30.04.2004

Interview

Wie wenn ein Dreijähriger
beim Kochen hilft

Jürgen Elsässer sprach mit Wolfgang Pohrt

Vorbemerkung:

"Wolfgang Pohrt ist ein richtiger Chaot, der manchmal schlimme Sachen schreibt und dennoch oder vielleicht deshalb Geschichten aufreißt, die wir einfach routinemäßig plattgesessen haben", urteilt Hermann L. Gremliza. Pohrt schrieb seit den 80er Jahren für 'konkret' und avancierte nach der Herausbildung der sogenannten antideutschen Linken zu Beginn der 90er Jahre zu deren "eigentlichem Vordenker" (Robert Kurz). Seine während des Golfkrieges 1991 in einem 'konkret'-Artikel geäußerte Hoffnung, Israel möge irakische Chemieraketen mit Atombomben auf Bagdad vergelten, provozierte damals einige hundert Abbestellungen. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre publizierte er nur noch selten. Nach dem 11. September 2001 äußerte er sich bis zum Oktober 2003 gar nicht mehr. Pohrts letzte Buchveröffentlichungen: 'Der Weg zur inneren Einheit', Hamburg 1991 (eine vom Reemtsma-Institut finanzierte Studie über das deutsche Massenbewußtsein); 'Theorie des Gebrauchswerts', Berlin 1995 (über Marx’ Werttheorie); 'Brothers In Crime', Berlin 1997 (über den Zerfall der Kapital- in Bandenherrschaft).

Jetzt erschienen: Wolfgang Pohrt: FAQ. Edition Tiamat, Berlin 2004, 176 Seiten, 14 Euro

Jürgen Elsässer:
'FAQ', also Frequently Asked Questions - häufig gestellte Fragen, heißt Ihr neues Buch. Die häufigste Frage, die man über Sie zu hören bekommt, geht ungefähr so: Ist der Pohrt verrückt geworden? Jahrelang war er von den sogenannten Antideutschen als ihr Prophet verehrt worden. Aber als die ihn am 3. Oktober 2003 zu ihrem Geburtstag - oder war es eine Beerdigung? - einluden, kam er im Möllemann-Kostüm und jagte den Kids einen gehörigen Schrecken ein. Ist das Ihre Form von Pädagogik? Schocktherapie für schwererziehbare Antideutsche?

Wolfgang Pohrt:
Das Publikum therapieren, pädagogisieren, schockieren, erfreuen oder sonst was - alles nicht mein Job. Schauspieler, Sänger oder Missionare müssen das, für einen Schreiber ist der Auftritt absolute Nebensache: Nichts weiter als der Anlaß, mal wieder einen Text zu machen, und zwar einen, den ich für richtig und gut halten kann. Was das Publikum von ihm und von mir hält, ist zunächst zweitrangig.

Aber wenn der Text fertig ist, fängt man natürlich an, sich Gedanken zu machen. Warum wurde man eingeladen? Was erwarten die Leute? Welche Rolle wird man spielen? Man spielt bei solchen Auftritten immer irgendeine Rolle, und man weiß nie genau, welche. Keiner weiß es vorher, auch der Veranstalter nicht, erst nachher ist man schlauer. Die Art der Rolle hängt nämlich von der Phase ab, in der sich eine Bewegung oder Strömung gerade befindet. Und welche das ist, kann man eben nur durch so eine Veranstaltung ermitteln.

Das klingt vermutlich alles etwas unverständlich, weshalb ich es an einem Beispiel illustrieren will. Aus Altersgründen habe ich schon manche Bewegung kommen und gehen sehen, und mit der Zeit kriegt man bestimmte Verlaufsmuster heraus. Als die Friedensbewegung Anfang der 80er Jahre voll im Saft stand, war ich bei Podiumsdiskussionen der Pausenclown. Man lud mich ein, weil eine Versammlung ein Objekt braucht, das sie auslachen und über das sie sich empören kann, wenn die Leute sich auf die Dauer nicht langweilen sollen. Als es mit der Friedensbewegung dann langsam zu Ende ging, wurden aus dem Pausenclown der Feind und aus begeisterter Empörung Bitterkeit. Und dann kam plötzlich der Punkt, wo ich nur noch Freunde hatte. Bösartigster und gehässigster Spott über die Friedensbewegung wurde mit beifälligem Gelächter aufgenommen.

Ein anderes Beispiel waren die Freunde des bewaffneten Kampfes. Ebenfalls Anfang der 80er Jahre hatte ich eine Amnestiekampagne für die RAF-Gefangenen angeleiert: Die verbliebene RAF soll erklären, daß sie Schluß macht, und der Staat soll eine Amnestie erlassen. Zu jeder Veranstaltung von Rote-Hilfe-Gruppen, zu der ich eingeladen war, gehörte die Frau, die irgendwann unter Tränen losbrüllte, sie könne das Gelaber von diesem Staatsschutzschwein - damit war ich gemeint - nicht mehr ertragen. Verrat an den Gefangenen, Aufforderung zur Kapitulation etc. Es dauerte dann nicht mehr lange, bis eine Erklärung über die Selbstauflösung der RAF herauskam.

Mitglieder von Bewegungen oder Strömungen haben, wenn bislang die Gesinnung sie zusammenhielt, immer das Problem, wie sie wieder runterkommen von dem Trip, ohne das Gesicht zu verlieren. Das Problem stellt sich dann, wenn die Leute ihre eigenen Parolen eigentlich nicht mehr recht glauben mögen und sie zu mechanisch heruntergeplapperten Durchhalteparolen geworden sind. Solange die Leute noch mit sich selber ringen - hier das aus Vorsatz und Pflicht gespeiste Gewissen, dort die vereinte Kraft von uneingestandenem Wunsch und Vernunft -, haben sie gern eine andere Person, mit der sie ringen können. Wenn die Lösung vollzogen ist, haben sie gern eine Person, die sie in ihrer Entscheidung bestätigt. Und es muß eine Person sein, an deren Integrität nicht gezweifelt werden kann, auch wenn man sie als Staatsschutzschwein oder Antisemiten oder sonst was beschimpft.

Ich hatte mich also auf zwei Varianten eingestellt: Hysterische Ablehnung mit unschönen Szenen war die eine, heitere Zustimmung die andere. Was dann eintrat, war eine dritte Variante, die ich bislang nicht recht deuten kann. Vielleicht zeigt sich das erst später.

Wenn ich Sie übrigens noch in einem Punkt korrigieren darf: Es waren keine "Kids", die im Saal gesessen sind, es sei denn, man rechnete auch noch die 25- bis 40jährigen zu dieser Gruppe. Ich würde statt von den "Kids" lieber von den "jungen Alten" sprechen.

Sie schreiben wie selbstverständlich von "den Antideutschen". Ist das nicht so, als würde man Kapitalisten mit ihrer Selbstbezeichnung "Unternehmer" nennen? Wenn diese Leute für die Kriege der USA Reklame machen, formulieren sie doch die Position der aggressivsten Teile des deutschen Militarismus. "Würde die Union den Kanzler stellen, stünden schon längst deutsche Soldaten im Irak", sagte Wolfgang Schäuble vor kurzem.

Ich glaube, Sie machen denselben Fehler wie die Antideutschen, nämlich den, sich an Klischees zu klammern, die es in der Realität nicht mehr gibt. Ohne es zu wollen, dementieren Sie doch selber, was Sie behaupten möchten. Wenn man für amerikanische Kriege Reklame macht, soll das die Position der aggressivsten Teile des deutschen Militarismus sein? Das kann eigentlich nur heißen, daß es keinen deutschen Militarismus mehr gibt.

Er entbehrt auch jeder materiellen Basis. Die Bundeswehr im Irak wäre von politischem Nutzen, aber nicht für Deutschland, sondern für die USA. Von militärischem Nutzen wäre sie allenfalls für den irakischen Widerstand, weil deutsche Einheiten für ihren Transport und Schutz abgestellte amerikanische Kräfte binden würden. Wenn die Bundeswehr irgendwo mitmischt, ist das, wie wenn ein Dreijähriger beim Kochen hilft: nett gemeint, aber im Hinblick auf Effizienz eher kontraproduktiv.

Was wäre übrigens außer befriedigtem Abgrenzungsbedürfnis der Gewinn, wenn eine Gruppe mit verkrampfter Political Correctness statt von Unternehmern nur noch von Kapitalisten sprechen würde? Haben solche Sprachregelungen der DDR genützt? Ich kenne nur einen Nutznießer. Das sind die Kabarettisten.

Daß der Antisemitismus auch ohne Juden auskommt, ist mittlerweile eine Allerweltsweisheit. Der "Antisemitismus ohne Juden", so wird der Gedanke in der Regel fortgeführt, könne sich an Ersatzobjekte wie Spekulanten oder Israel heften. So gesehen ist schnell jede Kritik an der Börse oder an Scharon antisemitisch. Sie aber machen eine neue Gleichung auf und sprechen von antisemitischen Projektionen, wenn die US-Machthaber heute den islamischen Fundamentalisten Welteroberungswünsche, Pläne zum ABC-Waffeneinsatz und ähnliches unterstellen. Sind also die Moslems die Juden und die Bushisten die Nazis des 21. Jahrhunderts?

Ich halte es mit Marx, der von sich gesagt hat: "Vor allem bin ich kein Marxist." Was soll dann erst der Unsinn, an den Nachnamen nicht eines Marx, sondern eines jeden Heinis die Nachsilbe -ismus anzukleben und dergestalt den Heini zum Ideenstifter von epochaler Bedeutung zu befördern? Mit dem Fordismus fing das an, jetzt geht es mit dem Bushismus weiter, demnächst dürfen wir in Schröderismus und Fischerismus promovieren.

Und warum immer im Sturmschritt die Jahrhunderte durcheilen? Wer was im 21. Jahrhundert gewesen ist, wird man erst in hundert Jahren wissen. Im Augenblick ist es so, daß die Juden die Juden sind und die Moslems die Moslems und die Christen die Christen, und nicht einmal darauf ist Verlaß, denn "Allah ist groß, aber ein Cadillac ist größer" ist das gemeinsame Credo aller, man könnte fast von einer ökumenischen Zauberformel sprechen.

Der deutschen Gesellschaft attestieren Sie Haß auf Minderheiten. Bedroht sind Ihrer Meinung nach aber nicht Flüchtlinge, Ausländer und Juden, sondern Rechtsradikale. Die "Ächtung von Antisemitismus und Rassismus" ist für Sie nicht das Minimalprogramm der Linken, sondern "das moralische Korsett" der Herrschenden für den großen Raubzug gegen Arme, Alte und sonstwie Schutzlose. Haben Sie die neue EU-Studie über den dramatischen Zuwachs des Antisemitismus nicht gelesen? Sind 100 Mordopfer der Nazis seit dem Mauerfall für Sie eine vernachlässigbare Größe?

Stimmt nicht. Den Deutschen attestiere ich, daß ihnen inzwischen sogar die Kraft dazu fehlt, einen richtigen Haß zu entwickeln. Den sogenannten Kampf gegen den Rechtsradikalismus beschreibe ich als ein Spiel, das geltungssüchtige Politiker und geltungssüchtige Jugendliche zum beiderseitigen Vergnügen miteinander spielen.

"Ächtung von Antisemitismus und Rassismus" kann kein Minimalprogramm der Linken sein, wenn man unter Minimalprogramm das Existenzminimum versteht. Existenzminimum der Linken muß der Kampf gegen Ausbeutung und Armut sein. Anderenfalls müßte das Kapital nur auf Antisemitismus und Rassismus verzichten, und schon hätte die Linke ihre Existenzberechtigung verloren. So führt sie sich übrigens derzeit auf.

Zur EU-Studie: Ich finde es drollig, wie ausgerechnet jene Linken, die früher nicht müde geworden sind, die bürgerliche Sozialwissenschaft als allerletzten Käse darzustellen, sich nunmehr mit kindlicher Gläubigkeit auf deren Untersuchungsergebnisse stürzen, wenn sie ihnen in den Kram passen, frei nach dem Motto, daß in der Not der Teufel Fliegen frißt. Hören Sie auf einen gelernten Sozialwissenschaftler mit einiger Berufserfahrung und glauben Sie keiner Untersuchung, wenn Sie die Ergebnisse nicht selbst gefälscht haben.

Und der letzte Punkt, die "100 Mordopfer der Nazis seit dem Mauerfall": Erinnert mich an die 150 Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft vor dem Mauerfall, aber an der Mauer. Oder an die 900 Israelis, die Opfer von palästinensischen Anschlägen geworden sind. Oder an die 2.000 Palästinenser, die bei Auseinandersetzungen mit israelischen Sicherheitskräften getötet worden sind. Was soll das politische Herumwedeln mit den Ergebnissen der Leichenzählerei bewirken? Ich halte dies morbide Ranking und Rating für sinnlos, weil es vornehmlich Abstumpfung bewirkt. Und wenn Sie jeden Halunken einen Nazi nennen, hat das die gleiche Wirkung.

Am Kampf gegen den Nazimob haben Sie sich Anfang der 90er Jahre publizistisch mit Verve beteiligt. Das sehen Sie wohl nicht als Fehler, sagen aber, wenn ich Sie richtig verstanden habe: The times they are a changing. Finden Sie heute politisches Engagement für Flüchtlinge und gegen Rassismus überflüssig oder gar falsch? Was ist die Alternative? Zurück zum Klassenkampf? Oder ab und zu mal ein Bier trinken mit den Nazikids und denen beibringen, daß nicht Jude oder Moslem, sondern Kapital und Kanzler ihre Gegner sind?

Es hat kein Kampf stattgefunden, also kann ich mich auch nicht an einem solchen beteiligt haben. Und meine späte Erkenntnis ist, daß der von mir so gescholtene Nazimob eigentlich keiner war, sondern etwas anderes. Merke: Alles, was Nazi ist, ist mies. Aber nicht alles, was mies ist, ist Nazi. Überhaupt sollte man sich das Denken in Schablonen etwas abgewöhnen. Nur deshalb, weil einer Flüchtling ist, muß ich ihn noch lange nicht ins Herz schließen. Flüchtlinge waren auch die Nazis, die nach dem Sieg der Alliierten nach Argentinien geflohen sind. Flüchtlinge waren auch die Hutu-Milizen, als sie auf der Flucht vor den Rächern des von ihnen begangenen Massenmordes an den Tutsi gewesen sind.

Zur letzten Frage, der alten "Was tun?" Es wundert mich, daß Sie als Alternative zur Parole "Für Flüchtlinge, gegen Rassismus" nur Klassenkampf und Kumpelbier sehen. Findet in diesem Land keine Verarmung und Verelendung statt? Sind davon nicht Millionen betroffen? Haben nicht Hunderttausende dagegen demonstriert, aufgerufen dazu von Organisationen, deren oberstes Ziel es stets war und ist, jeden entschlossenen Protest im Keim zu ersticken? Kein Betätigungsfeld für tatendurstige Linke?

 

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