13.08.2003

Artikel

mit freundlicher Genehmigung
des Verfassers

Die Negation des irrationalen Über-Ichs
bei La Mettrie

[La Mettrie als "anarchistischer" "Pädagoge"]

Vorbemerkung

Diese 1991 verfasste Schrift ist eine von drei Arbeiten, die jeweils La Mettrie, Stirner bzw. Reich "...als 'pädagogischen' 'Anarchisten'" behandeln. Titel und Anführungszeichen wurden damals wegen des Ortes der geplanten Veröffentlichung gewählt (siehe Angabe bei der Stirner-Schrift). Der neu gewählte gemeinsame Titel soll deutlicher signalisieren, wovon diese Arbeiten handeln. Der alte Titel wurde als Untertitel bewahrt, denn Pädagogik und Anarchismus sind durchaus die Bereiche, in die die hier dargestellten Gedanken gehören -- wenngleich sie bisher dort noch nicht zu vernehmen waren.

im Zusammenhang zu sehen mit:
»Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei Max Stirner«
»Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei Wilhelm Reich«

Der französische Philosoph Julien Offray de La Mettrie (1709-1751) ist als Vertreter eines mechanistischen Materialismus (»Der Mensch als Maschine«) in die Geschichte eingegangen und wurde bisher weder mit dem Anarchismus noch mit der Pädagogik1 in Verbindung gebracht. Wenn ich ihn hier erstmals als anarchistischen Pädagogen bzw. "anarchistischen" "Pädagogen" bezeichne, so wäre also eine besondere Begründung dafür zu erwarten. Diese Begründung ist jedoch hier nicht auf befriedigende Weise zu geben, aus mindestens zwei Gründen:

  • Sie würde eine gründliche Revision der seit langem fest etablierten Klassifizierung La Mettries als kruden Materialisten erfordern und hätte dabei weit über die geläufige Übung hinauszugehen, einen Autor, dessen Leistungen auf einem speziellen Gebiet, z.B. eben der Pädagogik, vergessen oder verkannt wurden, ins kollektive Gedächtnis zurückzurufen, zu rehabilitieren und vielleicht noch seine "Aktualität" zu behaupten;2

  • Eine solche Revision brächte -- nach der Wiederentdeckung von La Mettries einst kollektiv verdrängten, dann vergessenen und später als überholt angesehenen und deshalb weitgehend ignorierten Gedanken sowie nach Eruierung und genauer Analyse der Gründe für dieses Ideenschicksal -- eine neue Betrachtung des ideengeschichtlichen Prozesses der sog. Aufklärung (und der zeitweiligen Rolle des Anarchismus in ihm) mit sich.

Es liegt somit sicherlich ein Wagnis in dem Versuch, aus einem solchen Projekt, dessen Sinn und Nutzen ja ebenfalls erst zu erweisen wäre, einen Teil vorab separat darzustellen. Dieses Wagnis einzugehen scheint jedoch vertretbar, weil dieser Teil, der die anthropologischen Grundlagen jeder Pädagogik betrifft, auch der zentrale im Denken La Mettries ist; und zentral steht Pädagogik in einem auf Aufklärung gerichteten Denken dann, wenn sie sich, mit klassisch gewordenen Worten gesagt, auf die Frage konzentriert, warum der Mensch, obwohl frei geboren, überall in Ketten liegt -- und natürlich darauf, ob gesellschaftliches Leben ohne diese Ketten denkbar, realisierbar und wünschenswert wäre (anarchistische Pädagogik).

Ich möchte also die Bedenken gegen den Versuch, bisher kaum bekannte Gedanken La Mettries hier in Kürze und damit notwendigerweise begrifflich nicht mit der an sich gebotenen Präzision und argumentativ relativ "ungeschützt" zu präsentieren, zurückstellen, zumal ich hoffe, dass dennoch zumindest dem verständniswilligen Leser die besondere Position La Mettries erkennbar wird. Zu deren besserer Kenntlichkeit werde ich

I. einen Fachartikel über "anarchistische Erziehung" vorstellen, der hier sozusagen als Kontrastfolie dient;

II. eine knappe Skizze von Leben, Werk und Rezeption La Mettries geben3; und

III. versuchen, Teile von La Mettries Philosophie so darzustellen, dass sein (potentieller) Rang sowohl als "Aufklärer" wie auch als "anarchistischer" "Pädagoge" deutlich wird (und auch der Sinn der hier gesetzten Anführungszeichen).

I.

Die 12-bändige »Enzyklopädie Erziehungswissenschaft« enthält einen Artikel über "anarchistische Erziehung", in dem Stefan Blankertz, ein auf beiden Gebieten, Pädagogik und Anarchismus, gleichermassen ausgewiesener Autor, diesen Begriff in historischer und systematischer Hinsicht zu bestimmen versucht.4 Systematisch gesehen, sagt Blankertz, liessen sich mit anarchistischer Erziehung überhaupt keine "bestimmten Formen, Methoden, Inhalte oder Ziele" verbinden. Einziges Kriterium sei "die absolute Freiwilligkeit der Beteiligten." Das klingt gut in unserer Zeit. Aber: Zu den Beteiligten zählen dabei offenbar nur die Erzieher, also Eltern und Lehrer. Sie sollen ohne staatliche Bevormundung "freie Schulen" betreiben können. Um seine Idee zu verdeutlichen, sagt Blankertz, es sei Anarchistenpflicht, beispielsweise eine katholische Privatschule gegen staatliche Einflussnahme zu verteidigen. Die Erzieher sollen also "frei" sein, ein Kind (dessen "Freiwilligkeit" wohlweislich nicht thematisiert wird) vor und während der Schulzeit katholisch, autoritär oder wie auch immer zu erziehen. Später sei das auf also beliebige Weise erzogene und durch Erreichen einer festgelegten Altersgrenze "mündig" gewordene Kind dann seinerseits "frei", seine "eigenen" Entscheidungen zu treffen.

Das ist freilich, wie der Autor einmal beiläufig auch ausdrücken zu wollen scheint, klassischer Liberalismus -- eine Doktrin also, deren Anhänger, aus Naivität oder Zynismus, sich über die inhaltliche Füllung von Begriffen wie "Mündigkeit" oder "Freiwilligkeit", bei den Erziehern wie bei den zu Erziehenden, nur sehr karge Gedanken zu machen pflegen. Blankertz definiert denn auch Anarchismus rundweg als "Modus ... unter dem alle von Menschen gewünschten Lebensformen nebeneinander bestehen können." Mit Menschen sind in diesem Konzept offenbar wiederum nur die bereits Erzogenen gemeint. Und so verwundert nicht mehr, in diesem Artikel über anarchistische Erziehung folgende allgemeine Bestimmung zu lesen: "Erziehung widerstrebt ihrer Struktur nach der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Sie muss, auch wenn sie Indoktrination zum Ziel hat, langfristig gesehen die zu Erziehenden bis zu dem Punkt bringen, an dem diese die indoktrinierten Normen selbständig, ohne weitere Anleitung erfüllen." Erziehung ist also demzufolge per se anarchistisch; eine spezifisch anarchistische kann es somit gar nicht geben.5

Erziehung zur Selbständigkeit soll, um dies einmal auszuschreiben, in diesem Konzept von Erziehung also heissen, dass das zunächst nur biologisch bestimmte Kind auch psychisch zu bestimmen, zu prägen, zu enkulturieren, d.h. so zu sozialisieren ist, dass es vor allem die -- beliebige -- normative Struktur seiner -- zufälligen und daher immer "fremden" -- sozialen Umwelt als seine "eigene" betrachtet; dass es eine -- fremdbestimmte -- "Identität" erwirbt; dass es die ursprüngliche Heteronomie der Normen als Autonomie empfindet; dass es durch seine Erzieher, grossteils unbewusst, ein stabiles, gesellschaftskonformes und, da präkognitiv vermittelt, irrationales "Über-Ich" bekommt.

So hat Erziehung freilich zu allen Zeiten und in allen Kulturen funktioniert, und vielleicht deshalb erblicken alle positivistischen Sozialtheorien, von historischer und soziologischer empirischer Evidenz getragen, in jenem quasi angeborenen Über-Ich eine anthropologische Konstante, zumindest eine zwangsläufige Folge der -- undifferenziert akzeptierten6 -- Erziehungsbedürftigkeit des Menschen. "Revolutionäre" Sozialtheorien, die einen "Neuen Menschen" verhiessen, unterschieden sich da im Grundsatz nicht von konservativen. Sofern sie die Heraufkunft des "Neuen Menschen" überhaupt auf dem langwierigen erzieherischen Weg -- und nicht durch ein Mirakel im Verlauf einer politischen Revolution -- erstrebten, so wollten sie diese mit derselben Methode bewirken, mit der sich seit Jahrtausenden der "Alte Adam" als Charaktertypus reproduziert hat, nämlich mit der präkognitiven Implantation eines Über-Ichs -- nur eben sollte dies mit "neuen" (allerdings von den "alten" Menschen ersonnenen) Normen gefüllt sein. Es leuchtet unmittelbar ein, dass auf diese Weise ein anarchistischer, wahrhaft autonomer Mensch nicht einmal theoretisch konzipiert werden kann. (Ein autonomes Über-Ich müsste, um nicht contradictio in adiecto zu sein, auf rationale Weise zustandegekommen sein).

Es liesse sich darlegen, dass die Theoretiker, die sich mit Anarchismus und anarchistischer Erziehung im affirmativen Sinn befasst haben, den soeben skizzierten Gedankengang nie konsequent vollzogen haben;7 dass es deshalb eine spezifisch anarchistische Pädagogik streng genommen bisher nicht gab; und dass, als Folge davon, die politischen Theorien des Anarchismus stets ohne solides anthropologisches Fundament scheinradikal zwischen Extremformen des Liberalismus und Sozialismus changierten bzw. eine Art Synthese aus beiden darstellten.8 Die Anarchisten traten oft in Konkurrenz zu marxistischen Parteien, agierten mit festem Blick auf das, was als erfolgreiche politische Praxis imponierte. Diese Orientierung an existierenden sozialen Bewegungen, ob diese nun proletarisch, kunstavantgardistisch, liberalsozialistisch, ökologisch, feministisch oder sonstwie geprägt waren, war der Ausbildung einer genuin anarchistischen Theorie stets abträglich, so dass die bisherigen Anarchismen heute als unoriginelle und/oder anachronistische Doktrinen angesehen werden, die -- wie z.B. auch der Autor des zitierten Artikels implizit meint -- durch die politische Entwicklung in den Ländern des "freien Westens", wenn man von akzidentiellen Mängeln, Defiziten und Defekten absieht, prinzipiell überholt sind.

Der historische Anarchismus, der eigentlich, wie ich meine, die Spitze der historischen Aufklärung hätte werden müssen, gilt, wie diese selbst, seit längerem als antiquiert, und dies durchaus nicht ohne zureichenden Grund, denn keiner seiner Vertreter hat es bisher in Angriff genommen, die tolldreiste und hochzynische, gleichwohl aufgrund ihrer Pseudohumanität in Politik und Wissenschaft kaum ernsthaft angefochtene liberalistische Behauptung, hier und heute habe man es mit "aufgeklärten", "mündigen", "freien" etc. Menschen zu tun, fundiert zurückzuweisen und den substantiellen Unterschied zwischen Liberalismus und Anarchismus, zwischen liberalistischem Pluralismus und anarchistischem Pluralismus, theoretisch zu postulieren, geschweige denn in ein politisches Programm umzusetzen.9

Wer einen theoretischen Anarchismus, der diesem Namen gerecht werden soll, entwickeln will, der dürfte sich nicht scheuen, die quantitativ übermächtig erscheinende Empirie zu akzeptieren, die die bisherige Menschheitsgeschichte nun einmal als "archistische" ausweist. Er dürfte daran nicht resignieren und müsste sich zunächst auf die beiden schon angesprochenen und im Zusammenhang zu sehenden Kernprobleme (im Individuum: das irrationale Über-Ich / in der Gesellschaft: die Freiheit des Liberalismus) konzentrieren. Dies mag prinzipiell auch ohne expliziten Rückgriff auf die Geschichte der philosophischen und politischen Ideen möglich sein; doch wenn sich in ihr Ansatzpunkte für ein solches Unternehmen finden liessen, wäre dies gewiss eine gute Hilfe. Ein solcher Ansatzpunkt, wahrscheinlich sogar ein "archimedischer", um Anarchismus als Aufklärung unter heutigen, vermeintlich ja aufgeklärten Verhältnissen zu reanimieren, scheint mir im Werk von La Mettrie zu liegen, im Werk eines Autors, der von seinen Zeitgenossen -- und zwar von den Aufklärern mindestens ebenso heftig wie von den Gegenaufklärern -- aus Gründen, die im Kern seiner Philosophie liegen und die noch heute virulent sind, gehasst, verfolgt und zu dem "Paria des Geistes" gemacht wurde, der er folglich bis heute geblieben ist.
(Anmerkung: Auch die radikalen aufklärerischen Strömungen des 19. und des 20. Jahrhunderts, der Junghegelianismus und die Psychoanalyse (in ihren Pionierjahren), brachten je einen solchen "Paria des Geistes" hervor: Max Stirner und Wilhelm Reich. Die theoretischen Gründe für ihre Verfemung, so unterschiedlich der jeweilige (ideen-)historische Kontext auch ist, gleichen prinzipiell denen im Fall La Mettrie -- ein heuristisch als sehr bedeutsam einzuschätzender Sachverhalt.)

II.

La Mettrie wurde 1709 in St. Malo/Bretagne geboren. Über seine Kindheit und Jugend sowie über die häuslichen Verhältnisse seiner Familie ist nur wenig bekannt. Er studierte Medizin, zunächst in Frankreich, später, nach einigen Praxisjahren, auch in Holland, bei dem damals in Europa führenden Leidener Mediziner Herman Boerhaave. La Mettrie begann seine schriftstellerische Tätigkeit mit kommentierten Übersetzungen von Schriften Boerhaaves ins Französische, verfasste anschliessend eigene medizinische Abhandlungen und überschritt bald sein engeres Fachgebiet: 1745 erschien anonym sein philosophisches Erstwerk »Histoire naturelle de l'âme« -- es wurde in Paris öffentlich vom Henker verbrannt, dem Autor drohte, wenn seine Identität bekannt wurde, eine drakonische Strafe. 1746 liess La Mettrie eine ironisch-polemische Schrift folgen, »Politique du médecin de Machiavel«, die gegen jene seiner ärztlichen Kollegen in Frankreich -- es war die grosse Mehrzahl -- gerichtet war, die an neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht interessiert waren, solange ihre Pfründen auch so gesichert blieben. Schliesslich trug noch seine Schrift über die Wollust (»La Volupté«) dazu bei, dass der Aufenthalt in Frankreich für ihn zu gefährlich wurde und er 1747 in das vergleichsweise liberale Holland floh, in das Land, in dem damals die verbotenen Bücher für ganz Europa gedruckt wurden. Hier schrieb und publizierte er, vorsichtshalber auch anonym, das Buch, das ihn berühmt machte: »L'homme machine«. Damit aber überschritt er auch die Grenze der holländischen Toleranz. Da die Anonymität sich bald als wenig verlässlicher Schutz erwies, floh La Mettrie im Februar 1748 auch aus Holland und fand sein -- letztes -- Asyl am Hofe von Friedrich II, des Preussenkönigs also, der im Rufe stand, ein Philosoph auf dem Thron zu sein.

La Mettrie lebte bis zu seinem Tode im November 1751 an Friedrichs Hof in Potsdam, war einer der Leibärzte und Gesellschafter des Königs, Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften und ständiger Gast bei der Tafelrunde berühmter Freigeister, die der "aufgeklärte Monarch" um sich zu versammeln pflegte. Das überlieferte Bild La Mettries ist gänzlich auf Quellen zurückzuführen, die diesen vier Jahren entstammen; es ist, aus später ersichtlichen Gründen, eine Kolportage, die ihn als Spassmacher und oberflächlichen Genussmenschen darstellt, der schliesslich im 42. Lebensjahr einen klischeegemässen, vorzeitigen Tod starb: infolge Völlerei.

Dieses noch heute verbreitete Bild des genusssüchtigen, leichtfertigen und vor allem als Denker nicht ganz ernst zu nehmenden Hofnarren wird aber unglaubwürdig, wenn man sich die wenigen authentischen Zeugnisse etwas genauer ansieht: Friedrichs zwiespältige Eloge auf das verstorbene Akademiemitglied, Voltaires, Lessings und anderer vielgerühmter Menschenfreunde sogar brieflich fixierte hämische Genugtuung über seinen frühen Tod, die Verweigerung einer Grabstätte für den Atheisten etc. La Mettrie, der vermeintlich wegen seiner stets guten Laune gern gesehene Tafelgast, hatte sich offenbar bald nach seiner Ankunft in Potsdam eine Menge unversöhnlicher Feinde geschaffen. Wodurch? Wie schon zuvor in Frankreich und Holland: durch ein philosophisches Buch, das die aufgeklärten Köpfe nicht tolerierten.

La Mettries Asylherr Friedrich, ein mächtiger Vorkämpfer für geistige Freiheit, hatte dem "Opfer der Pfaffen" zunächst natürlich zugesichert, unter seinem Schutz unzensiert schreiben und publizieren zu können. Nachdem La Mettries Ansichten am Hofe näher bekannt geworden waren, sollte er sich jedoch, wie ein Brief des Akademiepräsidenten Maupertuis bezeugt, verpflichten, sich als Schriftsteller bloss mit Übersetzungen zu befassen, weil Maupertuis "ihn dazu für fähiger hielt und dadurch seine gefährliche Einbildungskraft einzuschränken glaubte."10

La Mettrie, dem kein weiteres Asyl mehr zur Wahl stand, willigte ein und wahrte die Form: er übersetzte Senecas »De beata vita« -- aber er schrieb dazu eine "Einleitung", die in Wahrheit sein Hauptwerk wurde (das später den Titel »Anti-Seneca« bekam). Es gelang La Mettrie, trotz der sanften, aber permanenten Kontrolle durch den täglichen Umgang mit Friedrich und "Aufpassern" wie Maupertuis und anderen, dieses Werk unbemerkt drucken zu lassen.

Der Eklat war da, denn diese "Einleitung" enthielt Gedanken, die auch den freiesten Freigeistern zu weit gingen. Weil aber Friedrich, der "Philosoph auf dem Thron", nicht offen als Zensor eines Philosophen auftreten wollte, blieben seine folgenden Massnahmen eher unauffällig. La Mettrie behielt seinen offiziellen Status bei Hofe und in der Akademie, aber er musste, gleichsam als Abschluss seiner philosophischen Laufbahn, seine »Œuvres philosophiques« herausgeben -- aber ohne sein Hauptwerk, den »Anti-Seneca«. Trotz offenbar verschärfter Bedingungen gelang es La Mettrie jedoch, separat sowohl den »Anti-Seneca« als auch einige kleinere anonyme Schriften drucken zu lassen. Aus ihnen geht auch hervor, wie ernst (entgegen der noch heute verbreiteten Kolportage vom sorglosen Spassvogel) für ihn die Lage am Hofe war: er fühlte sein Leben bedroht, fürchtete, dass "eines Tages der Schierlingsbecher der Lohn meines philosophischen Mutes sein würde."11 La Mettrie starb am 11. November 1751, wahrscheinlich eines unnatürlichen Todes, den Verlautbarungen zufolge jedoch klischeegemäss aufgrund des übermässigen Genusses einer Trüffelpastete. -- Der »Anti-Seneca« ist diejenige Schrift La Mettries, die ihn zu einem "Paria des Geistes" machte, zu einem damals vornehmlich von Aufklärern wie Voltaire, Holbach und Diderot geächteten und bis heute im Grunde unberührbaren, auch von der Fachwelt kaum rezipierten Autor, abgestempelt als kruder Materialist, als das Klischee »L'homme machine«.

Die Wirkungsgeschichte La Mettries kann hier nicht beschrieben, nur ganz kurz charakterisiert werden. Seine »Œuvres« sind im 18. Jahrhundert noch in mehreren Auflagen an verschiedenen Orten erschienen. Man las ihn offenbar allenthalben, erwähnte ihn, insbesondere, wenn man sich als philosophe betrachtete, öffentlich gleichwohl lieber nicht. La Mettrie war eine typische "Unperson" geworden, d.h. jemand, über den "man" nicht diskutiert, weil das moralische Verdikt über ihn sich von selbst verstand.

Dafür hatten vor allem die aufklärerischen Philosophen der Zeit gesorgt. Sie haben ihn, nicht primär aus den gelegentlich genannten taktisch-politischen Gründen, in ihren Publikationen konsequent ignoriert. Allein eine einzige späte "Entgleisung" zeigt positiv, wie sehr man ihn in Aufklärerkreisen auch dreissig Jahre nach seinem Tode noch gehasst hat. Der grosse Menschenfreund Diderot, gegenüber dem ihm persönlich nicht bekannten La Mettrie auch im hohen Alter noch immer gnadenlos, verkündete doch noch öffentlich, "was ein guter Mensch von ihm halten muss", nämlich das Übelste, und exkommunizierte den "in seinen Sitten und Anschauungen so verdorbenen Menschen", der gerechterweise "so gestorben ist, wie er sterben musste", jetzt auch quasi offiziell "aus der Schar der Philosophen."12

Mit dem Tod von Voltaire, Diderot, Rousseau u.a. sowie durch die nachfolgenden politischen Ereignisse der Jahre ab 1789 wurde La Mettrie von der geächteten Unperson zum tatsächlich Vergessenen. Erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab es vereinzelte Versuche, La Mettries Werk neu zu bewerten, doch regelmässig in der -- durchaus gutgemeinten -- Weise, dass gerade sein Hauptwerk, der »Anti-Seneca«, als unbeachtliches, "frivoles" Nebenwerk verziehen wurde. Erst 1981 erkannte Kondylis gerade aufgrund dieses Werkes La Mettries Sonderstellung in der Philosophie des 18. Jahrhunderts13 -- und wurde zum "unfreiwilligen Paten des LSR-Projektes".

III.

La Mettries Auffassungen zur Problematik der Erziehung befinden sich hauptsächlich im »Anti-Seneca«, wo er auch schreibt: "Wenn ich nicht müde werde, stets wieder auf die Erziehung zu sprechen zu kommen, so deshalb, weil allein sie uns Gefühle vermitteln kann, die denen entgegengesetzt sind, die wir ohne sie hätten. Solche Gefühle sind Folge der Veränderungen, die Erziehung an unseren Trieben bzw. unserer Art zu empfinden bewirkt."14 La Mettrie hat also, wenn er von Erziehung spricht, primär jene weitgehend präkognitiven Einwirkungen auf den Menschen im Sinn, die seinen Charakter, seine Persönlichkeit, seine Identität formen. Der Teil der Erziehung, den La Mettrie für den entscheidenden hält, beginnt in der frühesten Kindheit; es ist der Prozess, der "unsere Seele sozusagen beugt und unseren Organismus verändert", (AS, 21) der Charaktereigenschaften prägt und diese quasi physiologisch verankert. Spätere, kognitive Erziehungseinflüsse, auch z.B. aufklärerische Schriften, haben dann nur noch geringe Wirkung, "denn man entledigt sich nicht auf blosse Lektüre hin jener Prinzipien, die einem so selbstverständlich sind, dass man sie für natürliche hält." Die intellektuell Schwachen sind solchen argumentativen Einflüssen gegenüber ohnehin immun, aber auch "für die, die sie verstehen könnten, sind sie ebenfalls keine Gefahr, denn bei ihnen hat der scharfe Intellekt das Herz ... sicher gepanzert", (PP, 27f) d.h. der im Dienste der früh "gebeugten Seele" stehende Intellekt wehrt solche Einsichten ab, die den Seelenfrieden stören würden. Nur wenigen -- den wahren -- "Philosophen" gelingt es, "diesem Zug [zur Stabilisierung des Anerzogenen] zu widerstehen, die Vorurteile der Kindheit abzulegen und die Seele mit der Fackel der Vernunft zu reinigen." (AS, 21f)

Die sehr "moderne" Erfahrung, dass die empirischen, also immer auch erzogenen Menschen, unabhängig von ihrem Bildungsgrad -- eben weil sie ausgerechnet das internalisierte "Fremde", ihr irrationales Über-Ich, paradoxerweise als ihr Ur-"eigenstes", als konstitutiv für ihre persönliche "Identität", empfinden -- in hohem Masse aufklärungsresistent sind, führte La Mettrie nicht, wie der sonst sehr verdienstvolle Kondylis (s.o.) meinte, zu einer Position, die wesentlich der "postmodernen" entspricht. Zwar betrieb auch La Mettrie an etlichen Stellen seiner Schriften das damals provokante, mittlerweile trivial gewordene Geschäft, die herrschenden Normen zu relativieren und zu betonen, dass das, was jeweils als tugendsam oder als lasterhaft, als gut oder als böse betrachtet werde, je nach Gesellschaft verschieden sei, aber er tat dies nur aus polemischen Gründen, und es war nicht sein letztes Wort. La Mettrie sah in seiner wertrelativistischen Argumentation keinen theoretisch bedeutsamen Gehalt und erinnerte all jene, die ihm diese mit sittlicher Entrüstung vorwarfen, daran, dass solche Ideen keineswegs neu seien: "Eine Reihe von Philosophen der Antike und der Moderne haben über Laster und Tugend die gleiche Auffassung gehabt." (AS, 116) Doch er fügte hinzu, dass er auf diese Lehre neues Licht werfe, und mit diesem neuen Licht meinte La Mettrie jene Theorie, die ihm seine Zeitgenossen so übel nahmen: seine Theorie über die Entstehung und Funktion des "Schuldgefühls". (AS, 11)

Diese Theorie, die auch La Mettries Beitrag zur Pädagogik umfasst, kann hier nur par force vorgestellt werden, d.h. es können hier weder präzise Begriffsbestimmungen entwickelt noch ausführliche Begründungen gegeben noch naheliegende Fragen und Einwände diskutiert werden. Es muss auch darauf verzichtet werden, die durch diese Theorie begründete Sonderstellung La Mettries unter den Aufklärern durch kontrastierende Vergleiche, etwa zu Diderot oder Rousseau, zu verdeutlichen.

La Mettrie, der in seinem Buch »Der Mensch als Maschine« versuchsweise die cartesianische Maschinentheorie der Tiere auf den Menschen ausweitete, stiess damit direkt ins Allerheiligste der Philosophie vor, zum Problem des sog. freien Willens, der den Menschen vor dem Tier auszeichnen soll. Er diskutierte dieses Problem nicht an einem Beispiel der Art, wo ein Mensch rückblickend zu ergründen sucht, warum er gerade diese Entscheidung getroffen habe, wo er doch auch jene hätte treffen können, und zu dem stolzen und ihn aus der Tierwelt heraushebenden Schluss kommt, sie "frei" gewählt zu haben, (AS, 67) sondern er diskutiert es anhand des "Natürlichen Gesetzes". Dies definiert er als "ein Gefühl, das uns sagt, was wir anderen nicht tun sollen, weil wir nicht wollen, dass man es uns tut." (MM, 59) La Mettrie versuchte nun, ge- oder verleitet durch die für ihn typische Lust an der Provokation des menschlichen Hochmuts, plausibel zu machen, dass das Natürliche Gesetz, dieses eingeborene "Wissen um gut und böse", das sich durch "das empfindliche und verletzliche Gewissen sowie das Schuldgefühl" Geltung verschafft, nicht nur dem Menschen, sondern "allen Tieren innewohnt." (MM, 51, 67, 94)

Diese Theorie bezeichnete La Mettrie -- dessen ironische Volten noch heutige Interpreten verwirren15 -- kurz darauf, in der Ende 1748 erschienenen ersten Version des »Anti-Seneca«, als unhaltbar, weil beim Menschen "die Art der Schuldgefühle durch Erziehung eine ganz andere ist." Er habe in seinem ein Jahr zuvor in Holland erschienenen Buch nur "nicht gewagt, gegen alle Vorurteile auf einmal anzutreten." (AS, 63)

Tatsächlich befinden sich schon in »Der Mensch als Maschine«, meist in ironischer Form -- durch die sich La Mettrie in all seinen Schriften zu schützen versuchte (KW, 89f) -- eine Reihe von Formulierungen, die der dort sonst verfochtenen These widersprechen: So etwa dort, wo er einmal versuchsweise einräumt, "dass die Tiere, auch die höchstentwickelten, den Unterschied zwischen gut und böse im moralischen Sinn nicht kennen", und nach einem Beispiel mit einem Löwen die Menschen nennt, die "einander ohne Schuldgefühl töten, wenn ein Fürst ihre Mordtaten honoriert". (MM, 54) Oder dort, wo er das Sexualverhalten des Menschen charakterisiert: dieser benehme sich, "als sei es eine Schande, Lust zu empfinden und zum Glücklichsein geschaffen zu sein. Die Tiere hingegen sind stolz darauf, Kyniker zu sein. Ohne Erziehung sind sie auch ohne Vorurteile." (MM, 50f) Hier lässt La Mettrie bereits anklingen, was er im »Anti-Seneca« deutlich aussprechen wird: In der Erziehung werde die Disposition der "Vorurteile" geschaffen, d.h. insbesondere jene psychische Instanz, die mit dem Instrument des Schuldgefühls das Leben der Menschen vergällt, indem sie sozial unschädliche "Tugenden" (z.B. sexuelle Lust) bestraft, zugleich aber sozial schädliche "Laster" in bestimmten Fällen (z.B. Töten von Menschen im Krieg) sogar belohnt.

Dabei sieht La Mettrie durchaus die besondere Lage des Menschen. Dieser bedarf der Erziehung, "denn er bringt weniger Instinkt mit auf die Welt" als das Tier: "Die Natur hat uns also unter den Tieren stehend geschaffen, und gerade deshalb können wir die Wunderwerke der Erziehung so gut demonstrieren, denn sie allein hebt uns von dieser Stufe empor bis über die Tiere hinaus." (MM, 50f) Aber er sieht auch, dass dieses Wunderwerk ein verhängnisvoll zwiespältiges ist, und zwar deshalb, weil es sich nicht auf die blosse Vermittlung der Erfahrungen der Älteren, auf seine förderliche, hilfreiche, rein instrumentelle Komponente beschränkt, sondern weil es dem Menschen auch die Grundlage für das Schuldgefühl einpflanzt. Das irrationale Über-Ich entsteht, "unbewusst und ungeprüft", in der frühen Kindheit und prägt sich "so leicht in das Gehirn ... wie ein Petschaft in weiches Wachs". Es ist später kaum mehr zu beseitigen und bleibt lebenslange Quelle des Schuldgefühls, dieser "unheilvollsten Mitgift der Erziehung", dieses "Unkrauts im Kornfeld des Lebens", dieses "grausamen Gifts", das dem Menschen "das Leben vergällt" und den Weg zum Glück versperrt. "Den ärgsten seiner Feinde trägt der Mensch also in seinem Inneren." La Mettrie betrachtet das Problem der Befreiung des Menschen von seinen "Ketten" als ein primär "materiales", als eins der psycho-physischen Konstitution der Individuen, als "Befreiung des Menschen vom Schuldgefühl." (AS, 53-63)

Mit einer Reihe von Einwänden, die gegen diese Auffassung erhoben werden könnten, setzt sich La Mettrie schon vorab auseinander. Der Mensch sei, das zeige die Erfahrung aller Zeiten und Kulturen, von Natur aus zum Bösen geneigt. Ja, sagt La Mettrie ironisch, vor allem dann, wenn man das Böse vornehmlich in eigentlich "harmlosen Vergnügen", sprich: sexueller Aktivität, (AS, 22, 61, passim) sehe. Oder: es gäbe aber doch wirkliche Verbrecher, die man auf keinen Fall dulden könne. Ja, sagt La Mettrie, aber deren Existenz beweise ja die offenbare Unwirksamkeit des psychischen Mechanismus der (antizipierten) Schuldgefühle als Tathindernis, und auch als gerechte Strafe nach der Tat seien sie ungeeignet, was man, wie er augenzwinkernd sagt, leicht daran sehen könne, dass doch "in dieser Welt so viele Schurken glücklich sind." (AS, 57, 68)

Es ist hier nicht der Ort, der gewiss umfänglichen Aufgabe nachzugehen, La Mettries zahlreiche ironische oder auch selbstironische Volten, Anspielungen etc. zu interpretieren, seine starken oder schwachen, scheinbar oder wirklich widersprüchlichen Argumente aufzulisten und auszuwerten. Keinem Zweifel kann jedoch unterliegen, dass er ernstgemeint und unzweideutig die Schädlichkeit jener dem Menschen von frühester Kindheit an unbewusst und bewusst eingepflanzten psychischen Instanz (hier als irrationales Über-Ich bezeichnet) behauptet, und zwar in ihren Auswirkungen sowohl auf individueller als auch auf sozialer Ebene. Dabei kommt es auf den Inhalt der introjizierten Normen gar nicht an; das Verfahren des Introjizierens selbst ist die Noxe, das dauerhaft Deformierende.

Die auf diese Weise "gebeugten Seelen" bilden dann natürlich eine entsprechende Gesellschaft. "Sagen wir den Untertanen nicht", ruft er deshalb, wiederum ironisch, bestimmten philosophischen Kollegen zu, "dass es ihre eigene Unterwürfigkeit ist, die ihr Leid und den Despotismus der Tyrannen hervorbringt!" (AS, 143) Das ist, im Nachgang zu Etienne de La Boëties Traktat über die Knechtseligkeit (1574), La Mettries "anarchistische" Grundwahrheit, die relevant bleibt, solange "gebeugte Seelen" eine Gesellschaft bilden (einerlei ob sie subjektiv Leid und Despotismus oder happiness und freedom empfinden). La Mettrie hält deshalb nicht viel von jener äusseren, aus gesellschaftlicher Anerkennung entspringenden "Quelle der Glückseligkeit, [die] nach Auffassung fast aller Menschen edler und erhabener ist [als die eigene]: sie entspringt der bestehenden Gesellschaftsordnung." Ein solches Glück könne allenfalls ein schlechtes Surrogat sein: "In uns selbst und nicht bei den anderen sollte die Quelle unseres Glücks liegen." (AS, 69, 51)

La Mettrie sah sich als Empiriker und betont an verschiedenen Stellen, den Menschen und seine Gesellschaft rein wissenschaftlich zu betrachten: "Meine Absicht lässt sich wie folgt zusammenfassen: Ich will theoretisch den Dingen auf den Grund gehen, und zwar ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. ... Ich moralisiere nicht und halte keine erbaulichen Reden." (AS, 113f) Das ist ihm freilich keineswegs durchwegs gelungen. Seine Grundaussage allerdings ist tatsächlich nicht normativ bzw. präskriptiv: Wenn der Mensch im Verlaufe seiner Erziehung ein -- in moderner Terminologie -- irrationales Über-Ich erwirbt, dann wird er glücksunfähig und kann mit seinesgleichen nur eine (damals "oligo-", heute "demokratisch" organisierte) Gesellschaft bilden, die nur einigen ihrer Mitglieder für das entgangene Lebensglück ein Surrogat (Erfolg, Ruhm, Geld etc.) bieten kann.

Dies ist nun gewiss eine "ungeschützte Aussage". Ich möchte sie hier so stehen lassen und den Schutz dem Leser überlassen, der sie für schützens- und stärkenswert hält. Eingehen will ich jedoch noch auf La Mettries Beschreibung des Menschen, der frei ist von jener "unheilvollsten Mitgift der Erziehung."

La Mettrie liess bereits in »Der Mensch als Maschine« einen fiktiven "entsetzlichen Menschen" behaupten, "dass die Welt niemals glücklich sein wird, wenn sie nicht atheistisch ist. Wenn der Atheismus allgemein verbreitet wäre, wäre die Religion samt allen ihren Ablegern vernichtet und mit der Wurzel ausgerottet. [...] Die befriedeten Menschen würden, nun taub gegen jede Einflüsterung, allein der spontanen Stimme ihres authentischen Ichs folgen." (MM, 66; Hervorh. BAL) Solche Menschen, die von dem fremdgesetzten, irrationalen Über-Ich frei sind, entwickeln ein eigenes, rationales Über-Ich, das allerdings ein qualitativ anderes ist. Der nicht gebeugten Seele erschliesst sich "eine ganz andersartige Quelle der Tugend, die ... innere Stärke." (AS, 72) La Mettrie hält es für absurd, zu meinen, dass der Menschen "Sinn für Ehrlichkeit, Redlichkeit und Gerechtigkeit nur noch an einem dünnen Faden hinge, wenn sie von den Ketten des Aberglaubens befreit wären." (PP, 75) Im Gegenteil: "In einer vernünftigen Seele vereinigen sich Pflichtbewusstsein und Sensibilität für Lust so vorzüglich, dass sie, weit davon entfernt, einander zu beeinträchtigen, sich gegenseitig verstärken." (AS, 103) La Mettrie begründet also nicht etwa eine Ethik, der alle Menschen, deren Ich nicht unter der Herrschaft eines irrationalen Über-Ichs steht, folgen sollten -- was ja auch widersinnig wäre. Er meint indes, dass erst solche wirklich freien Menschen in der Lage wären, ein rationales System von Konventionen über ihr gesellschaftliches Verhalten zu entwickeln und zu akzeptieren.

Die "Sensibilität für Lust", von der im letzten Zitat die Rede war, steht in La Mettries Philosophie bzw. Anthropologie an zentraler Stelle; sie gehört sozusagen komplementär zur Freiheit von der Über-Ich-Herrschaft. Er schrieb deshalb eigens ein Buch über »Die Kunst, Wollust zu empfinden«, ein Buch, das nicht, wie man vermuten könnte, eine ars amandi der damals weit verbreiteten Art ist -- La Mettrie spricht im Gegenteil vom "Lebemann" und seinen "Techniken des Vergnügens" nur mit Verachtung (AS, 111) -- sondern ein Buch, in dem er auf ein "in seiner Bedeutung kaum zu überschätzendes Thema" zurückkommt und eine für seine Philosophie unabdingbare Unterscheidung deutlich machen will. (vgl. AS, 105ff) La Mettrie sagt hier, da dies meist nicht gesehen wird, noch einmal nachdrücklich, dass der Wollüstige (voluptueux) und der Wüstling (débauché) in Bezug auf ihr Lustempfinden als Antipoden zu betrachten sind. Dies scheint besonders heute, in einer Zeit ratloser Permissivität, schwer verständlich (vgl. Wilhelm Reich als Sexuologe). Wenn La Mettrie von Wollust spricht -- und dies bringt ihn in einen unauflösbaren Gegensatz zu Sade -- dann meint er Wollust "auf der höchsten Stufe ... die nur der Wollüstige, nicht der Wüstling, erleben kann." (KS, 61) La Mettrie meint hier tatsächlich eine qualitative, keine bloss graduelle Differenz im Lusterleben. Der Wüstling hat, ebenso wie der Asket und der (bisherige) Normalmensch, eine äusserliche Moral internalisiert. Das Lusterleben des Wüstlings ist, da auch seine Seele "gebeugt" wurde, tatsächlich "wüst", d.h. öde, und von den Normen jener Moral, die auch ihm im Grunde heilig ist, insofern abhängig und bestimmt, als es sich primär aus deren Schändung speist. Die Lust des Wüstlings ist von anderer Qualität als die des Wollüstigen; sie ist, so könnte man formulieren, nicht Wohl-Lust, sondern Wüst-Lust. Der Wüstling ist ihr verfallen, ist nach ihr süchtig. Seine "Begierden, die einer übersteigerten Phantasie entspringen", (AS, 106) sind unersättlich, unbefriedigbar. Der Wollüstige hingegen ist, da seelisch unversehrt, auch in seiner Fähigkeit zum Lusterleben unversehrt und deshalb befriedigbar.

La Mettries Gestalt des "Wollüstigen" ist die Gestalt eines "Neuen Menschen", der -- und hier liegt das Besondere -- nicht positiv bestimmt ist; er gleicht darin, soweit ich sehe, in der Literatur nur dem Stirner'schen "Eigner" und dem Reich'schen "Genitalen Charakter". Der Wollüstige ist der Mensch, der als Kind seelisch nicht "gebeugt" wurde, d.h. der nicht jenem enkulturierenden, sozialisierenden Prozess im bisher bekannten Sinne unterworfen war, der essentiell darin besteht, dem Menschen ein irrationales Über-Ich einzupflanzen und damit zugleich die Fähigkeit des Lustempfindens qualitativ zu modifizieren. La Mettrie hielt diese "Beugung" für die fundamentale Schädigung des empirischen, also bisher immer auch auf diese Weise enkulturierten Menschen. Eine Schädigung sui generis sah er in ihr aber nicht etwa deshalb, weil das Über-Ich bestimmte normative Inhalte bekomme, die er subjektiv ablehnte, und das Lustempfinden Modifikationen erführe, die er subjektiv für schädlich hielt; die Schädigung sah er in dem Prozess, der von frühester Kindheit an, bei den Erziehenden wie bei den Zöglingen, weitgehend unbewusst abläuft, als solchem. La Mettrie war, aufgrund von Beobachtungen an sich und an anderen Menschen, zu der Auffassung gekommen, dass dieser Prozess, der die Verankerung der Verhaltenssteuerung im Irrationalen bewirkt, einige "Nebenwirkungen" hat, deren wichtigste die folgenden sind: erstens werden dabei viele derjenigen "Triebe" erst erzeugt, die das Über-Ich dann später in Schach halten soll und oft nicht kann; zweitens erleidet dabei das Individuum eine hohe Einbusse an Glücksfähigkeit; drittens wird dabei die Grundlage geschaffen für die meisten jener gesellschaftlichen Phänomene, die in unserem Jahrhundert Gegenstand der sog. Massenpsychologie wurden.

La Mettrie sagte zwar des öfteren, wie sehr er die beschriebene materiale Befreiung des Menschen erstrebe, aber er war sich auch über die Ungeheuerlichkeit der Schwierigkeiten im Klaren, die der praktischen Durchführung entgegenstanden. Bereits die Publikation mancher seiner Schriften hatte er als eine für ihn lebensgefährliche Sache erfahren müssen. Hinzu kam, dass er, wie aus eben diesen Schriften hervorgeht, illusionslos vorhersah, dass seine Zeitgenossen, sogar und insbesondere die aufklärerischen, mit Abwehr und Hass auf seine Philosophie reagieren würden. La Mettrie sah sich zwar in seinem "Impetus" mit "vielen namenlosen Menschen" verbunden, setzte aber weder auf diese noch auf die Nachwelt grosse Hoffnungen, was Aufklärbarkeit und bewusste Änderung der Erziehungspraxis in seinem Sinne angeht. (PP, 86f) Dennoch blieb er, der sonst als radikaler Skeptiker, als "Pyrrhonist", bereit war, jede seiner Hypothesen in Frage zu stellen, fest überzeugt von der Wahrheit seiner einen grundsätzlichen Hypothese, nämlich dass das "Schuldgefühl" nicht biologisch gegeben und also hinzunehmen, sondern "anerzogen" -- als der Komplex von Über-Ich-Bildung und Modifikation der biologisch gegebenen Triebstruktur -- und damit zumindest prinzipiell eliminierbar sei.

La Mettrie nahm diese Gewissheit primär aus seiner Selbstanalyse. Dabei war er zu der Auffassung gekommen, dass er selbst zwar bei sich diese frühkindlichen Schädigungen, die Beugung seiner Seele, mit philosophischen Mitteln habe weitgehend heilen können. Es spielt hier keine Rolle, was von dieser Meinung zu halten ist, denn La Mettrie kam ohnehin zu der Ansicht, dass sein persönlicher Fall ein Glücksfall war und nicht Muster für das Mittel der Wahl sein könne, um diese "Plage der menschlichen Gattung" zu beseitigen; denn da "wir nicht auf der Welt sind, um Gelehrte, [sondern] ... um glücklich zu sein", (MM, 59) müsse es "das Glück für die Unwissenden und die Armen ebenso wie für die Gelehrten und Reichen" geben. (AS, 23) La Mettrie sah in seiner Utopie keine zwangsweise gesteuerte intellektuelle oder/und ökonomische Nivellierung vor. Erst recht war sie für ihn kein Weg; als Weg zu einer "glücklichen" Menschheit, zu einer Gesellschaft "glücklicher" Individuen, sah er nur den der Prävention der erzieherisch vorwiegend unbewusst erzeugten Disposition zum "Unglück" in den Neugeborenen, d.h. in der Vermeidung der "Veränderungen, die Erziehung an unseren Trieben bzw. unserer Art zu empfinden bewirkt", (AS, 70) in der Vermeidung der Bildung eines irrationalen Über-Ichs resp. der Erhaltung, Hege und Förderung der Voraussetzungen zur Entwicklung eines "authentischen Ichs". (MM, 66; vgl. KW, 23) La Mettrie, der die grundsätzliche Erziehungsbedürftigkeit des Menschen akzeptierte, entwickelte keine positive Erziehungslehre, vielleicht, weil seine Lebensbedingungen ihm dies, wie überhaupt eine systematischere Darstellung seiner Ansichten, nicht erlaubten, vielleicht aber auch, weil er wusste, dass dies eine überflüssige Sache gewesen wäre, solange er mit seiner Sicht allein gegen eine feindselige Umwelt stand, und dass, mit einem bekannten Wort, ein Einzelner die Welt nicht retten, ihr aber sagen kann, woran sie zugrunde geht.

Soweit, trotz der eingangs genannten Bedenken, der Versuch einer Darstellung par force der "anarchistischen" "Pädagogik" La Mettries (die Erklärung der Anführungszeichen wird mittlerweile als entbehrlich erscheinen). La Mettrie hat sich mit dem Kernproblem der conditio humana, das seit dem Beginn philosophischen Denkens in allen Untersuchungen über Freiheit, Herrschaft, Aufklärung etc. zur Debatte steht, auf andere -- meiner Meinung nach radikalere -- Weise auseinandergesetzt als die Autoren, die als Anarchisten und Pädagogen bekannt sind. 16 Gleichwohl wäre zu prüfen, ob sein Ansatz dem Anarchismus, dessen praktisch-politische Bedeutungslosigkeit ohnehin evident ist, zu neuem theoretischen Leben verhelfen könnte, so dass er nicht mehr bloss nostalgisch (als "wahre" Variante des Sozialismus) oder bloss zeitgeistgemäss (als "libertäre" Variante des Liberalismus) auftreten müsste.

 

Bernd A. Laska
geschrieben 1991; erstmals veröffentlicht Feb. 1999
Siehe auch: www.lsr-projekt.de
© copyright by Bernd A. Laska

 

Anmerkungen:

1 Ausnahme ist die kürzlich erschienene, sorgfältige Arbeit: Lutz Rössner: Maschinenmensch und Erziehung. Frankfurt/M, Bern...1990. Die Dissertation »Legitimierung pädagogischer Zielsetzungen bei den französischen Naturphilosophen La Mettrie und Helvétius« von Angela Tucek (1987) spottet jedem ernsthaften Deutungsversuch.

2 Eine derartige Würdigung La Mettries von pädagogischer Seite ist die in (1) genannte Arbeit von Rössner.

3 Nähere Angaben in den Einleitungen zu den 4 Bänden der deutschen Ausgabe einer Werkauswahl La Mettries,
Nürnberg 1985-87.

4 Stefan Blankertz: Erziehung, anarchistische. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft. Stuttgart 1983-86. Band 3, S.416-418

5 "Die [einzige] Bedingung besteht in der Freiwilligkeit des organisatorischen und rechtlichen Rahmens." Blankertz scheint sich jedoch mit dieser tautologischen Bestimmung anarchistischer Erziehung nicht ganz wohl gefühlt zu haben, denn er gab, zusätzlich und im Widerspruch zu dieser, noch eine andere: Anarchistisches Handeln erwachse gewissermassen aus der Störungsanfälligkeit des erzieherisch implantierten Über-Ich, aus der "Fähigkeit zur 'Empörung' (Bakunin)", denn es sei "nie auszuschliessen, dass der zur Selbständigkeit erzogene Mensch sich gegen die gesetzten Normen wendet." Anarchismus wäre damit als marginales Querulanten- oder Rebellentum zu verstehen.

6 La Mettries Differenzierung innerhalb der Erziehungsbedürftigkeit (s.später) ist ein wichtiges Charakteristikum seiner Position als "Pädagoge".

7 Dies zeigt sich auch deutlich daran, dass sie Stirner, der diese Konsequenz gezogen hat, entweder nicht oder -- wie im Falle der sog. Individualanarchisten -- nur als Radikalliberalen rezipierten. [Anm. 1999:] Vgl. z.B. Max Stirner ein anarchistischer Pädagoge?.

8 Von dieser pauschalen Charakterisierung möchte ich Stirner ausnehmen, der oft als Anarchist geführt wird, tatsächlich aber nur von wenigen Anarchisten als Anarchist akzeptiert wurde. [Anm. 1999:] Vgl. z.B. Die Individualanarchisten und Max Stirner.

9 Ich vergesse hier keineswegs die vielen Liberalismuskritiker, die es seit langem gibt, die allerdings in letzter Zeit immer leiser werden. In ihrem Unbehagen am herrschenden "System" kamen sich manchmal "linke" und "rechte" Kritiker erstaunlich nahe, in ihren theoretischen Ausarbeitungen natürlich nicht. Keiner von ihnen jedoch hat, soweit ich sehe, den Kern des Problems in der Weise bezeichnet, wie ich es hier versuche.

10 abgedruckt in Anhang 2 zu: La Mettrie: Die Kunst Wollust zu empfinden. Nürnberg: LSR-Verlag 1987, S.119

11 La Mettrie: Anti-Seneca. Nürnberg: LSR-Verlag 1985, S.93

12 Denis Diderot: "Seneca-Essay", Zweites Buch, Kap. V und VI

13 Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart: Klett-Cotta 1981. Kondylis reduziert La Mettrie allerdings zum blossen Wertnihilisten (s. dazu meine Kritik in der Einleitung zur deutschen Ausgabe des »Anti-Seneca« sowie meinen "Nachruf" Panajotis Kondylis als unfreiwilliger Pate des LSR-Projekts).

14 La Mettrie: Anti-Seneca, Nürnberg: LSR-Verlag 1985, S.70, Hervorhebungen B.A.L.; im folgenden abgekürzt AS.
Weitere im folgenden benutzte Schriften La Mettries:
Der Mensch als Maschine, Nürnberg 1985; abgekürzt MM.
Philosophie und Politik, Nürnberg 1987; abgekürzt PP.
Die Kunst, Wollust zu empfinden, Nürnberg 1987; abgekürzt KW.

15 [Anm. 06.02.99:] ...verwirren -- oder ihnen die Möglichkeit bieten, wie ihre Vorgänger den für La Mettrie spezifischen Gedanken auszuweichen und den einst verfemten Autor auf gefällige Weise interpretieren zu können: entweder, wie meist, auf die Mensch-Maschinen-Phrase fixiert oder, wenn sie auf Normatives zu sprechen kommen, als lustigen Spassmacher, als skeptischen Wertrelativisten, als bösen Sade-Vorläufer oder als guten Humanisten. Vgl. dazu meine Einleitungstexte zu den 4 Bänden der deutschen Werkausgabe sowie, als neuere Beispiele für solche Interpretationen, die dort von mir noch nicht berücksichtigten Bücher:
Kathleen Wellman: La Mettrie. Medicine, Philosophy, and Enlightenment. Durham/USA and London: Duke University Press 1992;
Birgit Christensen: Ironie und Skepsis. Das offene Wissenschafts- und Weltverständnis bei Julien Offray de La Mettrie. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996;
Ann Thomson: Introduction. In: J.O.de La Mettrie: Machine Man and Other Writings. Cambridge (GB): Cambridge University Press 1996, pp. ix-xxx.
Ursula Pia Jauch: Jenseits der Maschine. Philosophie, Ironie und Ästhetik bei Julien Offray de La Mettrie. München: Hanser 1998. [Erg. 29.09.02:]
Pfister, Michael / Zweifel, Stefan: Pornosophie und Imachination. Sade - La Mettrie - Hegel. München: Matthes & Seitz 2002 (vgl. dazu Kontroverse Laska / Kondylis)

16 Ich würde hiervon nur Stirner und Reich ausnehmen, die aber nur sehr selten überhaupt in diesem Zusammenhang gesehen werden, immerhin aber von dem bekannten "libertären" Pädagogen Joel Spring (»A Primer of Libertarian Education«, 1975; dt. »Erziehung als Befreiung«, 1982)

 

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