von Heiner Müller, Bayern 2 Radiowelt
Es ist schon ein ziemlich seltsames Land, dieses
Deutschland. Denn wir sind unsäglich schlecht geworden. An
den deutschen Universitäten sitzen Dummköpfe, an den
deutschen Werkbänken stehen Faulenzer, in den deutschen
Krankenhäusern liegen Simulanten - kurzum, wir müssen
deshalb sparen und kürzen, bis wir unser Gemeinwesen, das
wir in mehr als fünf Nachkriegsjahrzehnten aufgebaut haben,
nicht mehr erkennen.
Aber was ist eigentlich passiert? Warum lebt diese
Bundesrepublik seit einiger Zeit im Ausnahmezustand? Die
Antwort ist einfach: Wir haben die Katastrophe, weil unser
Bruttoinlandsprodukt nun schon seit zwei Jahren
hintereinander kein Wachstum mehr aufweist. Sprich, im Jahr
2002 und im Jahr 2003 haben wir nur noch genau so viele
Güter und Dienstleistungen produziert wie im Jahr vorher.
Im Durchschnitt hat also der Metzger genau so viel Pressack
gemacht, der Metallbetrieb genau so viele Maschinen gebaut
und der Klempner genau so viele Abflüsse repariert wie in
den Jahren vorher.
Was aber wird eigentlich ein Afrikaner oder ein Pakistani
denken, der zufällig hört, daß in einem der reichsten Länder
der Welt Katastrophenstimmung herrscht, weil der riesige
Berg an Gütern und Dienstleistungen in Deutschland seit zwei
Jahren nicht mehr wächst, sondern gleich groß bleibt. Wenn
er freundlich ist, wird er sagen: "Deren Sorgen möchte ich
haben."
Natürlich, werden die Wachstumsapologeten jetzt einwerfen,
vergleichsweise gehts uns gut. Aber daß wir viereinhalb
Millionen Arbeitslose haben, das ist ja wohl auch ein Fakt.
Und deshalb müßten halt unsere Politiker das Schiff wieder
auf Wachstumskurs bringen. Da müßten sich eben die Rentner
einschränken und die Studenteninnen und die Kranken und die
Natur soll sich auch nicht so haben und das
Betriebsverfassungsgesetz ist eh bloß was für die Arbeiter.
Opfer müssen eben gebracht werden, wenn nur endlich das
geliebte Wachstum zurückkommt.
Soweit die offizielle Ideologie. Tatsächlich jedoch ist ein
Wachstum von drei Prozent - und erst damit könnten wir
unsere Arbeitslosigkeit spürbar reduzieren - einfach nicht
mehr zu erreichen. Meine Kinder - heute Anfang zwanzig -
müßten beispielseise bei drei Prozent Wachstum in 23 Jahren
bereits doppelt so viel konsumieren wie heute. Und meine
potentiellen Enkel müßten nach weiteren 23 Jahren bereits
das Vierfache an Gütern und Dienstleistungen bewältigen.
Die Urenkel das Achtfache...
Eine irrsinnige Idee. Und doch hängt die ganze politische
Diskussion am Wachstum wie der Junkie an der Nadel. Warum
eigentlich bringt es niemand mehr fertig, über Alternativen
nachzudenken. Daß wir beispielsweise weniger arbeiten. Oder
daß wir den Streß wieder etwas reduzieren und daß wir dafür
Arbeitslose einstellen. Natürlich weiß ich auch, daß die
internationale Konkurrenz nicht faul ist. Aber das sind doch
auch nur Getriebene. In England, Frankreich, den USA, Japan
- überall herrscht das gleiche grausame Spiel.
Was wir brauchen ist eine breite internationale Diskussion
über die Art, wie wir in Zukunft wirtschaften wollen. Und
wer anders als ein immer noch reiches und leistungsstarkes
Land wie Deutschland könnte damit beginnen? Schwierig wird
das sicher, denn es gibt keine Patentrezepte. Aber es gibt
die dringende Notwendigkeit, uns endlich aus dieser
Wachstumsideologie zu befreien. Denn sie kann ökonomisch auf
Dauer nicht funktionieren. Und ökologisch würde dies unser
kleiner Planet ohnehin nicht lange durchstehen.
Heiner Müller
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