Dieser Tage wurde die Aussage eines britischen Diplomaten, David Brouchers, eines Vertreters der Regierung bei den
Abrüstungsverhandungen in Genf, in den großen Medien außerordentlich hochgespielt. Dessen Darstellung gab der
Selbstmord-These erneut Aufrieb. Broucher hatte im Royal Court of Justice vor Lordrichter Hutton erzählt, der am 17. Juli
tot aufgefundene Bio-Waffenexperte David Kelly habe seinen Selbstmord quasi angekündigt:
Broucher zeichnete das Bild eines um den Ausbruch des Irak-Krieges besorgten David Kelly. Dieser hatte als
Waffeninspekteur fast 10 Jahre lang im Irak gearbeitet. Wenige Monate vor Beginn des Irak-Krieges habe Broucher
mit Kelly gesprochen. Kelly habe die UN-Waffeninspektionen stets als ausreichend und zweckmäßig eingeschätzt.
Zudem habe er irakischen Kontaktleuten zugesichert, daß "sie nichts zu befürchten hätten", wenn sie mit den
Waffeninspekteuren zusammenarbeiteten. Auf seine Frage, was er machen würde, wenn es dennoch zu einem
Angriff auf den Irak kommen werde, habe Kelly geantwortet: "Möglicherweise werde ich tot im Wald gefunden
werden." Zu diesem Zeitpunkt, habe er, Broucher, diese Formulierung so interpretiert, daß Kelly befürchtete,
von den Irakern angegriffen zu werden. Die Bedeutung sei ihm erst bewußt geworden, als er davon erfuhr, daß
Kelly in einem Waldstück in der Nähe seines Hauses mit offenen Pulsadern gefunden wurde. Zeugen für diese
Unterredung mit Kelly konnte Broucher nicht benennen.
Broucher durfte bei der Vernehmung darüber hinaus die Vermutung äußern, Kelly habe sich gegenüber den Irakern als
Verräter gefühlt. Damit wird zugleich suggeriert, Kelly müsse als Verräter der Sache der Alliierten angesehen werden.
Weiter erging sich Broucher in Spekulationen darüber, daß Kelly bereits zu diesem Zeitpunkt seinen Selbstmord
geplant habe.
Allerdings passen diese Schlußfolgerungen Brouchers nicht zum Ablauf der Ereignisse. Wenn Kelly bereits Ende
2002 / Anfang 2003 seinen Selbstmord geplant hätte, wäre die Ausführung sicherlich einigermaßen vorbereitet
gewesen und nicht so, daß Kellys Tod jetzt das Bild eines spontanen Selbstmords abgibt. Denn erstens wird
Kelly durchweg als "Familienmensch" charakterisiert und dennoch wurde kein Abschiedsbrief an seine Angehörigen
gefunden. Und zweitens lassen mehrere Emails, die er noch kurz vor seinem Tod verschickte keine auch noch so
geringe Andeutung erkennen.
Im Gegenteil lassen die Emails, die Kelly abgeschickt hat, kurz bevor er das Haus verließ, "um sich die Beine
zu vertreten" wie er gegenüber seiner Frau gesagt hatte, die Selbstmord-These unglaubwürdig erscheinen.
Die britische Zeitung 'Sunday Mail' veröffentlichte von der Witwe Kellys freigegebene Ausschnitte aus den Emails.
In einem Email an die amerikanische Autorin Judy Miller sprach Kelly von "vielen dunklen Akteuren die Spiele
spielen". Judy Miller interpretiert diese Andeutung als Hinweis auf den britischen Geheimdienst und das
Verteidigungsministerium. Sie bestätigt zugleich, daß es in diesem Email Kellys keinerlei Anzeichen gab,
daß Kelly depressiv gewesen sei oder vorhatte, Selbstmord zu begehen. Im Gegenteil schrieb er, er wolle
"bis zum Ende nächster Woche" warten, bevor er über seine nächsten Schritte nachdächte.
In einem Email an Professor Alastair Hay schrieb Kelly, daß er sich auf seine Rückkehr nach Bagdad freue.
Weiter ist darin zu lesen: "Vielen Dank für Deine Unterstützung. Hoffentlich ist es bald vorüber, so daß ich
nach Bagdad gehen und mit dem wirklichen Job weitermachen kann." Ein weiterer Freund, der ein Email
von ihm erhalten hatte, nannte die Nachricht "kämpferisch". Kelly habe darin Entschlossenheit bekundet,
den Skandal zu überwinden
Keine der Personen, die noch bis kurz vor seinem Tod mit Kelly Kontakt hatten, sahen Anzeichen für einen
Selbstmord und können auch rückblickend keine solchen erkennen. Zumindest merkwürdig ist es auch, daß
es keinen Abschiedsbrief Kellys an seine Familie gibt. Allseits wird David Kelly als freundlich, rücksichtsvoll
und familienorientiert geschildert. In Fällen von Selbstmord ist es äußerst selten, daß ein so charakterisierter
Mensch seiner Frau und seinen Kindern nicht zumindest einen Brief hinterläßt, in dem er seine Gründe,
Auswegslosigkeit etc. erklärt und sich verabschiedet.
Bei einer Gesamtbewertung ist zudem zu berücksichtigen, daß Kelly jahrelang in führender Position in einer
britischen Forschungseinrichtung für chemische und biologische Waffen tätig war. Dort und bei seiner Tätigkeit
als UN-Waffeninspekteur und den damit verbundenen Kontakten dürften ihm eine Vielzahl an Informationen
zugänglich gewesen sein, die für die britische Regierung kompromittierend und somit für die bereits
angeschlagene Position des britischen Premiers Tony Blair äußerst bedrohlich sein können. Ein Mann
in der Stellung Kellys hat erfahrungsgemäß einen nur wenigen Mitwissern zugänglichen "Giftschank",
der gewissermaßen als Lebensversicherung dient. Doch vielleicht sind hinter den Kulissen schon längst
Verhandlungen über den Wert der darin enthaltenen Dossiers zu Gange.
Harry Weber
Ergänzung (26.08.2003):
In der Ausgabe der 'Scotsman News' vom 23.08. berichtet deren politischer Redakteur Nelson Fraser von einem
weiteren Indiz, das erst in den nächsten Wochen in den Verhandlungen zur Sprache kommen wird: David Kelly
war Angehöriger der Baha'i Religion. Das bemerkenswerte dabei ist, daß die gläubigen Baha'i einer bestimmten
Wiedergeburts-Vorstellung anhängen und daher Selbstmord strikt ablehnen.