2.05.2004

Artikel

Gegen weiteren Sozialabbau

Über 1.600 TeilnehmerInnen bei der Mai-Kundgebung auf der Europabrücke zwischen Strasbourg und Kehl. In mehreren Redebeiträgen wandten sich französische und deutsche GewerkschafterInnen scharf gegen den "massiven Sozialabbau" in allen europäischen Staaten.

Die gemeinsame Kundgebung französischer und deutscher GewerkschafterInnen am gestrigen 1. Mai stand unter dem Motto: "Ein erweitertes Europa - ja! Aber im Dienst der Menschen!" Bereits am frühen Morgen fand ein gemeinsamer ökumenischer Gottesdienst auf dem Gelände der Landesgartenschau statt. Entgegen der Planung des DGB und obwohl dies auch in anderen Städten in den letzten Jahren möglich war, konnte die 1.-Mai-Kundgebung allerdings nicht auf dem Gartenschaugelände stattfinden. Klaus Melder vom DGB Ortenau beklagte, daß der Kehler Oberbürgermeister Petry nicht zu einer Genehmigung zu bewegen war.

Als weitere Merkwürdigkeit ist zu vermelden, daß für die Kundgebung auf der Europabrücke nur eine Fahrtrichtung gesperrt wurde, obwohl dies auch schon bei kleineren Demonstrationen weniger restriktiv gehandhabt worden war. Bernard Marx von der französischen Gewerkschaft CGT forderte ein "Europa mit sozialem Gewissen", ein Gemeinschaft "für alle Lohnabhängigen Europas". Klaus Melder ergänzte in seinem Redebeitrag, es gelte aufzupassen, daß die nun auf 25 Staaten erweiterte EU sich nicht zu einem "Europa des Kapitals" entwickle. "Wir müssen uns gemeinsam dagegen wehren, daß wir mit billigeren Löhnen und niedrigeren Sozialkosten gegeneinander ausgespielt werden", so Melder. Die Proteste vom 3. April, bei denen europaweit Millionen gegen den Sozialabbau auf die Straßen gingen, seien nur ein Anfang gewesen. Als Gewerkschafter forderten sie nicht mehr und nicht weniger als einen "gerechten Anteil an der Wertschöpfung". Es müsse Schluß damit sein, daß "man mit ehrlicher Arbeit immer ärmer und mit weltweit vagabundierendem Kapital immer reicher" werde. Unmißverständlich drohte Melder, wer die Sozialpartnerschaft aufkündige, werde "wieder den Klassenkampf erleben".

In einem Meer von roten Fahnen von DGB und ver.di, blauen Fahnen der Eisenbahner-Gewerkschaft 'Transnet', bunten Fahnen und Transparenten zog die Mai-Demonstration nach Strasbourg. Für musikalische Begleitung sorgten die Stadtkapelle Offenburg und eine französische Rockband, die Dank der Länge des Zuges keine Dissonanzen produzierten. Von vielen DemonstrantInnen war die Forderung zu hören, daß angesichts der Globalisierung die gewerkschaftlichen Kräfte in Europa enger zusammenschließen müßten.

Auf der Abschlußkundgebung sprachen Albert Riedinger, Vize-Präsident des Interregionalen Gewerkschaftsrats Euregio, als Vertreter der französischen und Sybille Stamm, ver.di-Landesvor- sitzende Baden-Württemberg, als Vertreterin der deutschen Gewerkschaften. Sybille Stamm nahm gegenüber der "rot-grünen" Bundesregierung kein Blatt vor den Mund und bezeichnete die Agenda 2010 als "Programm der Zerschlagung des Sozialstaates". Die Gewerkschaften in ganz Europa begrüßten zwar den 1. Mai 2004 als historischen Tag, an dem die EU um zehn Mitglieder reicher werde, so Stamm. Sie wies jedoch zugleich darauf hin, daß "Größe allein noch lange nicht Qualität" bedeute. So habe die Agenda 2010 ihre Parallelen in Italien und in Frankreich in den Versuchen, die Renten zu kürzen, im Lohnabbau in den Niederlanden oder in der Erhöhung der Lebensarbeitszeit auf bis zu 70 Jahren wie aktuell in Großbritannien. Es gebe eine heimliche Agenda in Europa und die heiße: kapitalistische Konkurrenz um jeden Preis, Umverteilung von unten nach oben, Steuergeschenke für Unternehmen und Vermögende und zugleich Kürzung der Mittel für Arme, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und Rentner.

In einer Reihe drastischer Beispiele berichtet Sybille Stamm von Schwäbisch Hall, wo BürgerInnen mit einer Plakette herumlaufen, auf der zu lesen sei: "Ich zahle mehr Steuern als die Bausparkasse Schwäbisch Hall". Die größte deutsche Bausparkasse zahle in ihrer Heimatstadt überhaupt keine Steuern, trotz einem für das Jahr 2003 ausgewiesenen Bilanzgewinn von 26 Millionen Euro.

Zugleich erreiche der Druck auf Arbeitslose die Grenze zur Zwangsarbeit. Bemerkenswert war, wie sich Sybille Stamm als Gewerkschafterin für die Rechte von Arbeitslosen und RentnerInnen einsetzte. Stamm wies darauf hin, daß Deutschland gemessen am Pro-Kopf-Einkommen nach der Schweiz das reichste Land der Welt ist. Deutschland ist darüber hinaus Exportweltmeister. Vor diesem Hintergrund erklärte sie, "das Wort Reform und all das, was unter dem Titel Agenda 2010 läuft, ist eine arglistige Täuschung".

Darüber hinaus erinnerte Sybille Stamm an die große Gemeinsamkeit von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und demokratischen Organisationen in ganz Europa gegen den Irak-Krieg. Jetzt zeige sich, wovor bereits bei den Friedensdemonstrationen im März 2003 gewarnt wurde: Der Krieg im Irak sei noch lange nicht zu Ende. Sybille Stamm forderte dazu auf, im Kampf gegen den Krieg und für eine friedliche und solidarische Welt nicht nachzulassen.

Albert Riedinger brachte in seinem Redebeitrag einige wichtige Erfahrungen aus seiner Arbeit im Interregionalen Gewerkschaftsrat ein. So werfe die Europäische Vereinigung die Frage auf, ob sich die verschiedenen sozialen Standards auf niedrigem oder hohem Niveau angleichen werden. Über Europa hinaus sei deshalb eine gegenseitige Unterstützung zwischen allen Ländern der Welt von großer Bedeutung. Die Europäische Vereinigung fordere vermehrte Anstrengungen zur Vereinigung der europäischen Gewerkschaften. Die Beteiligung der Bevölkerung an der Politik und damit die europäische Demokratie müsse gestärkt werden. Der gewerkschaftliche Kampf sei immer noch ein Kampf gegen die Diktatur des Profits.

 

Klaus Schramm

 

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