Vor den großen Auseinandersetzungen um die Atomenergie und die Platzbesetzungen im Dreyeckland - in Gerstheim im Elsaß, in Wyhl am Kaiserstuhl und in Kaiseraugst in der Nordschweiz - gab es bereits eine Bauplatzbesetzung gegen eine geplante Bleichemiefabrik. In Marckolsheim fand die erste ökologische, grenzüberschreitend organisierte und erfolgreiche Platzbesetzung statt. Hier entstanden 1974 die Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen . Menschen aus (fast) allen Schichten der Bevölkerung beiderseits des Rheins schlossen sich zusammen gegen Atomenergie und Giftchemie. Triebkraft war und ist die gemeinsame Sorge vieler Menschen um die Grundlagen ihrer Existenz, Leben und Gesundheit auch für künftige Generationen, Erhalt von Weinbau und Landwirtschaft, die Sorge um die schöne Heimat und um humane Arbeitsplätze.
Der damalige Umweltkonflikt im Spätsommer und Winter 1974 war ansatzweise bereits ein Globalisierungskonflikt. Ein deutscher Konzern, CWM (Chemische Werke München), wollte sich die Grenzlage zu nutze machen und auf französischem Boden unmittelbar am Rhein eine Bleichemiefabrik errichten. Vom Bleistaub wäre die Bevölkerung auf beiden Seiten des Rheins betroffen gewesen. Und es wurde auch bereits versucht, die Menschen gegeneinander auszuspielen.
Die Pläne waren bereits seit 1973 bekannt, der Bau des AKW Fessenheim gerade erst ein wenig südlich trotz Protesten begonnen worden und EnBW (damals "Badenwerk") plante ein AKW zunächst mit Standort in Breisach - später in Wyhl. Gegen die Bleichemiefabrik gab es viele Gründe. Sie hätte jährlich neun Tonnen Blei über den Schornstein abgegeben und das in einer Weinbauregion. Schnell wurde auch bekannt, daß in der Umgebung vergleichbarer Fabriken in Deutschland die Kühe auf der Weide gelegentlich tot umfielen. Ursache: Bleivergiftung.
Gegen Bleichemie und Atomindustrie schlossen sich im August 1974 deutsche und französische UmweltschützerInnen zusammen und gründeten das Internationale Komitee der 21 badisch-elsässischen Bürgerinitiativen. Einen vergleichbaren Zusammenschluß hatte es nach den Wunden, die der
Erste und der Zweite Weltkrieg aufgerissen hatten, zuvor nicht gegeben.
Erstaunliches tat sich vor 30 Jahren und fast 30 Jahre nach Kriegsende in der ländlichen Region beiderseits des Rheins: Über 3000 Menschen aus beiden Ländern kamen beim Sternmarsch zum geplanten Standort in Wyhl zusammen; über 4000 Menschen beim Demonstrationszug unter Glockengeläute gegen die Bleichemiefabrik in Marckolsheim.
Dennoch begannen Mitte September 1974 bauvorbereitende Maßnahmen auf dem Marckolsheimer Baugelände. Am 20. September wurde der Bauplatz in Marckolsheim von UmweltschützerInnen von beiderseits des Rheins besetzt und nach indianischem Vorbild ein hölzernes Rundhaus, das erste Freundschaftshaus am Rhein, errichtet. Bauplatzbesetzungen in Wyhl (D), Kaiseraugst (CH), Gerstheim (F) und Heiteren (F) sollten folgen und auch die badischen AckerbesetzerInnen in Sachen Gen-Mais in Buggingen beriefen sich zwei Jahrzehnte später noch auf die Marckolsheimer Erfahrungen.
Bauplatzbesetzung, das schreibt sich mit 30 Jahren Abstand so einfach. Doch diese erste Bauplatzbesetzung in Marckolsheim, das war zuallererst Matsch, Schnee, knöcheltiefer Schlamm in einem nassen, kalten Winter. Das war der Rücktritt des Marckolsheimer Gemeinderats und eine besetzte Pontonbrücke über den Rhein nach Sasbach. Das waren Elsässer, Badener, Badisch, Elsässisch, Hochdeutsch und Französisch sprechende Menschen und Sprachprobleme zwischen Deutschen, Franzosen und Dialektsprechern. Das war ein Aufblühen der alemannischen Regionalkultur, gleichzeitig eine Blüte und ein Schwanengesang des elsässischen Dialekts. Das waren Frauen und Männer, Winzer und Freaks, Junge und Alte, Linke und Wertkonservative, mancherlei Gesichter, Reden, Streit, Liebesbeziehungen, Gespräche und Lieder am Lagerfeuer, Demos, Brückenbesetzungen, Flugblätter, Liederbücher und Plakate.
Am 25. Februar 1975 kam dann der Erfolg. Die französische Regierung untersagt der deutschen CWM offiziell die Errichtung der Bleifabrik in Marckolsheim. Und mit dem Wissen, daß illegale Bauplatzbesetzungen auch zu Erfolgen führen können, wendet sich der Protest gegen das wenige Kilometer entfernte AKW-Bauprojekt im Wyhler Wald. Doch das ist eine andere Geschichte...
Was bleibt ist ein Erfolg. Ein Erfolg für Mensch und Umwelt, der jährlich 9 Tonnen Blei erspart geblieben sind. Erstaunlicherweise sogar ein nachträglicher Erfolg für die Firma CWM, denn die Fabrik sollte
Stabilisatoren für PVC und andere Kunststoffe herstellen, Produkte die heute für PVC nicht mehr benötigt werden. Wie so häufig hatte die Umweltbewegung auch einen ökonomischen Flop verhindert.
In diesen ökologischen Kämpfen am Oberrhein liegen wichtige Wurzeln des BUND, von Alsace Nature und den Grünen. Hier wurden aus konservativen Naturschutzverbänden politische Umweltorganisationen und der
Wachstumsglaube der 60er Jahre bekam erste Risse.
Und nicht zuletzt liegt eine der vielen Wurzeln Europas und der deutsch-französischen Aussöhnung in Marckolsheim. Hier wurde der Traum vom grenzenlosen Europa geträumt, ausgedrückt im Lied von François Brumpt: "Mir keije mol d Gränze über de Hüfe und danze drum erum". Und was mensch gegen Luftverschmutzung, Klimaveränderung und zerstörerische Auswirkungen der Globalisierung tun kann, haben die Aktionen vor 30 Jahren auch gezeigt.
Heute stehen auf dem ehemals besetzten Gelände ein Auto- auslieferungslager der Firma Peugeot und eine Zitronensäurefabrik. Beide Firmen sind bei weitem nicht mehr so umweltbelastend wie es das Bleichemiewerk gewesen wäre. Und doch verbreitet die Zitronensäurefabrik Jungbunzlauer ihren Gestank, wenn auch nicht giftig, bis in die Dörfer beiderseits des Rheins...
Die Wirkung der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen ist heute in vielen Bereichen zu erkennen: Angefangen beim Einsatz für erneuerbare Energien und Energieeinsparung, den Solarregionen in
Freiburg und am Kaiserstuhl, über die Ansätze zu einer Solarregion im Elsaß bis hin zum jetzt
wiedererwachten Widerstand gegen das Atomkraftwerk Fessenheim. Die Vielzahl bedeutender Umweltschutz- und Alternativenergie-Vereinigungen der BürgerInnen, etwa das Öko-Institut, Freiburg, und Alter Alsace Energies, Lutterbach, ist in dieser regionalen Konzentration ohne die Kämpfe Mitte der 70er Jahre nicht denkbar. Und auch die deutsche Anti-Atomkraftbewegung nahm ihren Anfang in Dreyeckland.
BUND und Badisch-Elsässische BIs