26.11.2000

Parlamentarismus

systembedingt undemokratisch

...daß keiner glücklich genannt werden kann, der nicht an öffentlichen Angelegenheiten teilnimmt,
daß niemand frei ist, der nicht aus Erfahrung weiß, was öffentliche Freiheit ist,
daß niemand frei und glücklich ist, der keine Macht hat, nämlich keinen Anteil an öffentlicher Macht.

Hannah Arendt

 

  1. historischer Abriß über die Entwicklung der Parlamentarismus-Kritik

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde auf hohem intellektuellen Niveau über die Funktionsfähigkeit des Parlamentarismus im Sinne einer Realisierung von Demokratie debattiert. So schreibt etwa Richard Thoma 'Zur Ideologie des Parlamentarismus' 1), 1925, indem er auf die Abhandlung 'Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus' 2) von Carl Schmitt antwortet und dabei zunächst versucht, dessen Position zu umreißen:

"Absicht des Verfassers ist, nicht sowohl das sattsam bekannte Sündenregister des modernen Parlamentswesens zu wiederholen (S. 416 / 17) als vielmehr >>den letzten Kern der Institution des modernen Parlaments<< aufzusuchen, woraus sich dann klar ergeben werde, wie sehr >>die Institution geistesgeschichtlich ihren Boden verloren hat und nur noch als leerer Apparat ... aufrecht steht<<. Auf die Frage (S. 429) >>Warum ist für viele Generationen das Parlament wirklich das Ultimum sapientiae gewesen, und worauf beruht der Glaube, den ein ganzes Jahrhundert für diese Institution hatte ?<< gibt er die Antwort, die Ratio der parlamentarischen Institution sei nicht sowohl in der bekannten Vorstellung zu finden, der gewählte Ausschuß habe als Surrogat der praktisch nicht möglichen Versammlung der Bürger zu gelten, als in dem, was Smend (Festgabe für Kahl) als das Dynamisch-Dialektische bezeichnet habe: >>Öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion<< in Parlament und freier Presse (S. 430). Das hätten vor allem Guizot und andere, wie z.B. (S. 466, N. 2) Forcade ausgesprochen. Damit verknüpft sich der Glaube, daß durch den freien Wettbewerb der Ansichten, durch die Balance der Meinungen und Bestrebungen, durch die Diskussion und die öffentliche Meinung die >>Wahrheit<< sich finden lasse und somit das Parlament eine Gewähr richtiger oder doch relativ bester Gesetzgebung und Politik biete. So könne die >>Arkan- praxis<< des Absolutismus überwunden; so könne an Stelle der bloßen Macht die Herrschaft von Recht und Gerechtigkeit gesetzt werden. Indem Schmitt in dieser Ideologie das >>geistige Zentrum des modernen Parlamentarismus<< erkennt, kommt er zu dem Schluß, daß der Parlamentarismus seine geistesgeschichtliche Basis verloren habe (S. 447), daß er heute jeder Ratio entbehre und somit tot und zum Abbruch reif sei. Denn selbstverständlich hegt heute kein vernünftiger Mensch mehr jenen naiv- optimistischen Glauben an die wunderbaren Resultate der Parlamentsdebatten und Pressefehden."

Thoma stellt einige Zwischenüberlegungen an wie z.B.:

"So ist es, beiläufig bemerkt, gar nicht richtig, daß das moderne Parlament keine schöpferische öffentliche Diskussion mehr leiste. Es haben nur Strukturwandlungen stattgefunden. Die schöpferische Diskussion der Parlamentarier hat sich erst in die Ausschüsse und schließlich in das Geheimnis der Fraktionszimmer, des Kabinetts, der interfraktionellen Besprechungen, der Erörterungen mit Sachverständigen und Wirtschaftskreisen zurückgezogen, und die öffentliche Diskussion im Plenum bedeutet zwar nichts mehr für dieses, wohl aber für die Meinungsbildung außer ihm, indem sie von Journalisten und anderen Politikern gelesen und bewußt oder unbewußt erwogen werden."

Schließlich kommt Thoma dann zu seiner Gegenargumentation:

"Wer für die Einführung oder Aufrechterhaltung eines Instituts eintritt, kann z.B. wohl nicht offen sagen, daß er aus pessimistischer Resignation handle und das Verteidigte nur eben für das kleinere Übel halte; er muß, wenn er wirken will, positiv reden, optimistische Illusionen erwecken, ja schließlich selber an diese glauben, solange er im Kampfe steht. Wenn nachher die Illusion sich als trügerisch erweist, ist deshalb das Institut noch lange nicht geistesgeschichtlich erledigt."

Thoma zeigt sogar erstaunlichen Weitblick:

"Der Schritt vom Glauben an die Diskussion zum >>Dezisionismus<< ist geisesgeschichtlich längst vollzogen. Das Problem unserer Tage ist, ob die Dezision bei einer stabilen Minderheit liegen soll (Obrigkeitsstaat, extrem: Diktatur), oder bei einer labilen jeweiligen Mehrheit (Parteienstatt); ob an der Mehheitsbildung alle Staats- angehörigen gleichmäßig beteiligt sein sollen (Demokratie) oder gewisse soziale Schichten, seien es die Proletarier oder die Bourgeois, auszuschließen oder zu bevorzugen seien (Privilegienstaat). Keinesfalls ist bewiesen, daß Europa vor dem Dilemma stehe: Parlamentarismus oder Diktatur. Die Demokratie, nicht wohl die monarchische, wohl aber die republikanische, hat, wenn der Parlamentarismus einmal wirklich versagen sollte und sich nicht mehr zu regenerieren vermöchte (worüber heute noch durchaus kein Urteil möglich ist, auch nicht in Frankreich oder England, geschweige denn in Deutschland, wo der junge Parlamentarismus noch kaum das Gehen gelernt hat), noch viele andere Gestaltungs- möglichkeiten als den Parlamentarismus. Dasselbe gilt vom nichtdemokratischen Staat. Möglich ist es natürlich, daß die europäische Verfassungspolitik eines Tages vor die alleinige Alternative gestellt wird: demokratischer Parlamentarismus oder gewaltsame Diktatur. Aber daß dies allgemein wirklich sei, wage ich trotz Lenin, Mussolini und Primo de Rivera rundweg zu verneinen."

Auf diesem intellektuellen Niveau bewegte sich um 1925 die Debatte.

Greifen wir noch weiter zurück, so finden wir, daß der Begriff 'Demokratie' in der klassisch-kontinentalen Theorie als Identität von Regierenden und Regierten, in der Nachfolge von Samuel Pufendorf und Rousseau definiert wurde. Rousseau dachte bereits Delegationssysteme an, bei denen er allerdings eine ständige Rechenschaftspflicht vorsah. Grundlage hierfür war sein Konzept des Volkswillens, den er als un- veräußerlichen Willen betrachtete.

Im Gegensatz hierzu bildeten sich spätere Demokratie- Theorien (Repräsentanz-Modell, Konkurrenz-Modell), die dem Parlament (de facto in der Realität schon angemaßte) zusätzliche politische Kompetenzen zusprachen und "bescheiden" dem einzelnen Bürger kein permanentes politisches Interesse abgesehen vom Wahlakt zumuten wollten.

Demokratie-Theoretiker des 20. Jahrhunderts entfernten sich noch weiter vom ursprünglichen Konzept. Schumpeter (in dessen Gefolge ein rein funktionalistischer Demokratiebegriff Mode wurde) bestritt überhaupt, daß das Volk in der Lage sei, politische Entscheidungen zu treffen (1950):

"Die Wähler außerhalb des Parlaments müssen die Arbeit- steiligkeit zwischen ihnen selbst und den von ihnen gewählten Politikern respektieren. Sie dürfen diesen zwischen den Wahlen nicht allzuleicht das Vertrauen entziehen und müssen einsehen, daß, wenn sie einmal jemanden gewählt haben, die politische Tätigkeit seine Sache ist und nicht ihre." 3)

Kaltefleiter geht noch einen Schritt weiter (1966):

"Was von Kultur- und Gesellschaftskritikern heute häufig als Wohlstandsmüdigkeit und Sattheit der Wähler gebrandmarkt wird, erweist sich bei politisch-funktionaler Betrachtungsweise als die Voraussetzung parlamentarischer Regierungsweise. Wie immer man die Normen und Verhaltensstandards der deutschen Gesellschaft im einzelnen bewerten mag, die ent- ideologisierten Wähler und ihre Parteien und die damit einhergehende Bereitschaft zum Wechsel der Parteipräferenz ermöglicht erst Demokratie als >Herschaftsauftrag auf Zeit<." 4)

Diese Demokratietheorie wurde in ihrem materiellen Gehalt eine Rechtfertigung von Elitenherrschaft. Kurt Lenk schrieb hierzu: "Denn mit der Ersetzung des Begriffs >Demokratie< durch den Ausdruck >demokratische Methode< ist mehr gemeint als eine neue Nomenklatur: Sie impliziert die Absage an die Vorstellung, wonach Demokratie ein bestimmbares Ziel mit angebbaren normativen Inhalten sein könne. Durch die Auflösung des Demokratiebegriffs in eine Methode einerseits und in einen Prozeß des Miteinander-Konkurrierens andererseits wird eine Bestimmung dessen, was man als demokratisch bezeichnen könnte, von vornherein ausgeschlossen." 5)

Lenk verfällt dabei keinesfalls der scheinbaren Alternative, Diktaturen gegenüber den westlichen parlamentarischen Systemen den Vorzug zu geben und schrieb bereits 1972:

"Das Hauptargument für die Zweckmäßigkeit einer so verstandenen Demokratie gründet sich auf eben diese Versorgung mit allen möglichen Diensten, die nach westlicher Vorstellung nur dann optimal gewährleistet ist, wenn es mindestens zwei miteinander konkurrierende Politiker-Teams und Parteien gibt. Ist diese Konkurrenz aufgrund der historischen Erfahrungen auch einer Einparteiendiktatur vorzuziehen, so ist doch zu fragen, ob damit allein wirklich rechtens von Demokratie die Rede sein kann." 6)

Zudem gab es auch Grundgesetzkommentatoren wie die ansonsten recht unterschiedlich argumentierenden Gerhard Leibholz und Wolfgang Abendroth, die die Praxis des Parlamentarismus (1966) nicht in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz ansahen:

"Von Demokratie kann dann offenbar nicht mehr die Rede sein, wenn das Volk, von dem die Staatsgealt ausgeht, auf die Befugnis beschränkt wird, ihm gegenüber völlig unabhängige >Repräsentanten< zu wählen, denen es, sind sie einmal gewählt, in völliger Passivität die politische Willensbildung überläßt. Durch die Wahl würden dann nur noch deren zurückliegende Entscheidungen oder deren den Wählern unbekannte Pläne für ihr künftiges Verhalten ohne Anspruch auf wirkliche Mitwirkung des Volkes akklamiert. Auch wenn das Volk sich in dieser Weise verhält und wenn reale und sozial-psychologische tendenzen zu dieser Verhaltensweise hindrängen, ist es unzulässig, diese schlechte Realität als durch das Grundgesetz gewollt zu unterstellen und das Grundgesetz nicht von seinem normativen Gehalt, sondern von dieser Realität aus zu interpretieren." 7)

Die Weiterentwicklung oder Sinnentleerung des Demokratiebegriffs schritt jedoch voran, so daß für (den zeitweilig in Freiburg lehrenden) Wilhelm Hennis sich der Unterschied demokratischer von sonstiger politischer Herrschaft allein darin unterscheidet, "daß sich die potentiellen oder aktuellen Regierenden in verfassungsmäßig geregelter Form um die durch Wahl erteilte Zustimmung der Regierten bewerben müssen." 8)

Autoren wie Lipset, Kornhauser, Sartori und Dahrendorf führten nun den Begriff 'demokratische Eliten' ein. Als Schreckgespenst wurde dem der Begriff 'Fundamental- demokratisierung' (Mannheim) gegenübergestellt: die Einebnung früherer Gesellschaftshierarchien und der Niedergang der sie tragenden kulturellen und politischen Eliten, Gleichmacherei und Kollektivismus...

Mehr Erhellung brachten Ansätze von Macuse, Habermas, Offe und Johannes Agnoli, deren gemeinsame Tendenz ist, Demokratie als fortschreitende Aufhebung politischer Herrschaft zu begreifen.

Über das parlamentarisch verfaßte Regierungssystem der BRD war bis in die sechziger Jahre schon viel Kritisches geschrieben worden. Wenn Kritik töten könnte, wäre der Parlamentarismus bis dahin bereits tausende Tode gestorben. Tatsächlich jedoch haben die Formen seiner theoretischen Erledigung die Legitimationsgrundlagen des parlamen- tarischen Systems kaum erschüttert. Ein Großteil der bis dato veröffentlichten Parlamentarismus- und Parteienkritik hatte jedoch den Mangel, daß von einem Idealbild des Parlamentarismus her wie es ihn nie gab, dessen Fehler kritisiert wurden, ohne dabei genauer die Funktion zu analysieren, die der Parlamentarismus nach wie vor erfüllt. Das gleiche galt für die Demokratiediskussion: es läßt sich vom normativen Anspruch des klassischen Demokratiebegriffs her leicht nachweisen, daß weder Gesellschaftsstruktur noch Auswahlprozesse, wie sie sich in allgemeiner Wahl, Kandidatenaufstellung innerhalb der Parteien oder Regierungsbildung aus dem Parlament heraus manifestieren, mit dem übereinstimmen, was einmal der Anspruch von Demokratie gewesen ist. Lenk schreibt 1972 hierzu:

"So richtig und berechtigt es ist, die jeweilige Verfassungs- wirklichkeit an ihrem Anspruch zu messen - vergessen wird dabei oft, daß es Demokratie im klassischen, unverkürzt- utopischen Sinn noch niemals gab, und dies nicht bloß wegen der tatsächlich hierarchisch gebliebenen Struktur des bürgerlichen Rechtsstaats, sondern auch wegen der simplen Tatsache des Ausschlusses der Mehrzahl der Bürger vom politischen Willensbildungsprozeß." 9)

Im Gegensatz zu einer >empirisch-pragmatischen< Demokratiedefinition, wonach Herrschaft ein unaufhebbares Phänomen darstellt, insistierten die genannten linken Kritiker auf einem Demokratiebegriff, der von der Idee der Selbstbestimmung und Emanzipation ausgeht. Deshalb wurde das parlamentarische System der BRD daraufhin untersucht, inwieweit es politische Mitentscheidung und rationale Willensbildung ermöglicht oder verhindert und inwieweit es die Bedürfnisse der Individuen, gemessen am erreichten Stand des technologischen Fortschritts, zu befriedigen vermag.

Eines ihrer besonderen Verdienste war es, aufzuzeigen, welchen entscheidenden Faktor die modernen Massen- parteien darstellten, um die gesetzgeberische Funktion der Parlamente weiter auszuhebeln. Diese sahen sich zunehmend bedrängt durch die Verlagerung der ihnen nach der Verfassung zustehenden Kompetenzen sowohl einerseits in die staatliche Bürokratie als auch in die Führungsspitzen der Parteiapparate. Mit dem Aufkommen organisierter Verbandsinteressen, dem Lobbyistentum, erwuchs ihnen ein zusätzlicher Konkurrent, der sich zunehmend direkt an die Exekutive und an die Ministerialbürokratie wandte, um seine Forderungen durchzusetzen. Dies alles mußte zu einem fortwährenden Funktions- und Bedeutungsverlust der Parlamente führen. Ein Bedeutungsverlust, der sich darin zeigt, daß in den Parlamenten fast ausschließlich nur mehr über anderswo bereits Beschlossenes abgestimmt wird. Die Gesetzesinitiative ging also allmählich zu großen Teilen auf die Exekutive über.

Im folgenden möchte ich die Parlamentarismuskritik Agnolis (1967) näher erläutern:

Agnoli sieht das Parlament gerade als notwendige Bedingung der Stabilisierung bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft in ihrer Spätform, gerade wegen seines Funktionswandels, der nicht einfach ein Funktionsverlust oder gar das Ende des Parlamentarismus war. Was zu Ende ging, ist lediglich eine bestimmte historische Gestalt parlamentarischer Herrschaft, jene nämlich, in der das Bürgertum eine politische Kontrollinstanz und Waffe gegen Fürstenwillkür sah. Demgegenüber besitzt das Parlament kaum noch Kontroll-, sondern primär Legitimierungsfunktion für oligarchisch getroffene Entscheidungen, zu deren allgemeiner Verbindlichkeit das Parlament als Gesetzgebungsinstanz allerdings entscheidend beiträgt:

"Da es das verfassungsmäßig einzige Subjekt der Gesetzgebung ist, überträgt es die Legitimation (aus freien Wahlen hervorgegangen zu sein) auf die gewünschten Regelungen. Hier erweist sich die eigene Ohnmacht als Bedingung einer konkreten Machtfunktion, die für den Bestand des Systems von zentraler bedeutung ist." 10)

"Die >legislative< Volksvertretung ist in Wirklichkeit ein Exekutivorgan, das (...) Richtlinien der Politik von oben nach unten trägt." 11)

"Massen, die demokratischen Gefühlen zuneigen, (sind) am besten durch ein Organ neutralisierbar, das ihnen die Illusion einer Beteiligung an der staatlichen Macht vermittelt. Nicht die gänzliche Abschaffung des Parlaments (macht) den neuen Staat stark, sondern die Verlegung der Entscheidungs- befugnisse vom Parlament in den engeren Kreis nicht öffentlich tagender >Eliten<." 12)

Der historische Sinn der Transformation der Demokratie besteht demnach nicht in der faschistischen und zudem nicht auf Dauer gelungenen Zerschlagung von Parlament und Opposition, sondern in dessen Transformation zu einem Werkzeug der Herrschaft. Und diese Werkzeugfunktion verdankt es nicht seiner Autonomie, sondern der nach wie vor vom Parlament ausgehenden Aura der Demokratie. Denn nur soweit die beherrschten sich in die vorgegebenen Institutionen einfügen, solange also das Parlament die Anerkennung von Seiten der Mehrheit der Bevölkerung genießt, solange kann von einem Ende des Parlamentarismus keine Rede sein.

Während die unkritisch-abstrakte Negation des Parlamentarismus davon ausgeht, daß das Parlament sich in einer bloßen Notariatsfunktion für anderweitig getroffene Entscheidungen erschöpfe, zeigt Agnoli, daß ein derart entleertes Parlament seinen heutigen Funktionen gar nicht nachkommen könnte. Nur wenn der Schein der historisch einmal mit dem Parlament verbundenen Ansprüche nicht lediglich als bloßer Schein erkannt wird und die Ohnmacht des Parlaments zugleich als Bedingung seiner neuen Machtfunktion gesehen wird, kann die Kritik auch wirksam werden.

Was für das Parlament gilt, zeigt Agnoli (1967) analog auch für die europäischen Linksparteien, soweit diese sich in die Parlamente begaben:

"Nicht daß die linke Opposition von ihrer Fundamentalrolle her gesehen für die Massen funktional degeneriert, macht ihre Brauchbarkeit aus; sondern: daß trotz Degeneration der Anspruch aufrechterhalten wird, eine Linke zu sein, und nach wie vor Kräfte zu vertreten, die gesellschaftlich in Opposition zu den etablierten Nutznießern der bestehenden Ordnung stehen. (...) Systemkonform (>staatstragend<) und für die Assimilation interessant ist die parlamentarische Linke nur, wenn es ihr gelingt, einziger (oder einzig bedeutsamer) Kristallisationspunkt aller, selbst der fundamentalen Opposition der Massen, zu sein." 13)

Aber auch hier ist es keineswegs so, daß der Nutzen fürs System sich aus der totalen Anpassung von seiten der parlamentarischen Linken ergäbe: im Gegenteil, eine parlamentarische Linke, die überhaupt nicht mehr als links gelten würde, fände ja gerade nicht ihre Bestimmung, Kristallisationspunkt für oppositionelle Massen zu sein. Doch nur soweit sie dies sein kann, erfüllt sie ihre Funktion zur Erhaltung des parlamentarischen Systems.

Und umgekehrt: Da heute in Deutschland weder SPD, noch Bündnis 90 / Die Grünen, noch PDS eine Glaubwürdigkeit innerhalb des sich als links selbst einschätzenden Teils des Volks verbuchen können, die der der SPD als Linkspartei in den sechziger Jahren noch zugebilligten auch nur nahe kommt, und die demokratische Legitimation der Parteien und der Parlamente und ihre demokratische Aura in den letzten Jahren rasant geschwunden ist, ist die politische Apathie, die "Politikverdrossenheit" und die rasante Abnahme der Wahlbeteiligung der Mehrheit des Volks nicht verwunderlich. Gerade dies kann jedoch umschlagen in eine politische Kraft, die sich neue Wege sucht, die alten, immer noch virulenten Sehnsüchte nach Demokratie selbst zu erfüllen.

 

Anmerkungen

1 Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 25, 1925
2 Archiv für Rechts- und Wissenschaftsphilosophie, Bd. 16,
    1923
3 Schumpeter, J. A. 'Kapitalismus, Sozialismus und
    Demokratie', Bern 1950, S. 468
4 Kaltefleiter, W. 'Wirtschaft und Politik in Deutschland',
    Köln / Opladen 1966, S. 155
5 Lenk, K. 'Wie demokratisch ist der Parlamentarismus ?',
    Kohlhammer 1972, S. 17, 18
6 Ebd., S. 19
7 Abendroth, W. 'Das Grundgesetz', Pfullingen 1966, S. 15
8 Hennis, W. 'Politik als praktische Wissenschaft',
    München 1968, S. 144
9 Lenk, K. 'Wie demokratisch ist der Parlamentarismus ?',
    Kohlhammer 1972, S. 45
10 Agnoli, J. 'Transformation', S. 62
11 Ebd., S. 68
12 Agnoli, J. 'Thesen zur Transformation der Demokratie und
    zur außerparlamentarischen Opposition',
    'neue kritik' Nr. 47, April 1968
13 Agnoli, J. 'Transformation', S. 78

 

Literatur

Abendroth, W. 'Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine
    politischen Probleme', Pfullingen 1966
Agnoli, J. & Brückner, P. 'Die Transformation der Demokratie',
    Berlin 1967
Agnoli, J. 'Thesen zur Transformation der Demokratie und
    zur außerparlamentarischen Opposition',
    'neue kritik' Nr. 47
Archiv für Rechts- und Wissenschaftsphilosophie, Bd. 16,
    1923
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 25, 1925
Dahrendorf, R. 'Gesellschaft und Demokratie in Deutschland',
    München 1965
Hennis, W. 'Politik als praktische Wissenschaft',
    München 1968
Kaltefleiter, W. 'Wirtschaft und Politik in Deutschland.
    Konjunktur als Bestimmungsfaktor des
    Parteiensystems', Köln / Opladen 1966
Lenk, K. 'Wie demokratisch ist der Parlamentarismus ?',
    Kohlhammer 1972
Manheim, K. 'Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des
    Umbaus', Darmstadt 1958
Offe, C. 'Politische Herrschaft und Klassenstruktur',
    in: Kress, G. & Senghaas, D. 'Politikwissenschaft.
    Eine Einführung in ihre Probleme', Frankfurt a.M. 1966
Schumpeter, J. A. 'Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie',
   Bern 1950

 

 

Nachbemerkung

Um im Einzelnen zu analysieren, wie die Interessen von Wirtschaft und Militär die Meinungsbildung (im Sinne von Manipulation - nicht im offenen Sinne) und Beschlußfassung im Parlament bestimmen, ist eine Zusammenfassung der Ergebnisse einer Untersuchung von B. Badura und J. Reese, 'Jungparlamentarier in Bonn - ihre Sozialisation im deutschen Bundestag', 1976, sehr aufschlußreich.

 

Klaus Schramm

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