Jürgen Elsässer sprach mit Wolfgang Pohrt
Vorbemerkung:
"Wolfgang Pohrt ist ein richtiger Chaot, der manchmal
schlimme Sachen schreibt und dennoch oder vielleicht deshalb
Geschichten aufreißt, die wir einfach routinemäßig
plattgesessen haben", urteilt Hermann L. Gremliza. Pohrt
schrieb seit den 80er Jahren für 'konkret' und avancierte nach
der Herausbildung der sogenannten antideutschen Linken zu
Beginn der 90er Jahre zu deren "eigentlichem Vordenker"
(Robert Kurz). Seine während des Golfkrieges 1991 in einem
'konkret'-Artikel geäußerte Hoffnung, Israel möge irakische
Chemieraketen mit Atombomben auf Bagdad vergelten,
provozierte damals einige hundert Abbestellungen. In der
zweiten Hälfte der 90er Jahre publizierte er nur noch selten.
Nach dem 11. September 2001 äußerte er sich bis zum
Oktober 2003 gar nicht mehr. Pohrts letzte
Buchveröffentlichungen: 'Der Weg zur inneren Einheit',
Hamburg 1991 (eine vom Reemtsma-Institut finanzierte Studie
über das deutsche Massenbewußtsein); 'Theorie des
Gebrauchswerts', Berlin 1995 (über Marx’ Werttheorie);
'Brothers In Crime', Berlin 1997 (über den Zerfall der Kapital-
in Bandenherrschaft).
Jetzt erschienen: Wolfgang Pohrt: FAQ. Edition Tiamat, Berlin
2004, 176 Seiten,
14 Euro
Jürgen Elsässer:
'FAQ', also Frequently Asked Questions - häufig gestellte
Fragen, heißt Ihr neues Buch. Die häufigste Frage, die man
über Sie zu hören bekommt, geht ungefähr so: Ist der Pohrt
verrückt geworden? Jahrelang war er von den sogenannten
Antideutschen als ihr Prophet verehrt worden. Aber als die ihn
am 3. Oktober 2003 zu ihrem Geburtstag - oder war es eine
Beerdigung? - einluden, kam er im Möllemann-Kostüm und
jagte den Kids einen gehörigen Schrecken ein. Ist das Ihre
Form von Pädagogik? Schocktherapie für schwererziehbare
Antideutsche?
Wolfgang Pohrt:
Das Publikum therapieren, pädagogisieren, schockieren,
erfreuen oder sonst was - alles nicht mein Job. Schauspieler,
Sänger oder Missionare müssen das, für einen Schreiber ist
der Auftritt absolute Nebensache: Nichts weiter als der Anlaß,
mal wieder einen Text zu machen, und zwar einen, den ich für
richtig und gut halten kann. Was das Publikum von ihm und
von mir hält, ist zunächst zweitrangig.
Aber wenn der Text fertig ist, fängt man natürlich an, sich
Gedanken zu machen. Warum wurde man eingeladen? Was
erwarten die Leute? Welche Rolle wird man spielen? Man spielt
bei solchen Auftritten immer irgendeine Rolle, und man weiß
nie genau, welche. Keiner weiß es vorher, auch der
Veranstalter nicht, erst nachher ist man schlauer. Die Art der
Rolle hängt nämlich von der Phase ab, in der sich eine
Bewegung oder Strömung gerade befindet. Und welche das
ist, kann man eben nur durch so eine Veranstaltung ermitteln.
Das klingt vermutlich alles etwas unverständlich, weshalb ich
es an einem Beispiel illustrieren will. Aus Altersgründen habe
ich schon manche Bewegung kommen und gehen sehen, und
mit der Zeit kriegt man bestimmte Verlaufsmuster heraus. Als
die Friedensbewegung Anfang der 80er Jahre voll im Saft
stand, war ich bei Podiumsdiskussionen der Pausenclown. Man
lud mich ein, weil eine Versammlung ein Objekt braucht, das
sie auslachen und über das sie sich empören kann, wenn die
Leute sich auf die Dauer nicht langweilen sollen. Als es mit der
Friedensbewegung dann langsam zu Ende ging, wurden aus
dem Pausenclown der Feind und aus begeisterter Empörung
Bitterkeit. Und dann kam plötzlich der Punkt, wo ich nur noch
Freunde hatte. Bösartigster und gehässigster Spott über die
Friedensbewegung wurde mit beifälligem Gelächter
aufgenommen.
Ein anderes Beispiel waren die Freunde des bewaffneten
Kampfes. Ebenfalls Anfang der 80er Jahre hatte ich eine
Amnestiekampagne für die RAF-Gefangenen angeleiert: Die
verbliebene RAF soll erklären, daß sie Schluß macht, und der
Staat soll eine Amnestie erlassen. Zu jeder Veranstaltung von
Rote-Hilfe-Gruppen, zu der ich eingeladen war, gehörte die
Frau, die irgendwann unter Tränen losbrüllte, sie könne das
Gelaber von diesem Staatsschutzschwein - damit war ich
gemeint - nicht mehr ertragen. Verrat an den Gefangenen,
Aufforderung zur Kapitulation etc. Es dauerte dann nicht mehr
lange, bis eine Erklärung über die Selbstauflösung der RAF
herauskam.
Mitglieder von Bewegungen oder Strömungen haben, wenn
bislang die Gesinnung sie zusammenhielt, immer das Problem,
wie sie wieder runterkommen von dem Trip, ohne das Gesicht
zu verlieren. Das Problem stellt sich dann, wenn die Leute ihre
eigenen Parolen eigentlich nicht mehr recht glauben mögen
und sie zu mechanisch heruntergeplapperten
Durchhalteparolen geworden sind. Solange die Leute noch mit
sich selber ringen - hier das aus Vorsatz und Pflicht gespeiste
Gewissen, dort die vereinte Kraft von uneingestandenem
Wunsch und Vernunft -, haben sie gern eine andere Person,
mit der sie ringen können. Wenn die Lösung vollzogen ist,
haben sie gern eine Person, die sie in ihrer Entscheidung
bestätigt. Und es muß eine Person sein, an deren Integrität
nicht gezweifelt werden kann, auch wenn man sie als
Staatsschutzschwein oder Antisemiten oder sonst was
beschimpft.
Ich hatte mich also auf zwei Varianten eingestellt: Hysterische
Ablehnung mit unschönen Szenen war die eine, heitere
Zustimmung die andere. Was dann eintrat, war eine dritte
Variante, die ich bislang nicht recht deuten kann. Vielleicht
zeigt sich das erst später.
Wenn ich Sie übrigens noch in einem Punkt korrigieren darf: Es
waren keine "Kids", die im Saal gesessen sind, es sei denn,
man rechnete auch noch die 25- bis 40jährigen zu dieser
Gruppe. Ich würde statt von den "Kids" lieber von den
"jungen Alten" sprechen.
Sie schreiben wie selbstverständlich von "den
Antideutschen". Ist das nicht so, als würde man Kapitalisten
mit ihrer Selbstbezeichnung "Unternehmer" nennen? Wenn
diese Leute für die Kriege der USA Reklame machen,
formulieren sie doch die Position der aggressivsten Teile des
deutschen Militarismus. "Würde die Union den Kanzler stellen,
stünden schon längst deutsche Soldaten im Irak", sagte
Wolfgang Schäuble vor kurzem.
Ich glaube, Sie machen denselben Fehler wie die
Antideutschen, nämlich den, sich an Klischees zu klammern, die
es in der Realität nicht mehr gibt. Ohne es zu wollen,
dementieren Sie doch selber, was Sie behaupten möchten.
Wenn man für amerikanische Kriege Reklame macht, soll das
die Position der aggressivsten Teile des deutschen Militarismus
sein? Das kann eigentlich nur heißen, daß es keinen deutschen
Militarismus mehr gibt.
Er entbehrt auch jeder materiellen Basis. Die Bundeswehr im
Irak wäre von politischem Nutzen, aber nicht für Deutschland,
sondern für die USA. Von militärischem Nutzen wäre sie
allenfalls für den irakischen Widerstand, weil deutsche
Einheiten für ihren Transport und Schutz abgestellte
amerikanische Kräfte binden würden. Wenn die Bundeswehr
irgendwo mitmischt, ist das, wie wenn ein Dreijähriger beim
Kochen hilft: nett gemeint, aber im Hinblick auf Effizienz eher
kontraproduktiv.
Was wäre übrigens außer befriedigtem Abgrenzungsbedürfnis
der Gewinn, wenn eine Gruppe mit verkrampfter Political
Correctness statt von Unternehmern nur noch von Kapitalisten
sprechen würde? Haben solche Sprachregelungen der DDR
genützt? Ich kenne nur einen Nutznießer. Das sind die
Kabarettisten.
Daß der Antisemitismus auch ohne Juden auskommt, ist
mittlerweile eine Allerweltsweisheit. Der "Antisemitismus ohne
Juden", so wird der Gedanke in der Regel fortgeführt, könne
sich an Ersatzobjekte wie Spekulanten oder Israel heften. So
gesehen ist schnell jede Kritik an der Börse oder an Scharon
antisemitisch. Sie aber machen eine neue Gleichung auf und
sprechen von antisemitischen Projektionen, wenn die
US-Machthaber heute den islamischen Fundamentalisten
Welteroberungswünsche, Pläne zum ABC-Waffeneinsatz und
ähnliches unterstellen. Sind also die Moslems die Juden und
die Bushisten die Nazis des 21. Jahrhunderts?
Ich halte es mit Marx, der von sich gesagt hat: "Vor allem bin
ich kein Marxist." Was soll dann erst der Unsinn, an den
Nachnamen nicht eines Marx, sondern eines jeden Heinis die
Nachsilbe -ismus anzukleben und dergestalt den Heini zum
Ideenstifter von epochaler Bedeutung zu befördern? Mit dem
Fordismus fing das an, jetzt geht es mit dem Bushismus
weiter, demnächst dürfen wir in Schröderismus und
Fischerismus promovieren.
Und warum immer im Sturmschritt die Jahrhunderte durcheilen?
Wer was im 21. Jahrhundert gewesen ist, wird man erst in
hundert Jahren wissen. Im Augenblick ist es so, daß die Juden
die Juden sind und die Moslems die Moslems und die Christen
die Christen, und nicht einmal darauf ist Verlaß, denn "Allah ist
groß, aber ein Cadillac ist größer" ist das gemeinsame Credo
aller, man könnte fast von einer ökumenischen Zauberformel
sprechen.
Der deutschen Gesellschaft attestieren Sie Haß auf
Minderheiten. Bedroht sind Ihrer Meinung nach aber nicht
Flüchtlinge, Ausländer und Juden, sondern Rechtsradikale. Die
"Ächtung von Antisemitismus und Rassismus" ist für Sie nicht
das Minimalprogramm der Linken, sondern "das moralische
Korsett" der Herrschenden für den großen Raubzug gegen
Arme, Alte und sonstwie Schutzlose. Haben Sie die neue
EU-Studie über den dramatischen Zuwachs des Antisemitismus
nicht gelesen? Sind 100 Mordopfer der Nazis seit dem
Mauerfall für Sie eine vernachlässigbare Größe?
Stimmt nicht. Den Deutschen attestiere ich, daß ihnen
inzwischen sogar die Kraft dazu fehlt, einen richtigen Haß zu
entwickeln. Den sogenannten Kampf gegen den
Rechtsradikalismus beschreibe ich als ein Spiel, das
geltungssüchtige Politiker und geltungssüchtige Jugendliche
zum beiderseitigen Vergnügen miteinander spielen.
"Ächtung von Antisemitismus und Rassismus" kann kein
Minimalprogramm der Linken sein, wenn man unter
Minimalprogramm das Existenzminimum versteht.
Existenzminimum der Linken muß der Kampf gegen
Ausbeutung und Armut sein. Anderenfalls müßte das Kapital
nur auf Antisemitismus und Rassismus verzichten, und schon
hätte die Linke ihre Existenzberechtigung verloren. So führt sie
sich übrigens derzeit auf.
Zur EU-Studie: Ich finde es drollig, wie ausgerechnet jene
Linken, die früher nicht müde geworden sind, die bürgerliche
Sozialwissenschaft als allerletzten Käse darzustellen, sich
nunmehr mit kindlicher Gläubigkeit auf deren
Untersuchungsergebnisse stürzen, wenn sie ihnen in den
Kram passen, frei nach dem Motto, daß in der Not der Teufel
Fliegen frißt. Hören Sie auf einen gelernten
Sozialwissenschaftler mit einiger Berufserfahrung und glauben
Sie keiner Untersuchung, wenn Sie die Ergebnisse nicht selbst
gefälscht haben.
Und der letzte Punkt, die "100 Mordopfer der Nazis seit dem
Mauerfall": Erinnert mich an die 150 Opfer der
kommunistischen Gewaltherrschaft vor dem Mauerfall, aber an
der Mauer. Oder an die 900 Israelis, die Opfer von
palästinensischen Anschlägen geworden sind. Oder an die
2.000 Palästinenser, die bei Auseinandersetzungen mit
israelischen Sicherheitskräften getötet worden sind. Was soll
das politische Herumwedeln mit den Ergebnissen der
Leichenzählerei bewirken? Ich halte dies morbide Ranking und
Rating für sinnlos, weil es vornehmlich Abstumpfung bewirkt.
Und wenn Sie jeden Halunken einen Nazi nennen, hat das die
gleiche Wirkung.
Am Kampf gegen den Nazimob haben Sie sich Anfang der
90er Jahre publizistisch mit Verve beteiligt. Das sehen Sie wohl
nicht als Fehler, sagen aber, wenn ich Sie richtig verstanden
habe: The times they are a changing. Finden Sie heute
politisches Engagement für Flüchtlinge und gegen Rassismus
überflüssig oder gar falsch? Was ist die Alternative? Zurück
zum Klassenkampf? Oder ab und zu mal ein Bier trinken mit
den Nazikids und denen beibringen, daß nicht Jude oder
Moslem, sondern Kapital und Kanzler ihre Gegner sind?
Es hat kein Kampf stattgefunden, also kann ich mich auch nicht
an einem solchen beteiligt haben. Und meine späte Erkenntnis
ist, daß der von mir so gescholtene Nazimob eigentlich keiner
war, sondern etwas anderes. Merke: Alles, was Nazi ist, ist
mies. Aber nicht alles, was mies ist, ist Nazi. Überhaupt sollte
man sich das Denken in Schablonen etwas abgewöhnen. Nur
deshalb, weil einer Flüchtling ist, muß ich ihn noch lange nicht
ins Herz schließen. Flüchtlinge waren auch die Nazis, die nach
dem Sieg der Alliierten nach Argentinien geflohen sind.
Flüchtlinge waren auch die Hutu-Milizen, als sie auf der Flucht
vor den Rächern des von ihnen begangenen Massenmordes an
den Tutsi gewesen sind.
Zur letzten Frage, der alten "Was tun?" Es wundert mich, daß
Sie als Alternative zur Parole "Für Flüchtlinge, gegen
Rassismus" nur Klassenkampf und Kumpelbier sehen. Findet in
diesem Land keine Verarmung und Verelendung statt? Sind
davon nicht Millionen betroffen? Haben nicht Hunderttausende
dagegen demonstriert, aufgerufen dazu von Organisationen,
deren oberstes Ziel es stets war und ist, jeden
entschlossenen Protest im Keim zu ersticken? Kein
Betätigungsfeld für tatendurstige Linke?