist deutlich erkennbar, daß die Rechte der Kurden eingeschränkt statt erweitert werden. Und so wird zunehmend deutlich, daß die beiden Parteien keinen Rückhalt bei der Mehrheit der Kurden besitzen.
In der anschließenden Diskussion konnte Brigitte Kiechle zu einigen Themen noch genauere Informationen geben. Den Wunsch nach Kontakten in den Irak oder einer eventuellen Patenschaft beantwortete sie mit dem Angebot, Verbindung zu einer Gewerkschafterin im Irak herstellen zu können. Gerade aus den Reihen der irakischen Gewerkschaften habe es immer eine klare Position zur Besatzung gegeben. Differenzen tauchten bei der Einschätzung auf, ob die US-Besatzung Interesse an einem Bürgerkrieg im Irak haben könne. Frau Kiechle meinte hierzu, daß ein Bürgerkrieg den Interessen der US-Wirtschaft an einer ungehinderten Ausbeutung des Irak entgegenstehe. Von Mitgliedern des Lahrer Friedensforums wurde dagegen die Position vertreten, daß nach dem Vorbild der Ausbeutung der Ölquellen in Nigeria ein Bürgerkrieg für Konzerne und Besatzungsmacht gleich mehrere Vorteile biete: Der Widerstand in der Bevölkerung werde neutralisiert und zudem ein Vorwand gegenüber der Weltöffentlichkeit geschaffen, der die unbegrenzte Fortdauer der Besatzung rechtfertige.
Klaus Schramm