Santiago, New York
Es geschah am 11. September. Wichtigstes Ziel der Terroristen war ein
symbolträchtiges Gebäude. Gegen 9.00 Uhr schlugen dort die ersten
Raketen ein. Später wurden im ganzen Land Tausende ermordet. Den
Terroristen zur Seite stand ein anderes Land - mit Ausbildungscamps, mit
Waffen und mit einer Regierung, die den Terror aktiv förderte.
Die Parallelen sind unübersehbar, und doch werden sie kaum erwähnt.
Würde für jede Nation dieser Erde dasselbe Recht gelten und wäre die
herrschende Medienwelt nicht die Medienwelt der Herrschenden, hätte man
im vergangenen Jahr nicht nur von einem einmaligen Akt gesprochen, der
alles verändert, sondern auch von einer tragischen Fortsetzung der
Geschichte, allerdings mit vertauschten Rollen. Damals, am 11.
September 1973, zielten Terroristen der chilenischen Armee, geführt von
General Augusto Pinochet, auf die Moneda, den Sitz des chilenischen
Präsidenten Salvador Allende. Wie die Twin Towers war auch der
Moneda-Palast ein Symbol - allerdings nicht für die Herrschaft von Geld
und Kapital, sondern für die Unidad Popular, für die erste frei gewählte
sozialistische Regierung Lateinamerikas. Und wie im vergangenen Jahr
wurden die Terroristen von außen unterstützt, nicht von den Taleban und
von saudischen Finanziers, sondern von der damaligen US-Regierung unter
Richard Nixon.
Drei Jahre zuvor war das passiert, was aus Washingtons Sicht nie hätte
passieren dürfen. Salvador Allende, Arzt und Volkstribun, gewinnt die
Präsidentschaft in freier und geheimer Wahl. Noch schlimmer: Seine
Koalition, in der Sozialisten und Kommunisten prominent vertreten sind,
beginnt, ihr Wahlprogramm durchzusetzen und Chile zu verändern.
Erstmals in einem Land Lateinamerikas bedient die Regierung nicht mehr
die Interessen der Oligarchie und ihres Schutzherrn aus dem Norden,
sondern kümmert sich um Nahrung, Arbeit und Bildung für das gemeine
Volk, wagt den Versuch, politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit zu
versöhnen.
US-Außenminister Henry Kissinger ahnt, dass Chile zu einem Beispiel
werden könnte und fordert Konsequenzen: "Ich kann nicht einsehen,
weshalb wir einfach daneben stehen sollten, wenn ein Land wegen der
Verantwortungslosigkeit seines eigenen Volkes kommunistisch wird."
Nach dem 11. September wird klar, was es bedeutet, Verantwortung zu
übernehmen. Panzer rollen durch die Städte, Fußballstadien werden zu
Konzentrationslagern, gewählte Abgeordnete werden gefoltert und
exekutiert. Bücher brennen. Die Preise für Nahrungsmittel steigen um ein
Vielfaches. Washington zückt das Scheckbuch, damit die Junta des
Terrors zahlungsfähig bleibt. Und Chile, nicht das
demokratisch-sozialistische, sondern das mörderisch-diktatorische wird in
der Tat zu einem Beispiel - für den "prophylaktischen" Terror, dem Mitte
der siebziger Jahre Oppositionelle in Argentinien, Paraguay, Uruguay und
Brasilien ausgeliefert sind. Aktiv beteiligt an dieser sogenannten "Operation
Condor" waren wiederum die USA, mit Beratung, Logistik und mit einem
Trainingszentrum für Foltermethoden, das sich zynisch "School of the
Americas" nannte.
Auch wenn die Diktaturen aus Lateinamerika verschwunden sind, es bleibt
dabei: Für die Mächtigen in den USA ist Demokratie kein Wert an sich.
Nicht im eigenen Land, in dem nun ein Präsident regiert, der mit
Industriespenden und manipulierten Wahlen ins Amt kam, und schon gar
nicht in anderen Ländern, wenn sie beginnen, "verantwortungslos" ihre
eigenen Interessen wahrzunehmen.
Hans Thie
aus der Wochenzeitung 'freitag', Nr. 37, 6.09.02