Satellitenortung, Datenbankabgleiche und Personen- spotting erleichtern die Überwachung.
Wer unter Verfolgungswahn leidet, sollte die britische Hauptstadt meiden. Durchschnittlich
dreihundertmal am Tag wird man in London von einer der mehr als 200.000 fest installierten
Überwachungskameras aufgenommen. Alle drei Minuten gerät ein Besucher im Herzen der
Westminster- Demokratie - statistisch gesehen - in das Visier eines Systems, das Kritiker an
einen optischen Wachhund erinnert. Was in London, das 1974 zur Überwachung der großen
Straßenkreuzungen die ersten 145 Kameras aufstellen ließ, heute niemanden mehr stört, hält
schleichend in vielen Regionen der Erde Einzug. So entging Ende Januar nicht einer der 75.000
Zuschauer des amerikanischen Football-Endspiels Super Bowl in Tampa den
elektronischen Augen von zwanzig Kameras, die am Eingang des Stadions aufgestellt worden
waren und automatisch die Gesichtszüge jedes Besuchers mit Bildern aus der
Verbrecherkartei verglichen. Die Herstellerfirma Graphco Technologies - sie überließ der
Polizei die neuen Geräte kostenlos zum Test - hatte allen Grund zum Feiern: Immerhin
neunzehn Personen waren als Kriminelle registriert. Dutzende Bilder eines jeden Besuchers
wurden mit einem von Visage Technologies entwickelten Softwareprogramm auf bis zu 128
individuelle Gesichtsmerkmale verglichen, vom Winkel der Backen- knochen bis zur Dicke der
Nase.
Was in den achtziger Jahren noch zu einem Aufschrei von Bürgerrechtsgruppen geführt hätte,
scheint heute vom tibetanischen Lhasa (wo es trotz geringen Autoaufkommens
Verkehrsüberwachungskameras gibt) bis ins amerikanische Tampa weitgehend akzeptiert zu
werden: eine Überwachung, die sich langsam auf alle Felder des Lebens erstreckt. Vieles
spricht dafür, daß die behutsame Einführung neuer Überwachungstechniken zu einer
Anpassung und Gewöhnung führt, bei dem sich Menschen ähnlich wie Amphibien verhalten:
Wirft man diese in heißes Wasser, so werden sie ihm umgehend zu entkommen versuchen;
setzt man sie jedoch in ein ihrer Körpertemperatur entsprechendes Bad und erhöht die
Temperatur nur allmählich, so werden sie sich einlullen lassen.
In Vergessenheit geraten zu sein scheint ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem
Jahre 1984, in dem es hieß: "wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit
notiert und Informationen dauerhaft gespeichert, verwendet und weitergegeben werden, wird
versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen." Über die flächendeckende
Videoüberwachung, maschinenlesbare Ausweise, elektronische Fußfesseln,
Datenbankabgleiche, Satellitenortung, Bewegungsmelder, DNA-Karteien und Stimmanalysen
scheinen viele Überwachungswege, die George Orwell wohl kaum für möglich gehalten und
auch das Bundesverfassungsgericht 1984 noch nicht gekannt hat, heute zum Bestandteil der
globalisierten Informations- gesellschaft geworden zu sein. Kreditkartenunternehmen erstellen
anhand der eingehenden Daten Kundenprofile, Mobiltelefone sind zugleich Peilsender, weil
sie Bewegungsprofile liefern, und selbst im Internet surft man weniger anonym, als den
meisten bewußt sein dürfte. Die nächsten Schritte sind schon vorgezeichnet.
In den Vereinigten Staaten stellen manche Krankenhäuser ihren Angestellten Arbeitskleidung
zur Verfügung, die mit einem Chip ausgestattet ist, über den der Aufenthaltsort jederzeit
festzustellen ist. Was in Notlagen Sinn hat, kann unliebsame Folgen haben: Jeder
Toilettengang und jede Überschreitung einer Pause werden unweigerlich aufgezeichnet. Die
Grenzen zwischen Privatheit und den Interessen des Arbeitgebers verschwimmen. Und für
die Privatkleidung bietet ein Bochumer Unternehmen in der neuen Kollektion nicht nur
Modisches mit integrierten Solarzellen, die ein Mobiltelefon aufladen, sondern zusätzlich ein
Satelliten-Navigationssystem an, mit dem etwa eifersüchtige Ehemänner oder Ehefrauen ihren
Partner überall ausfindig machen könnten. Eine "Kindersuchweste", die es Eltern ermöglichen
soll, ihre Jüngsten über Funk ausfindig zu machen, konnte hingegen bei der Düsseldorfer
Modernesse nicht vorgestellt werden; sie wurde, am Frankfurter Flughafen beschlagnahmt,
weil die dortigen Sicherheitssysteme Fahnder auf den Plan riefen. Ein amerikanisches
Unternehmen entwickelt Schuhe, die mit jedem Menschen, dessen Hand man schüttelt,
elektronische Visitenkarten austauschen. Der Abstand zwischen Mensch und Computer wird
bald nicht größer sein als jener zwischen Jacke und Träger. Und Überwachungstechnik
könnte dann so allgegenwärtig sein wie heute der Sauerstoff.
Einen neuen Weg auf dem Gebiet von Ortung und Identifizierung beschreiten biometrische
Überwachungs- systeme: Im Gegensatz zur konventionellen Video- Aufzeichnung, die letztlich
eine Verlängerung des menschlichen Auges ist, bedürfen ihre Bilder nicht mehr der
Interpretation durch einen Menschen. Die Universität von Leeds entwickelt gemeinsam mit
der Universität von Reading eine Software, die auf Videosequenzen "normales" von
"verdächtigem" Verhalten unterscheiden kann. Diebe, Terroristen und Mörder, so die
Annahme der Wissenschaftler, verhielten sich anders als "normale" Menschen. Wer künftig
auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums scheinbar ziellos daherschlendert, könnte von der
neuen Software im ungünstigen Fall schon vorbeugend als potentieller Autodieb entlarvt
werden.
Biometrische Verfahren nutzen die physiologischen Merkmale eines Menschen, um ihn
eindeutig zu identifizieren. Neben Bewegungsabläufen können das zum Beispiel
Thermo- gramme, bei denen die Temperatur der Gesichtszonen gemessen wird, die Stimme
oder der Augenhintergrund sein. Solange die mit Hilfe der Überwachungstechnik gesammelten
Daten aus der anonymen Menschenmenge in einer Demokratie gewonnen werden, gibt es
Kontrollmechanismen, die Mißbrauch verhindern. Anders als in China, wo amerikanische und
deutsche Firmen vor 1989 die Hard- und Software zur Überwachung des Tiananmen-Platzes
in Peking lieferten (ihre Aufnahmen dienten nach dem Massaker dazu, auch geflüchtete
Demonstranten aufzufinden), ist die Gefahr des Mißbrauches in der freien Welt gering.
Überwachung, Identifizierung und Vernetzung der gewonnenen Informationen erleichtern
jedoch Massen- und Routine- überwachung, ohne Überwachungs- und
Durchsuchungs- genehmigungen zu benötigen.
Militärische Anlagen, Gefängnisse, Kernkraftwerke, Banken und Industrieunternehmen
werden schon in wenigen Jahren mit Hilfe der Biometrie neue Sicherungssysteme einführen.
In Deutschland und in der Schweiz bieten Banken Kundenschließfächer an, die mit
Fingerabdruck-Scannern arbeiten. Sie funktionieren aber nur, solange der Kunde keine Blasen
oder Schwielen an den Fingern hat.
In einer Untersuchung der Universität Hull berichtete der Kriminologe Clive Norris, daß die
vorhandenen automatischen Erkennungstechniken die britische Regierung in die Lage
versetzen könnten, die Schritte eines jeden einzelnen zu kontrollieren. Möglich macht das eine
Software, die auch in Deutschland von Polizeibehörden eingesetzt wird, das sogenannte
Personenspotting. Aus einer Menschenmasse heraus können damit in jeder Sekunde zwanzig
Menschen herausgefiltert werden, die sich schnell mit vorhandenen Datensätzen abgleichen
lassen. Das System kann eine "gekennzeichnete" Person auch über mehrere Kameras hinweg
verfolgen. Noch einfacher ist es, wenn auch das Fahrzeugkennzeichen einer Zielperson
bekannt ist: Seit 1994 vertreibt das britische Unternehmen Talon Systems eine von
Cambridge Neurodynamics entwickelte Technik, die Nummernschilder bei Tag und Nacht
erkennt. Diese Kameras stehen etwa an den Ein- und Ausfallstraßen von London. Mit ihnen
kann auch nach mehreren Tagen noch festgestellt werden, wer zu einem bestimmten
Zeitpunkt in welche Richtung gefahren ist.
Deutsche Forscher haben das Personenspotting verfeinert: Selbst wenn Gesichter durch
Haarschnitt, Bart oder Brille verändert wurden, sind sie angeblich zweifelsfrei auch in
chaotischer Umgebung zu erkennen. Und nicht nur das: Liegen Vergleichsaufnahmen nicht
vor, liefert die Software automatisch eine Analyse nach Rasse, Geschlecht und Alter.
Udo Ulfkotte
Kommentar:
Wenn der Autor der FAZ, Udo Ulfkotte, in seinem obigen Artikel die Bezeichnungen "westliche Demokratie" und "freie Welt"
fast beschwörend verwendet, mutet mir dies ein wenig wie Selbstbeschwichtigung an. Denke ich zum Beispiel daran, in
welch horrendem Maß unter der deutschen "rot-grünen" Bundesregierung allein die Telefonüberwachung gesteigert wurde (siehe
Artikel vom 23.03.), erscheint mir das bei Ulfkotte zum Ausdruck kommende Vertrauen denn
doch ein wenig leichtfertig.
Klaus Schramm