Wegen der Mininuke-Rüstung der USA wächst die Gefahr eines Atomkriegs -
Die internationale Friedensbewegung muss dagegen Zeichen setzen
Obwohl die internationale Friedensbewegung am 15. Februar vor einem Jahr in
nie zuvor erreichten Massen in allen fünf Kontinenten protestiert hat, hatte
sie nicht die Macht, den längst gewollten Irak-Krieg zu verhindern. Die
Prognose der Friedensbewegung lautete: Der Irak-Krieg wird den Terrorismus
nicht, wie uns versprochen wird, besiegen. Er wird ihn furchtbar
verschlimmern. Das hat sich zuerst in Irak und nun auf besonders tragische
Weise in Spanien bestätigt. Es ist ein Anlass, die Opfer in Madrid zu
betrauern und den Verletzten mit Genesungswünschen zur Seite zu stehen. Die
Brutalität gegen Hunderte von Zivilisten ist unentschuldbar. Es sollte aber
auch nicht vergessen werden, dass im Irak mehr als 10.000 Zivilisten dafür
sterben mussten, dass amerikanisches Militär die Welt vor einer
militärischen Bedrohung befreien sollte, die es gar nicht gab.
Die Friedensbewegung hat nun die Chance, eine andere Macht in den Völkern
zur Geltung zu bringen, nämlich die moralische Widerstandskraft gegen die
Unterordnung unter eine auf nukleare Erpressung gestützte Hegemonie. Vor
wenigen Wochen hat der US-Präsident den Gesetzentwurf für den Bau einer
vierten Generation kleiner Atomwaffen und für eine beschleunigte
Bereitstellung des Atomtest-Geländes in Nevada unterschrieben. 6,3
Milliarden Dollar hat der US-Kongress allein für nuklearrüstungsbezogene
Ausgaben für 2004 bewilligt. Nirgends gab es darüber Aufregung. Kürzlich
wurde der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, Mohammed al-Baradei,
vom Spiegel gefragt: "Wann war die Gefahr eines Atomkrieges am größten?"
Seine Antwort: "Gerade jetzt!" Das stand in allen Zeitungen. Jeder wusste:
Der diese Warnung aussprach, ist momentan der bestinformierte Experte. Aber
es kam kein Aufschrei. Es ist, als wolle niemand, dass schlafende Hunde
geweckt werden.
Narzisstische Überheblichkeit
Natürlich macht es Angst, über die 30.000 nuklearen Sprengköpfe
nachzudenken, die immer noch zum vielmillionenfachen Töten bereitliegen. Und
die Friedensbewegung verschafft sich keine besondere Sympathie, wenn sie wie
al-Baradei dieses Thema aufrührt. Aber es gilt zu begreifen: Die
Sicherheitsstrategie des Pentagon besagt, dass die USA demnächst praktisch
in der Lage sein wollen, unter dem Schutz eines Raketenabwehr-Schildes den
Rest der Welt nach Belieben nuklear erpressen zu können. Freilich ist das
eine Fehlrechnung. Denn der 11. September und die endlose Gewaltkette in
Israel/Palästina beweisen: Keine noch so gewaltige Übermacht hebt die
Verletzbarkeit durch terroristische Gegengewalt auf. Tadatoshi Akiba, der
Bürgermeister von Hiroshima, sagt von den Amerikanern, sie huldigten ihren
Atomwaffen wie einem Gott. Aber sie sind darin sicher, dass es ihr Gott ist,
der sich ihnen mit diesen Waffen zur Verfügung anbietet. Bush 2003: "Als
gesegnetes Land sind wir dazu berufen, die Welt besser zu machen." Man hat
ihnen also seit langem eine narzisstische Überheblichkeit eingeimpft, die
ihnen jede Selbstrechtfertigung als Zumutung erscheinen lässt.
Dass sich Präsident Bush von höchster Instanz berufen glaubt, das Böse auf
der Welt auszutilgen, ist ohnehin offenkundig. Ebenso unverkennbar ist, dass
dieser Erwähltheitswahn ihn vor dem Entsetzen über die zivilen Opfer des
Irak-Krieges und den dort angeheizten neuen Terror bewahrt.
Radikale Umbesinnung nötig
Nach diesem Reinfall ist nun für die vielen Millionen Gegner der Kreuzzugs-
und Atomwaffenpolitik die Chance da, eine radikale Umbesinnung anzustoßen.
So wie Israel und Palästina in der unentrinnbaren Abhängigkeit voneinander
nur eine gemeinsame Sicherheit finden können, so muss die internationale
Friedensbewegung ihre Hauptanstrengung auf den Kampf für die generelle
Anerkennung eben dieses Prinzips richten und auf die Herausforderung Madrid
mit der Demonstration eines über alle Grenzen hinweg vernehmbaren großen
gemeinsamen Friedenswillens reagieren.
Die Friedensbewegung will, dass uns die Atomrüstung endlich wieder fühlbar,
d. h. unerträglich wird. Deshalb hat sich ein großer Kreis von deutschen
Friedensorganisationen zusammen mit Attac Deutschland verabredet, am 20.
März, das ist der Internationale Friedensaktionstag, zu dem Atomwaffenlager
Ramstein in der Pfalz zu marschieren. Es ist der Jahrestag des
Irak-Krieg-Beginns. In Ramstein lagert noch der Hauptteil der 65 Atombomben,
die Deutschland verbotenerweise von den USA zur hiesigen Hortung übernommen
hat. Verbotenerweise, denn im Atomwaffensperrvertrag von 1970, den die
Bundesrepublik 1975 ratifiziert hat, steht in Artikel II ausdrücklich:
"Jeder Nichtkernwaffenstaat verpflichtet sich, Kernwaffen von niemandem
unmittelbar oder mittelbar anzunehmen."
Die Bomben gehören den USA. Wenn ihr Einsatz in Frage käme, dann nur durch
Entscheidung der Amerikaner, die im Ernstfall dafür genauso wenig um
Erlaubnis bitten würden wie beim Start der US-Bomber von deutschem Boden aus
im Irak-Krieg. Ein potenzieller Gegner müsste also bestrebt sein, die
hiesigen Atombomben präventiv auszuschalten. Das heißt, die Menschen hier
befinden sich durch die deponierten B61-11- Atombomben in einer permanenten
Geiselhaft. Das ist so unerträglich, dass niemand daran denken möchte. Das
erinnert an das Verhalten von kleinen Kindern, die beim Versteckspielen die
Augen in der Hoffnung schließen, dadurch unentdeckt zu bleiben.
Das nennen wir in der Psychoanalyse Verdrängung. Diese Verdrängung ist
verständlich, aber sie ist unwürdig, feige und obendrein lebensgefährlich.
Deshalb steht der Protestmarsch zu dem Atomwaffenlager Ramstein am 20. März
unter dem Motto: "Stillhalten ist tödlich!"
Horst-Eberhard Richter
Anmerkung:
Für Samstag, 20. März, an dem sich der Beginn des Irak-Kriegs
zum ersten Mal jährte, hatte Richter maßgeblich einen Protestmarsch zur
US-Airbase und dem US-Atomwaffenlager Ramstein (ab Landstuhl /
Rheinland-Pfalz) vorbereitet.
Zu den UnterzeichnerInnen des Aufrufs gehörten z. B. Günter Grass, Manfred
Krug, Senta Berger und Sir Peter Ustinov.
Quelle: www.ippnw.de/ramstein
Zur Person
Der 80-jährige Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter ist einer
der führenden Vertreter der deutschen Friedensbewegung. Er gründete 1981 die
deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs
(IPPNW), die 1985 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden. Als
Psychoanalytiker lehrte Richter seit 1962 in Gießen und baute dort das
Zentrum für Psychosomatik auf. Von 1992 leitete er mehr als zehn Jahre lang
das Frankfurter Sigmund-Freud-Institut.