Die Maul- und Klauenseuche hätte verhindert werden können: durch
Impfungen.
Doch die EU hielt die Seuche für kontrollierbar und ignorierte
historische Erfahrungen
1992 kam es zu einer folgenschweren Wende bei der
Bekämpfung der Maul- und Klauenseuche (MKS). Die EU
beschloss, dass die Tiere nicht mehr geimpft werden durften,
sondern befallene Tiere getötet werden - sowie alle gesunden,
die infiziert sein könnten. Diese neue "Eradications-Strategie"
setzte darauf, das Virus auszurotten. Ein Ziel von erschütternder
Schlichtheit, das nur verständlich wird, wenn man weiß, dass
Europa in den 80er-Jahren seuchenfrei schien. Man ging daher
davon aus, dass die Seuche höchstens noch in wenigen
Einzelfällen auftreten könnte - rechnete also gar nicht mit den
Massentötungen, die jetzt nötig werden.
Zur EU-Wende in der Seuchenpolitik kam es, weil die 1966
eingeführte Impfung die MKS zwar zurückgedrängt hatte, doch
gleichzeitig den Export lebender Zuchttiere behinderte. Etwa in
die USA oder nach Japan. Denn geimpfte Tiere können Viren
ausscheiden, obwohl sie selbst immun geworden sind. Nach
einer Kosten-Nutzen-Analyse beschloss die EU, die Impfungen
zu stoppen und die Einschleppungsgefahr des Virus durch den
weltweiten Handel zu riskieren. Diese Mehrheitsentscheidung
wurde gegen das Urteil vieler Tierärzte gefällt. Das ging auch
einige Jahre gut.
Doch wie sollte das "seuchenfreie" Europa bei freiem Waren-
und Personenverkehr verteidigt werden - gegen eine Seuche, die
fast überall auf der Welt grassiert? Einer der Albträume für
Tierärzte: Ein Bauernsohn kommt vom Kosovo-Einsatz nach
Hause und geht in den Stall. Denn im Kosovo wird die Seuche
vermutet. Um eine Verschleppung nach Deutschland zu
verhindern, gaben die Verterinäre, die die Soldaten begleiteten,
die Losung aus: "Zurückkehren nur nackt und nüchtern. Und in
Deutschland erst einmal eine Stunde duschen." Vorsorglich
machte die Veterinärverwaltung Notfallübungen. Auch bei der
Expo 2000 hatte die niedersächsische Agrarverwaltung Angst
vor möglichen Seuchen.
Der Grundfehler der EU-Entscheidung war, "Seuchenfreiheit"
bzw. die "Ausrottung" des Virus für möglich zu halten. Ignoriert
wurde, wie prinzipiell unüberschaubar die Möglichkeiten zur
Weiterverbreitung der Seuche sind. Nicht nur die direkten
Ausscheidungen oder die Milch des erkrankten Tiers können das
Virus verbreiten. Die Lehrbücher zählen endlos die "belebten und
unbelebten Zwischenträger" auf. Das können Vögel, Wild,
Mäuse, Insekten sein. Der Mensch verschleppt das Virus an
seiner Kleidung oder im Haar. An Heu, Futtermittel, Gemüse,
Milchkannen kann es kleben. Über die Autoreifen der
Transportfahrzeuge wandert es weiter. Sogar der Wind kann
über kurze Strecken das Virus verbreiten. Selbst an
Postsendungen kann es haften.
Entsprechend schwierig, ja unmöglich ist es, den
Einschleppungsweg des Erregers eindeutig zu ermitteln. So ist es
kein Wunder, dass jetzt, wo die Seuche in Europa ausgebrochen
ist, die verschiedensten Theorien kursieren: Waren es
Lebensmittelabfälle von einem Schiff aus Asien, die dann an
Schweine verfüttert wurden - oder waren es stattdessen
Essenreste aus einem asiatischen Restaurant in Nordengland, die,
nicht ordnungsgemäß erhitzt, im Schweinetrog landeten? Oder
war es doch nicht Asien, sondern ein Schinkensandwich aus der
Schulkantine des nordenglischen Heddon-on-the-Wall?
Entsprechend umfassend sind die Abwehrmaßnahmen:
Wurstbrote von Englandreisenden werden am Frankfurter
Flughafen konfisziert und "unschädlich beseitigt", Autos werden
beim Grenzübertritt desinfiziert usw.
Wie in einem Kriminalfall beginnt die Suche nach den
Schuldigen. Irgendjemand muss ja die Seuche von außen in das
seuchenfreie Europa eingeschleppt haben. Dabei zeigt sich, dass
es nur ein kleiner Schritt ist von der Illusion der "Seuchenfreiheit"
bis zur blindwütigen Ausrottung der Tierbestände ganzer
Regionen. Seitdem nicht mehr geimpft wird, sind alle Maßstäbe
beim Umgang mit der Seuche verloren gegangen.
Dass sich die Seuche nicht besiegen, sondern nur begrenzen lässt
- das war in früheren Zeiten bekannt. Noch in den 50er-Jahren
wurde beim Auftreten der Seuche der Hof abgesperrt. Es durfte
nichts herein und nichts heraus. Die Familie blieb zu Hause, lebte
von den eigenen Vorräten und der Milch. Da nichts mehr ge-
oder verkauft werden durfte, wurde alles verarbeitet und selbst
gegessen. Notgedrungen wurde die Ernährung einseitig: Es gab
Grießbrei, Quark und wieder Grießbrei. Die Haut wurde rosarot
und weich wie ein Kinderpo, so erzählen die Bauern noch heute.
Genutzt hat es allerdings meist nichts: Der Dorfpolizist, den es ja
damals noch gab, stand vor einer unlösbaren Aufgabe. Während
er unten in der Straße aufpasste, gingen die Leute oben zum
Kaufmann. So zog die Seuche doch durchs Dorf und zum
Nachbardorf weiter. Oft wurde deshalb die Seuche gar nicht erst
isoliert - sondern lieber gleich beschleunigt: Man strich gesunden
Tieren den Speichel von erkrankten Tieren übers Maul. Nach
drei Wochen war dann "durchgeseucht" und alle Tiere waren
immun. In der Regel starben die Sauglämmer der Schafe. Es gab
auch bakterielle Folgeerkrankungen. Doch der Hauptbestand
der Rinder und Schweine konnte meist gerettet werden.
Seit 1966 wurden die Rinder jährlich geimpft, die Seuche wurde
fast vollständig zurückgedrängt. Nur so konnte die Illusion der
Seuchenfreiheit entstehen. Vergessen wurde die alte Weisheit:
"Wer gegen Seuchen impft, muss mit der Seuche leben." Statt
dieser ständigen Impfvorsorge tritt 1992 ein neuer Begriff von
Gesundheit auf den Plan: die Ausrottung des Virus.
Massentötung, Verbrennen, Desinfizieren ist die Losung. In
Paragraf 14 (2) der MKS-Verordnung heißt es: "Die MKS gilt
als erloschen, wenn [. . .] alle Klauentiere des Betriebs [. . .]
verendet oder getötet und unschädlich beseitigt worden sind
[. . .] [und] die Schadnagerbekämpfung, Reinigung und
Desinfektion nach näherer Anweisung des beamteten Tierarztes
durchgeführt und von ihm abgenommen worden" sind.
Impfen wird nur noch als Ausnahme und zur Eindämmung einer
schon ausgebrochenen Seuche erlaubt. Um den vermuteten
Infektionsherd wird (je nach Windrichtung) ein Ring von
mehreren Kilometern gelegt, in dem von außen nach innen
geimpft wird. Zu vermuten ist, dass dieses Impfen weniger mit
Vorsorge und mehr mit den begrenzten Kapazitäten der
"Tierkörper-Beseitigungs-Anlagen" zu tun hat. Die Anlieferung
"unschädlich zu beseitigender Tiere" kann so entzerrt werden.
Diese neue Seuchenbekämpfung ist nicht nur tierverachtend -
auch ökonomisch stimmt die Rechnung nicht. Allein in
Deutschland veranschlagen die Versicherungsgesellschaften einen
möglichen Schaden durch MKS von zwei Milliarden Mark. Den
wollen sie offensichtlich nicht tragen. Aus der
Versicherungswirtschaft verlautet: "Der Markt für
Versicherungen stößt gegenwärtig an Grenzen." Nicht weil die
Bauern sich nicht versichern wollen. Sondern weil die
Versicherungsgesellschaften damit kein Geschäft mehr machen
können. Zahlen sollen die Bauern und die zum Teil durch den
Steuerzahler finanzierten Tierseuchenkassen.
Ein entsetzliches Beispiel für die Pleite der EU-Strategie ist die
Schweinepest (hervorgerufen durch ein nicht annähernd so leicht
übertragbares Virus). Für die Tötung und Entsorgung der Tiere
wurden allein in Deutschland zwischen 1993 und 1996
1,3 Milliarden Mark ausgegeben. Das Impfen hätte nur 50
Millionen Mark gekostet. Auch der Anlass für das Impfverbot ist
inzwischen überholt: Zuchttiere werden heute meist nicht
ausgewachsen exportiert, sondern als tiefgekühlter Samen.
Wir müssen neu nachdenken über den Umgang mit den Seuchen.
Auch deshalb, weil das Töten und Verbrennen ihrer Tiere für die
Bauernfamilien eine psychische Katastrophe ist. Wie sollen sie
bewältigen, dass sich in ihren Höfen Berge von getöteten Tieren
türmen und anschließend die verseuchte Erde abgetragen werden
muss? In England sind die Zeitungen voll mit Berichten über
Selbstmorde der Farmer.
Die "Eradication" stößt die Bauern aus der Gesellschaft aus. Wir
drängen sie über den äußersten Rand der Gesellschaft hinaus.
Nicht nur dass sie die traditionelle Rolle des Abdeckers
übernehmen - sie werden zum Buhmann. Stattdessen sollten wir
das Bewusstsein einer beständigen Gefahr durch Seuchen
wachhalten, vorsorgen und das regelmäßige Impfen wieder
einführen.
Götz Schmidt