von Klaus Schramm
Die "Pisa"-Blamage öffnet die Augen für eine grundsätzliche Wende
Wenn ich mir die PISA-Studie anschaue, finde ich vorrangig bemerkenswert, daß sie deutlich aufzeigt, wie extrem die soziale Aufspaltung in Deutschlands Schulen zugeschlagen hat: "Während in Deutschland die Kopplung von sozialer Lage der Herkunftsfamilie und dem Kompetenzerwerb der nachwachsenden Generation ungewöhnlich straff ist, gelingt es in anderen Staaten ganz unterschiedlicher geographischer Lage und kultureller Tradition, trotz ähnlicher Sozialstruktur der Bevölkerung, die Auswirkungen der sozialen Herkunft zu begrenzen. Dies ist in der Regel auf eine erfolgreichere Förderung von Kindern und Jugendlichen aus sozial schwächeren Schichten zurückzuführen. Eine stärkere Entkopplung von sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb muss nicht mit einer Absenkung des Niveaus verbunden sein. Im Gegenteil: Eher deutet sich eine Tendenz an, dass bei einer Verminderung sozialer Disparitäten auch das Gesamtniveau steigt, ohne dass in der Leistungsspitze Einbußen zu verzeichnen wären." (Zitat aus der PISA-Studie)
Kinder aus unteren sozialen Schichten haben kaum noch eine "Bildungs-Chance"; je höher die Klasse (die Nähe zum Abitur), desto geringer ist ihr Anteil und um so - überproportional - höher ist der Anteil von Kindern aus den oberen Schichten. Das ist nichts Neues. Bereits vor einigen Jahren war den Statistiken zu entnehmen, daß zB. der Anteil der Studierenden aus einkommensschwachen Familien drastisch geschrumpft ist: Waren es zu Beginn der 80er Jahre noch 23 Prozent, sank ihr Anteil bis Mitte der 90er Jahre bereits auf 14 Prozent. Aus einem Viertel der Bevölkerung mit dem geringsten Verdienst kamen 1994 nur noch 18 Prozent aller Studien-AnfängerInnen. Aus dem Viertel der Familien mit dem höchsten Netto- Einkommen kamen 55 Prozent aller Erstsemester. Noch deutlicher wird das Bild, wenn sozialversicherungsrechtliche Kategorien zugrunde gelegt werden: Von 100 Arbeiterkindern haben 1993 in den alten Bundesländern nur 15 ein Hochschulstudium aufgenommen, während es im Vergleich dazu 65 von 100 Beamtenkindern waren.
Bemerkenswert ist eigentlich eher, daß in einer Studie mit so großer Publizität, so deutlich gesagt wird, daß
im Hinblick auf die soziale Aufspaltung Deutschland ganz am unteren Ende des Staatenvergleichs zu finden ist. Wie vielen Kindern aus deutschen Arbeiterfamilien ist damit wohl der Aufstieg zum Konzernmanager oder Bundeskanzler verwehrt? Daß ein Bundeskanzler, der sich als "Auto-Mann" und "Kanzler der Bosse" outet, daran nichts ändern will, ist allenfalls bemerkenswert, wenn wir uns seine soziale Herkunft, die er entgegen allen Beteuerungen wohl doch vergessen hat, vergegenwärtigen. Ein Bundeskanzler aus ärmlichen Verhältnissen, der von den heute fast revolutionär anmutenden sozialpolitischen Bedingungen der 60er Jahre profitierte und über den zweiten Bildungsweg zum Jura-Studium gelangte...
Wenn wir uns ausmalen, welche "Ressourcen" damit der Wirtschaft verloren gehen, ist es nicht ganz so verwunderlich, daß nun auch in den oberen Konzernetagen über die Folgen konservativer Bildungspolitik lamentiert wird. Konservativer? Nun, wenn "rot-grün" denn auch als "konservativ" definiert wird. Denn unter der jetzigen Bundesregierung, die ja nichts grundsätzlich anders, sondern nur besser machen will (Wahlkampf-Slogan), setzt sich der Trend ungebrochen fort.
Allerdings geht der soziale Aspekt ein wenig hinter dem Getöse um das schwache Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich unter. Doch auch das ist nichts Neues und vor wenigen Jahren kam bereits die TIMSS-Studie bemerkenswerter Weise zum gleichen Ergebnis. Wer wollte, konnte auch die im Mai 2000 veröffentlichten Zahlen einer anderen OECD-Studie bemerken (Titelseite der Badischen Zeitung v. 17.05.2000), nach der Deutschland unter 19 Staaten im Vergleich der Bildungs- ausgaben (gemessen an den öffentlichen Gesamtausgaben) den letzten Platz belegte.
Zugegeben, die anfangs zitierten Sätze aus der PISA-Studie sind in typischem Akademiker-Kauderwelsch geschrieben. Um es ein bißchen plakativer auszudrücken: Das Leistungsniveau an deutschen Schulen hat deshalb so nachgelassen, damit auch die letzten Dödel aus reichen Familien das Abi packen. Aber ist das so schlimm? Solange Schule als Zwangsanstalt organisiert ist und Kindern systematisch die Freude am Lernen ausgetrieben wird, meine ich: Im Gegenteil!
Durch das niedrigere Anforderungsniveau konnte zB. meine älteste Tochter (in diesem Jahr) wesentlich leichter und streßfreier als ich vor 25 Jahren das Abi erreichen und je geringer der Druck, desto weniger können junge Menschen verbogen werden. Um die deutsche Wirtschaft mache ich mir da ganz frecher Weise gar keine Sorgen. Eine neuerliche Bildungsreform, die nur wiederum den Interessen der Wirtschaft dient, kann wiederum nur auf dem Rücken der Kindern durchgepaukt werden. Die grundsätzliche Wende hin zu einem freiwilligen Lernen und zu einer Abschaffung der Schulpflicht ist längst angesagt.