9.05.2004

Zusammenstellung

Foltern
muß gelehrt werden

Das Milgram-Experiment

Immer wieder tauchte im Zusammenhang mit den offensichtlich vollkommen üblichen Folterpraktiken im Irak, die nur durch den Foto-Fimmel einzelner SoldatInnen ans Licht der Öffentlichkeit gerieten, die Frage auf: Wie kommt es, daß anscheinend ganz "normale" Durchschnittsmenschen ohne jegliche Gewissensbisse foltern? Wie können sie dazu gebracht werden? Wie wird Foltern gelehrt?

Leider wird ein psychologisches Experiment an der Universität Yale, das Stanley Milgram unter dem Titel 'Behavioral Study of Obedience' veröffentlichte (Journal of Abn. Soc. Psychol., 67, 371 - 378), in den Massenmedien heute kaum mehr diskutiert.

Die Versuchspersonen waren zwischen 20 und 50 Jahre alt und wurden durch fingierte Zeitungsanzeigen "rekrutiert". In den Anzeigen wurde der Eindruck erweckt, es handele sich um ein Experiment zu einer Gedächtnis- und Lernuntersuchung an der Universität Yale. Das Sample umfaßte einen weiten Bereich von Berufsgruppen, so Postangestellte, High-School-Lehrer, Verkäufer, Ingenieure und Arbeiter. Das Bildungsniveau rangierte von Teilnehmern, die die Grundschule nicht abgeschlossen hatten, bis zu Inhabern des Doktorgrades und anderer akademischer Grade. Sie erhielten für ihre Teilnahme am Experiment 4,50 Dollar. Es wurde ihnen mitgeteilt, daß sie das Geld nur für ihr Erscheinen im Laboratorium erhielten und daß das Geld ihnen gehören würde, ganz gleich, was nach ihrer Ankunft sich dort ereigne.

An jedem Experiment war eine nichtsahnende Versuchsperson und ein "Opfer" (eine vom Versuchsleiter eingeweihte Person) beteiligt. "Wir mußten uns einen Vorwand ausdenken, um die Verabreichung eines Elektroschocks durch die nichtsahnende Versuchsperson zu rechtfertigen", erklärte Milgram die Versuchsanordnung. Dies geschah mit Hilfe einer entsprechenden Deckgeschichte. Nach einer allgemeinen Einführung in die mutmaßliche Beziehung zwischen Strafe und Lernen wurde den Versuchspersonen erklärt:

"Wir wissen nur sehr wenig über die Wirkung der Strafe auf das Lernen, weil hierüber bei Menschen noch fast keine wissenschaftlichen Untersuchungen vorliegen. So wissen wir beispielsweise nicht, wieviel Strafe für das Lernen am vorteilhaftesten ist - und welchen Unterschied es macht, wer die Strafe verabreicht, ob ein Erwachsener besser von jemandem lernt, der jünger oder der älter ist als er selbst - und noch vieles mehr.

Deshalb haben wir hier in diesem Raum eine Anzahl von Erwachsenen aus verschiedenen Altersgruppen zusammengestellt. Und wir wollen annehmen, daß die einen von ihnen die Lehrer und die anderen die Lernenden sind. Wir möchten herausfinden, welche Wirkung die verschiedenen Personen als Lehrer und Lernende aufeinander ausüben, und außerdem, welche Wirkung die Strafe in dieser Situation auf das Lernen hat. Daher werde ich jetzt einen von ihnen bitten, heute abend hier der Lehrer zu sein, und jeweils einen anderen, den Lernenden abzugeben.

Möchte jemand lieber die eine als die andere Rolle spielen?"

Die Versuchspersonen zogen dann Papierstreifen aus dem Hut, um festzulegen, wer bei dem Experiment Lehrer und wer Lernender sein sollte. Das Ziehen der Lose wurde so eingerichtet, daß die nichtsahnende Versuchsperson immer der Lehrer und die Komplizen immer die Lernenden waren. (Auf beiden Papierstreifen stand das Wort "Lehrer".) Unmittelbar nach dem Ziehen der Lose wurden Lehrer und Lernender in einen angrenzenden Raum gebracht, wo der Lernende auf einem "elektrischen Stuhl" festgeschnallt wurde.

Der Versuchsleiter erklärte, die Riemen sollten verhindern, daß der Lernende während des Schocks sich zu heftig bewege. Es solle ihm auf diese Weise unmöglich gemacht werden, sich der Situation durch Flucht zu entziehen. Dann wurde eine Elektrode am Handgelenk des Lernenden angebracht, und er wurde an dieser Stelle mit Elektrodensalbe eingeschmiert, "um Blasen und Verbrennungen zu vermeiden". Den Versuchspersonen wurde gesagt, die Elektrode sei an den Schock-Generator angeschlossen, der im angrenzenden Raum stehe.

Die Versuchsperson erhält den Auftrag, dem Lernenden jedesmal, wenn er eine falsche Antwort gibt, einen Schock zu verabreichen. Außerdem - und auf diesen Befehl kommt es an - wird der Versuchsperson gesagt, sie solle "bei jeder falschen Antwort des Lernenden auf dem Schock-Generator einen Strich höher gehen". Auch solle sie jedesmal, bevor sie den Schock gebe, die Volt-Zahl laut angeben. Auf diese Weise sollen sich die Versuchspersonen stets der wachsenden Intensität der Schocks bewußt sein, die sie dem Lernenden verabreichen.

In allen Fällen gibt der Lernende eine vorher festgelegte Reihe von Antworten zu einem Wortpaar-Test nach einem Plan, wonach etwas drei falsche Antworten auf eine richtige kommen. Unter diesen Versuchsbedingungen ist von den Lernenden keine Lautreaktion oder ein anderes Zeichen des Protests zu hören, bis das Schock-Niveau 300 Volt erreicht hat. Sobald jedoch der Schock von 300 Volt gegeben wird, hämmert der Lernende mit den Fäusten gegen die Wand des Raums, in dem er an den elektrischen Stuhl gefesselt ist. Die Versuchsperson kann dieses Hämmern hören. Von nun an erfolgen die Antworten des Lernenden nicht mehr nach dem Vier-Antworten-Schema.

Wenn die Versuchsperson ein Zeichen gibt, daß sie nicht mehr weitermachen will, antwortet der Versuchsleiter mit einer Reihe von "Aufforderungen", wobei er so viele anwendet, wie notwendig sind, um die Versuchsperson zum Weitermachen zu veranlassen:

Aufforderung 1: "Bitte machen Sie weiter."
Aufforderung 2: "Das Experiment erfordert, daß Sie weitermachen."
Aufforderung 3: "Es ist unbedingt erforderlich, daß Sie weitermachen."
Aufforderung 4: "Es bleibt Ihnen keine andere Wahl. Sie müssen weitermachen."

Diese Aufforderungen werden stets der Reihe nach angewandt. Nur wenn Aufforderung 1 keinen Erfolg hat, darf Aufforderung 2 benutzt werden. Wenn die Versuchsperson sich auch nach Aufforderung 4 weigert, dem Versuchsleiter zu gehorchen, wird das Experiment beendet. Der Versuchsleiter spricht stets in bestimmtem, jedoch nicht unhöflichem Ton. Mit der Reihe wird immer wieder von vorn angefangen, wenn die Versuchsperson stockt oder zögert, den Befehlen nachzukommen.

Spezielle Aufforderungen:
Wenn die Versuchsperson fragt, ob der Lernende einen dauernden körperlichen Schaden davontragen werde, sagt der Versuchsleiter: "Wenn die Schocks auch vielleicht schmerzhaft sind, so erleidet das Muskelgewebe doch keinen Dauerschaden. Machen Sie also ruhig weiter." (Gefolgt von Aufforderung 2, 3 und 4, falls notwendig.)

Sagt die Versuchsperson, der Lernende wolle aber nicht weitermachen, so erwidert der Versuchsleiter: "Ob der Lernende es will oder nicht, Sie müssen weitermachen, bis er alle Wortpaare richtig gelernt hat. Fahren Sie bitte fort." (Gefolgt von Aufforderung 2, 3 und 4, falls notwendig.)

Die Ergebnisse des Experiments

In der Versuchsauswertung Milgrams heißt es:
Viele Teilnehmer bekundeten Anzeichen von Nervosität in der Versuchssituation, besonders bei der Verabreichung der stärkeren Schocks. In sehr vielen Fällen erreichte die Spannung Grade, wie sie selten bei soziopsychologischen Laborversuchen zu beobachten sind. Die Versuchspersonen schwitzten, zitterten, stotterten, bissen sich auf die Lippen, stöhnten oder bohrten sich die Fingernägel ins Fleisch. Dies waren eher charakteristische als ausnahmsweise zu beobachtende Reaktionen auf das Experiment. Ein Zeichen für Spannung war das Auftreten nervöser Lachanfälle.

Im Gegensatz zu den ursprünglichen Erwartungen des Versuchsleiters hörte keine der Versuchspersonen auf, bevor das Schockniveau 300 Volt erreicht war, bei dem das Klopfen zu hören war. Knapp 13 Prozent der Versuchspersonen weigerten sich, den Befehlen des Versuchsleiters über das 300-Volt-Niveau hinaus zu gehorchen. Weitere 10 Prozent verabreichten noch einen weiteren Schock, 5 Prozent hörten bei 330 Volt auf und einzelne bei weiteren Niveaus bis hin zu 375 Volt. So widersetzten sich im Ganzen 35 Prozent dem Versuchsleiter. Die übrigen Versuchspersonen, 65 Prozent, gehorchten oft unter extremem Stress. Nachdem der Versuchsleiter das Experiment für beendet erklärte, stießen viele der gehorsamen Versuchspersonen Seufzer der Erleichterung aus oder schüttelten offenbar bedauernd den Kopf. Einige der Versuchspersonen blieben während des ganzen Experiments ruhig und zeigten von Anfang bis Ende nur minimale Anzeichen von Spannung.

Einer der Versuchsleiter berichtet, "wie ein ursprünglich gelassen wirkender Geschäftsmann mittleren Alters lächelnd und selbstsicher ins Laboratorium kam. Innerhalb von 20 Minuten wurde er zu einem zuckenden, stammelnden Wrack, das einem Nervenzusammenbruch nahe war. Er zerrte ständig an seinem Ohrläppchen und rang die Hände. Einmal stieß er sich mit der Faust gegen die Stirn und murmelte: 'Oh Gott, wenn das nur aufhörte!' Und trotzdem hörte er weiter auf jedes Wort und gehorchte bis zum Schluß."

In der Diskussion des Experiments konstatiert Milgram:
Die erste Feststellung betrifft die ungebrochene Stärke der Gehorsamstendenzen, die sich in dieser Situation manifestieren. Die Versuchspersonen hatten von Kindheit an gelernt, daß es ein fundamentales menschliches Vergehen ist, wenn man einen anderen Menschen gegen dessen Willen verletzt. Trotzdem wichen 65 Prozent der Versuchspersonen von diesem Grundsatz ab und folgten den Anweisungen der Autoritätspersonen, die über keine spezielle Macht verfügten, ihren Befehlen Geltung zu verschaffen. Der zweite nicht vorausgesehene Effekt war die außergewöhnliche Spannung, welche dieses Experiment hervorrief. Man hätte erwarten sollen, daß die Versuchspersonen einfach aufgehört oder weitergemacht hätten, je nachdem wie es ihnen ihr Gewissen befahl. Aber etwas völlig anderes geschah. Es kam zu auffälligen Spannungsreaktionen und zu einer heftigen emotionalen Belastung.

Erich Fromm kommentiert1 dieses Experiment, indem er zunächst darauf hinweist, daß es nicht nur interessante Fakten zu Gehorsam und Konformität, sondern auch zu Grausamkeit und Destruktivität liefert: "Fast scheint es sich um die gleiche Situation zu handeln, wie sie sich im wirklichen Leben ereignet, wenn man sich nach der Schuld von Soldaten fragt, die schreckliche Grausamkeiten oder Gräueltaten begingen, indem sie Befehle ihrer Vorgesetzten (oder das, was sie dafür hielten) ohne zu fragen ausführten. Gilt dies auch für die deutschen Generäle, die in Nürnberg als Kriegsverbrecher verurteilt wurden, oder für Leutnant Calley und einige seiner Untergebenen in Vietnam?"

Fromm weist diesen Ansatz allerdings als vereinfachend zurück, und zeigt auf, daß es sich im Falle des Milgram-Experiments bei den leitenden Psychologen um ganz besondere Autoritäten handelte. Sie seien nicht allein Autoritäten, denen ein Durchschnittsmensch Gehorsam schulde, sondern Vertreter der Wissenschaft und repräsentierten zudem eines der angesehensten Institute im höheren Bildungswesen der USA. "In Anbetracht der Tatsache, daß die Wissenschaft in der heutigen Industriegesellschaft weitgehend als der höchste Wert angesehen wird, ist es für den Durchschnittsbürger schwer zu glauben, daß das, was die Wissenschaft befiehlt, falsch oder unmoralisch sein könnte. (...) Aus diesem Grund, und aus anderen von Milgram erwähnten Gründen, ist der hochgradige Gehorsam nicht erstaunlicher, als daß 35 Prozent der Gruppe an einem gewissen Punkt den Gehorsam verweigerten. Tatsächlich könnte man diesen Ungehorsam von mehr als einem Drittel als erstaunlicher - und ermutigend - ansehen.

Ungerechtfertigt erscheint auch, wenn man sich darüber wundern wollte, daß soviel Spannung entstand. Der Versuchsleiter erwartete, 'daß die Versuchspersonen einfach aufgehört oder weitergemacht hätten, je nachdem, wie es ihnen ihr Gewissen befahl.' Ist das tatsächlich die Art und Weise, wie die Menschen im wirklichen Leben ihre Konflikte lösen? Liegt die Besonderheit (...) des menschlichen Handelns nicht gerade darin, daß der Mensch versucht, sich seinen Konflikten nicht zu stellen; das heißt, daß er nicht bewußt die Wahl trifft zwischen dem, was er - aus Habgier oder Angst - tun möchte, und dem, was ihm sein Gewissen verbietet? Tatsache ist, daß er mit Hilfe von Rationalisierungen die Erkenntnis des Konflikts von sich wegschiebt und daß sich der Konflikt lediglich im Unbewußten in Form von verstärktem Stress, neurotischen Symptomen oder von Schuldgefühlen aus falschen Gründen manifestiert. In dieser Hinsicht verhielten sich Milgrams Versuchspersonen durchaus normal.

Bei dieser Gelegenheit stellen sich noch eine Reihe weiterer interessante Fragen. Milgram nimmt an, daß seine Versuchspersonen in einer Konfliktsituation sind, weil sie sich in einem ausweglosen Widerstreit zwischen dem Autoritätsgehorsam und Verhaltensmustern befinden, die sie von Kindheit an gelernt haben, nämlich anderen Menschen keinen Schaden zuzufügen.

Abe stimmt das wirklich? Haben wir gelernt, "anderen Menschen keinen Schaden zuzufügen"? Vielleicht lernt man das im Religionsunterricht. In der realistischen Schule des Lebens dagegen lernen die Kinder, daß sie ihren eigenen Vorteil wahrnehmen müssen, selbst wenn sie damit anderen Menschen Schaden zufügen. Offenbar ist der Konflikt in dieser Hinsicht doch nicht so heftig, wie Milgram annimmt.

Ich glaube, die wichtigste Erkenntnis aus Milgrams Untersuchung die Stärke der Reaktion gegen ein grausames Verhalten ist. Sicher konnten 65 Prozent der Versuchspersonen dazu 'konditioniert' werden, daß sie sich grausam verhielten, aber bei den meisten war doch eine Reaktion der Empörung oder des Widerwillens gegen ihr sadistisches Verhalten deutlich vorhanden. Leider gibt uns Milgram keine genauen Daten über die Anzahl der Versuchspersonen, die während des ganzen Experiments ruhig blieben. Für ein Verständnis menschlichen Verhaltens wäre es höchst interessant, mehr über sie zu erfahren. Offenbar fühlten sie kaum oder nur wenig Widerstreben gegen die grausamen Handlungen, die sie vollzogen. Die nächste Frage lautet, warum dies so war. (...)

Das wichtigste Ergebnis aus Milgrams Untersuchung dürfte ein Resultat sein, auf das er selbst nicht besonders hinwies: das Vorhandensein eines Gewissens bei den meisten Versuchspersonen und ihr Schmerz darüber, daß der Gehorsam sie zwang, gegen ihr Gewissen zu handeln. Während man daher das Experiment als neuen Beweis dafür interpretieren kann, wie leicht der Mensch zu entmenschlichen ist, weisen die Reaktionen der Versuchspersonen eher auf das Gegenteil hin - auf das Vorhandensein starker innerer Kräfte, die ein grausames Verhalten unerträglich finden. Das legt nahe, daß es bei der Untersuchung der Grausamkeit im realen Leben wichtig ist, nicht nur das grausame Verhalten, sondern auch das - oft unbewußte - schlechte Gewissen derer, die der Autorität gehorchen, zu berücksichtigen. Die Nazis mußten ein ausgeklügeltes Verschleierungssystem für ihre Greueltaten anwenden, um mit dem Gewissen des Durchschnittsbürgers fertig zu werden. (...)"

In Hinblick auf die - einmal mehr - im Irak aufgedeckten Folterpraktiken heißt dies, daß einerseits durchaus gewöhnliche Durchschnitts- menschen dazu gebracht werden können, zu foltern. Es bedeutet aber zudem, daß es eines gewissen Aufwands und Trainings bedarf, um Menschen dahin zu bringen. Es ist ein - manchmal mehr, manchmal weniger - subtiler Teil der Ausbildung zur Soldatin und zum Soldaten. Weiter sollte klar sein, daß Krieg und Folter niemals voneinander zu trennen sein werden. Der Versuch, die im Irak aufgedeckten Folterpraktiken als isoliertes Phänomen und die einzelnen folternden SoldatInnen als abnorm darzustellen, ist nur ein Teil des Versuchs, diese Tatsache zu leugnen.

 

Adriana Ascoli und Ute Daniels

 

Anmerkung:

1 Erich Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität, 1973

 

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