JEREMY RIFKIN
ANFRAGE AN DIE DEUTSCHEN
Jeremy Rifkin, Gentechnik-Kritiker, spiritus rector der US-Grünen, Schriftsteller und Mensch jüdischer Abstammung empfiehlt den Deutschen unbedingt eine Leitkultur.
"Eines Tages werden wir erkennen, daß die oberste Pflicht, die unvermeidliche Pflicht guter Bürger, darin besteht, ihr Blut der Nachwelt zu hinterlassen; und daß es uns nicht darum gehen kann, die Fortpflanzung von Bürgern des falschen Typs zu erlauben. Das große Problem der Zivilisation besteht darin, einen relativen Zuwachs der wertvollen und nicht der weniger wertvollen oder gar schädlichen Elemente in der Bevölkerung sicherzustellen ... Dieses Problem können wir nur bewältigen, wenn wir dem immensen Einfluß der Erbanlagen Rechnung tragen ... Ich wünschte, man könnte die ungeeigneten Menschen davon abhalten, sich fortzupflanzen; und wenn der böse Charakter dieser Menschen allzu eklatant ist, sollte dies unbedingt möglich sein. Kriminelle sollten sterilisiert werden, und Minderbegabten sollte verboten werden, Nachkommen zu hinterlassen ... Wir sollten dafür sorgen, daß sich vor allem die geeigneten Menschen fortpflanzen."
Von wem stammen diese Worte? Von Adolf Hitler? Nein. Sie stammen von Theodore Roosevelt, dem sechs- undzwanzigsten Präsidenten der Vereinigten Staaten.
In den letzten Wochen, während in Deutschland die Debatte über eine Rückbesinnung auf die deutsche Kultur und nationale Identität eskalierte, habe ich oft an Roosevelts Worte denken müssen. Einige haben in dieser Debatte offen von einer deutschen Leitkultur gesprochen. Andere fürchten, daß dieser Begriff den Weg bereiten könnte für die Wiederkehr der Idee einer überlegenen deutschen Kultur und für neue faschistische Bewegungen, denen es darum geht, Einwanderer und andere Minderheiten zu verfolgen und einen neuen nationalistischen Kreuzzug zu beginnen. Die Schande des Holocaust hängt seit mehr als fünfzig Jahren über Deutschland, und während dieser Zeit ist die Frage nach den Wurzeln der deutschen Kultur und Identität unter den Teppich gekehrt worden.
Die vorherrschende Meinung zu diesen Problemen verkündet, daß das neue Deutschland mit der Verfassung von 1949 geboren wurde und daß dieses Deutschland allein von den Gesetzen und der Logik des Marktes zusammengehalten werden kann. Die Strafe für den Holocaust bestand darin, daß die Deutschen sich kollektiv dazu entschlossen, die Idee einer deutschen Kultur zu meiden. Es ist vermutlich nicht unfair zu sagen, daß die "neuen Deutschen" in der Illusion leben, sie seien ein Volk mit einer ökonomischen Zukunft, aber ohne eine kulturelle Vergangenheit. Diese Sichtweise wirft allerdings eine grundlegende Frage auf. Kann ein Volk wirklich als eine Gesellschaft existieren, die sich nur eine politische und wirtschaftliche Identität zugesteht? Muß eine Rückbesinnung auf die deutsche Kultur automatisch die Entstehung eines radikalen Nationalismus zur Folge haben? Ist Deutschlands schreckliche Vergangenheit wirklich so einmalig, daß sie weiterhin als Einzelerscheinung innerhalb der Weltgeschichte behandelt werden sollte?
Wir haben uns in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu glauben angewöhnt, daß wirtschaftliche Beziehungen und politische Abkommen von primärer Bedeutung sind, während die Kultur als ein sekundärer Bereich gilt, der für grundlegende menschliche Bedürfnisse und Hoffnungen immer unwichtiger wird. Diese Sicht der Dinge ist in Deutschland besonders verbreitet. Wer dieser Doktrin gefolgt ist hat allerdings die wichtigste Lektion des Holocaust nicht gelernt.
Erinnern wir uns daran, daß in den zwanziger Jahren deutsche Sozialisten, die der materialistischen Tradition der orthodoxen marxistischen Ideologie folgten, ihren Landsleuten eine rein ökonomische Analyse der wirtschaftlichen Misere anboten, weil sie davon überzeugt waren, daß ein aufgeklärtes Eigeninteresse sich durchsetzen und der Sozialismus triumphieren würde. Demgegenüber appellierte Adolf Hitler an viel tiefer reichende Impulse. Er hatte, vielleicht bewußt, vielleicht unbewußt, erkannt, daß in Krisenzeiten ökonomische Appelle wertlos sind, wenn man sie nicht kulturell verpackt. Dies hat damit zu tun, daß unsere kulturelle Identität immer primär und grundlegend, unsere politische und wirtschaftliche Identität hingegen immer sekundär und abgeleitet ist. Mit anderen Worten: In der realen Welt geht nicht die Wirtschaft der Kultur, sondern die Kultur der Wirtschaft voraus. Kultur ist die tiefverwurzelte Sphäre, in der die kollektive Identität eines Volkes geschmiedet und Vorstellungen von der Bestimmung, Bedeutung und Existenz des Menschen begründet werden.
Hitler hat zunächst einen wirksamen Mythos der teutonischen Vergangenheit und rassischen Überlegenheit der Deutschen geschaffen und erst dann ein wirtschaftliches und politisches Programm entworfen, das zu diesem Mythos paßte. Er vermittelte den Deutschen ein aufwühlend neues Gefühl ihrer historischen Bestimmung und gab damit einem besiegten Volk eine kollektive Identität zurück. Auf diese Weise konnten die Sozialisten und Gewerkschafter leicht überrumpelt werden. Die Deutschen haben sich seitdem mit der Frage gequält, ob Hitlers Aufstieg unvermeidlich gewesen ist.
Gibt es etwas in der deutschen Geschichte, das diese spezifische Kultur dazu veranlaßt hat, sich in die unbezweifelbar systematischste und ausdauerndste Kampagne des Bösen in der modernen Geschichte zu verstricken? Wenn dies der Fall ist, sollte man die Idee einer Rückbesinnung auf die deutsche Kultur tatsächlich fürchten und bekämpfen und die deutsche Identität lieber verkümmern lassen. Wenn allerdings die schrecklichen Ereignisse des Dritten Reichs auch anderswo hätten stattfinden können, müssen wir alle die sogenannte deutsche Frage gründlich überdenken.
Im Jahr 1967 hatte ich gerade meinen Abschluß an der Universität gemacht und mich entschlossen, Europa kennenzulernen. In Deutschland besuchte ich das Konzentrationslager in Dachau. Dieser Besuch wurde zu einem Wendepunkt in meinem Leben. Als Jude war ich mit Berichten über den Holocaust aufgewachsen. Meine Eltern weigerten sich, Deutschland zu besuchen, und sie kauften nicht einmal deutsche Produkte. Dennoch war ich nicht vorbereitet auf das, was mich im Todeslager von Dachau erwartete. Ich fragte mich, wie ein zivilisiertes Volk solche Greueltaten hatte begehen können. An den folgenden Tagen meines Aufenthalts in Deutschland probierte ich eine Art Gedankenspiel aus: Ich blickte in die Augen jedes Deutschen, der mir alt genug schien, um in irgendeiner Weise am Dritten Reich beteiligt gewesen zu sein, und suchte in diesen Augen nach einem Zeichen dafür, wer diese Deutschen eigentlich waren.
Als ich in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, tobte der Vietnamkrieg, und die öffentliche Meinung über diesen Konflikt war gespalten. Wie viele meiner Generation war auch ich gegen diesen Krieg, weil er mir als Verrat an all dem erschien, was Amerika in der Welt repräsentierte. Nun begannen linke Aktivisten, die amerikanische Kultur an sich anzuprangern, indem sie sagten, daß unsere Geschichte eher Anlaß zu Scham als zu Stolz gebe. Mir war natürlich bewußt, daß die amerikanische Geschichte Licht- und Schattenseiten hat. Wir waren eine Zuflucht für Menschen aus der ganzen Welt, und Amerika leuchtete all denen, die Freiheit und Demokratie suchten. Wir hatten aber auch Millionen von Afrikanern versklavt und einen hundert Jahre währenden Völkermord an den indianischen Ureinwohnern begangen. Trotz alldem war aber bis zum Vietnamkrieg das Versprechen Amerikas noch stark genug, um die Zweifel angesichts der dunklen Seiten unserer Geschichte zu beschwichtigen. In der Zeit des Vietnamkrieges - von den späten sechziger bis zur Mitte der siebziger Jahre - begann ich, mich gründlicher mit der amerikanischen Geschichte zu beschäftigen. Was ich in dieser Zeit entdeckte, erschütterte mein Verhältnis zu meiner Heimat und zwang mich, die Ereignisse im Deutschland der dreißiger, und vierziger Jahre zu überdenken.
Theodore Roosevelts Worte stellen keinen Ausrutscher dar, sondern sind Teil einer Geschichte, die sich in Amerika zwischen 1890 und 1932 abgespielt hat. Von der Jahrhundertwende bis zur Zeit der großen Wirtschaftskrise gab es in Amerika eine starke eugenische Bewegung. Diese entstand, als viele Amerikaner durch die steigenden Einwanderungszahlen beunruhigt waren und sich nicht in der Lage sahen, Lösungen für die eskalierenden Probleme der Armut, Kriminalität und sozialen Unruhen zu finden.
Die eugenische Bewegung wurde von der ersten großen Einwanderungswelle in den 1890er Jahren befördert, die die städtischen Slums anwachsen und eine militante Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung entstehen ließ. Ihren Höhepunkt erreichte die Eugenik in Amerika in der eisigen isolationis- tischen Atmosphäre nach dem Ersten Weltkrieg, in der es auch zu der ersten großen Welle der Kommunistenverfolgung kam.
In dieser Zeit formierte sich eine aktive Allianz aus den alteingesessenen Familien und Akademikern und Fachleuten der Mittelklasse, um das Programm einer eugenischen Politik voranzutreiben: Die weiße angelsächsische protestantische Elite Amerikas verfiel in paranoide Ängste, weil sie an den Schaltstellen des Landes deutlich an Einfluß verlor. Zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten wurde die Vormacht dieser Elite von Iren, Juden, Italienern und anderen Immigranten nachhaltig in Frage gestellt, weil diese den amerikanischen Traum auch für sich in Anspruch nahmen. Die Grundannahmen der eugenischen Bewegung - die Überzeugung, daß die Abstammung und nicht die Umgebung das Verhalten von Menschen bestimmt - ermöglichten es den Reformern, die Einwanderer für die Mißstände in der amerikanischen Gesellschaft verantwortlich zu machen. Führende amerikanische Genetiker bildeten die Speerspitze der frühen eugenischen Bewegung; tatsächlich war fast die Hälfte der amerikanischen Genetiker in irgendeiner Weise an der Bewegung beteiligt. Viele von ihnen zeigten sich alarmiert angesichts einer ihrer Auffassung nach "sinkenden Qualität des Erbmaterials des amerikanischen Volkes".
Die Sterilisierung war für die Eugeniker dabei das wichtigste Instrument ihrer Bemühungen, das amerikanische Volk von biologisch minderwertigem Erbmaterial zu befreien. Ihre unermüdliche Kampagne hatte schließlich Erfolg. Bis zum Jahr 1931 wurden in dreißig Staaten Sterilisationsgesetze verabschiedet, und Zehntausende von Amerikanern waren bereits auf chirurgischem Weg "korrigiert" worden. Zum größten Triumph der eugenischen Bewegung kam es nach dem Ersten Weltkrieg, als die Kampagne für ein Einwanderungsgesetz auf eugenischer Grundlage von Erfolg gekrönt wurde. Dieses Gesetz wurde 1924 verabschiedet, war bis 1965 gültig und veränderte die gesamte ethnische und rassische Verfassung der Vereinigten Staaten auf der Grundlage der Ideologie der Eugenik.
Die Debatte im Kongreß bezeugte daß die eugenische Bewegung das ganze Land ergriffen hatte. Ein Abgeordneter teilte seinen Kollegen mit, daß "der Hauptgrund für die Eindämmung des Stroms von Fremden in der Notwendigkeit liegt, Amerika zu reinigen und amerikanisches Blut rein zu erhalten". Ein anderer warnte davor, daß "Amerika aus ähnlichen Gründen wie Rom zugrunde gehen" würde. "Auch Rom hat an die Mischung der Rassen geglaubt. Genau wie wir setzte es sich über die eisernen Gesetze der Abstammung hinweg. Es verlor, ähnlich wie wir, seinen Instinkt für die Erhaltung der eigenen Rasse." Thomas V. Phillips aus Pennsylvania, verkündete schließlich: "Wir wissen, wie gefährlich es ist, bösartige oder störrische Tiere einzuführen, und verbessern statt dessen unsere heimischen Rassen durch die intelligente und sorgfältige Kreuzung mit fremden Rassen ... In der gleichen Weise müssen wir rechtliche Kontrollmöglichkeiten einführen, damit wir unsere Einwanderer sorgfältig auswählen und damit die drohende Entartung unserer Bevölkerung verhindern können." Das neue Einwanderungsgesetz wurde im Kongreß mit nur 35 republikanischen und 36 demokratischen Gegenstimmen beschlossen.
Im Jahr 1925 wandten sich deutsche Funktionäre an die Regierungen der Bundesstaaten der Vereinigten Staaten, um sich über die amerikanischen Sterilisationsgesetze zu informieren. Einer der führenden deutschen Befürworter der Eugenik schrieb zu jener Zeit: "Was wir Rassenhygieniker fordern, ist keineswegs neu. In einer Kulturnation ersten Ranges, in den Vereinigten Staaten von Amerika, wurde schon vor längerer Zeit eingeführt, was wir in Deutschland anstreben. Die Sache ist völlig klar und einfach." Während die deutschen Eugeniker Berichte über die Sterilisationsgesetze in Amerika lasen, erschien die erste gedruckte Ausgabe von "Mein Kampf". In diesem Buch verkündete Hitler: "Die Vermischung hoher und niederer Rassen verstößt eindeutig gegen die Regeln der Natur und trägt zur Vernichtung der höheren arischen Rasse bei ... Wann immer arisches Blut mit dem niederer Völker vermischt wurde, hatte dies das Aussterben der Hüter der Kultur zur Folge."
Am 14. Juli des Jahres 1933 erließ Hitler das Gesetz "zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", ein Sterilisations- gesetz, das den ersten Schritt zu einem Programm der Masseneugenik darstellte, mit dem in den folgenden Jahren Millionen von Menschen ums Leben gebracht werden sollten. Angesichts von Hitlers ehrgeizigen eugenischen Maßnahmen ließen amerikanische Eugeniker verlauten, Deutschland "entwickele eine Politik, die sich in Übereinstimmung mit den qualifiziertesten Ideen der Eugeniker in allen zivilisierten Ländern" befinde.
Daß die Eugenik-Hysterie in Amerika niemals zu einem Holocaust führte, hat vermutlich damit zu tun, daß die historische Erfahrung der Amerikaner durch die Idee geprägt ist, den Verfolgten der Welt eine Zuflucht bieten zu können. So heißt es in der Inschrift auf der Freiheitsstatue: "Bringt mir Eure Müden, Eure Armen, Eure wimmelnden Massen, damit sie wieder frei atmen können." Es waren diese "wimmelnden Massen", die Franklin Delano Roosevelt - nicht zu verwechseln mit Theodore Roosevelt - in den Präsidentschaftswahlen des Jahres 1932 zum Sieg verholfen haben. Franklin Roosevelt wurde damit zum Helden der mißhandelten und entrechteten Massen, der Millionen von Einwanderern, die gerade das Ufer des amerikanischen Kontinents betreten hatten. Letztendlich war also unsere Einwanderungstradition ein stärkeres kulturelles Symbol als unsere eugenischen Tiraden.
Was können wir aus dieser amerikanischen Erfahrung lernen? Zunächst: die Eugenik und die Ideen einer überlegenen Rasse sind nichts genuin Deutsches. Zudem läßt sich folgern, daß jede Kultur ihre Schattenseiten hat. Man kann also nicht einfach sagen, daß die deutsche Kultur auf einzigartige Weise dazu bestimmt war, sich in Greueltaten zu verstricken. Indem sie ihre kulturelle Vergangenheit verstecken oder ignorieren, berauben sich die Deutschen heute der Möglichkeit, jene Aspekte ihrer Kultur zu entdecken, die die Vision einer menschlicheren Zivilisation vermitteln könnten.
Angesichts immer stärkerer Einwanderungsbewegungen, einer sinkenden Geburtenrate, der Aufnahme neuer Mitglieder in die Europäische Union sowie den Folgen der Globalisierung und einer grenzenlos gewordenen elektronischen Welt ist es verständlich, daß auch viele Deutsche nervös, verängstigt und unsicher in die Zukunft sehen und fürchten, von den weltweit zu beobachtenden enormen Veränderungen aus der Bahn geworfen zu werden. In dieser Lage gibt es für mich eine unumstößliche Wahrheit: Kultur ist in unruhigen Zeiten so wichtig wie nie zuvor. Wir suchen nämlich nach verläßlichen kulturellen Richtwerten in einer Welt, in der alles um uns herum immer unbestimmter und vorläufiger zu werden scheint. Sollten die Deutschen weiterhin entweder ihr kulturelles Erbe verachten oder den Mythos einer deutschen Überlegenheit wiederbeleben, so wird es gravierende Schwierigkeiten geben. Der erste von diesen beiden Wegen wird nämlich in Nihilismus und Selbstzerstörung aller münden, während der zweite eine möglicherweise bedrohliche Wiederholung dessen heraufbeschwören wird, was im Dritten Reich geschah.
Die Probleme, mit denen Deutschland zur Zeit ringt, betreffen auch alle anderen Länder in dieser neuen, grenzenlosen Ära: Es geht darum, kulturelle Eigenarten in einer globalisierten Welt zu erhalten. Viele Befürworter der Globalisierung sind der Überzeugung, daß lokale Kulturen ihre Bedeutung verloren haben und lediglich dem weltweiten Handel im Wege stehen. Leider wird vielfach vermutet, kommerzielle Beziehungen reichten aus, um Menschen und Völker zusammenzuhalten. Diesen Anhängern der Globalisierung entgeht, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt und daß innere Werte, die allein in der Kultur entstehen können, letztendlich immer stärker sind als die utilitaristischen Werte, von denen die Wirtschaft angetrieben wird. Zugespitzt formuliert: Ohne Kultur kann kein Handel getrieben werden. Im kulturellen Bereich entstehen nämlich jene Verhaltensregeln und Codes, entsteht also jenes soziale Kapital, ohne das Handel nicht möglich wäre. Es gibt in der Geschichte kein einziges Beispiel dafür, daß Menschen zuerst wirtschaftliche und erst danach kulturelle Beziehungen etabliert haben. An welchen Regeln könnte sich diese Förderung der kulturellen Vielfalt als zentraler Bedingung menschlichen Lebens orientieren sei es nun in Deutschland, den Vereinigten Staaten oder in einem anderen Land? Hier gilt vor allem: Kulturen sind lebendig. Sie bedürfen der regelmäßigen Stärkung durch Ideen von außerhalb, wenn sie lebendig bleiben sollen. Aus diesem Grund ist die Einwanderung ein so vitaler und notwendiger Faktor. Einwanderung liefert die Rohstoffe für das Gedeihen kultureller Vielfalt. Ohne stetigen Zustrom würden Kulturen bald austrocknen und verkümmern. Zudem ist Kultur etwas, das niemandem gehört. Sie kann nicht erworben und besessen werden. Kultur stellt vielmehr jenen Freiraum bereit, in dem Menschen spielerisch agieren können, in dem wir uns freuen und unsere Menschlichkeit durch Anteilnahme am Leben anderer entdecken können. Kultur stellt die höchste Form menschlicher Interaktion dar und sollte daher besser gefeiert als verteidigt, besser geteilt als aufgezwungen werden.
Viele Deutsche fürchten, daß ein wiederauflebendes Interesse an der deutschen Kultur notwendigerweise Fremden- feindlichkeit und eine ultranationalistische Gesinnung heraufbeschwören wird. Doch dies muß nicht der Fall sein. Denn wenn Menschen überall auf der Welt ihre eigenen kulturellen Ressourcen und die anderer als Geschenk begreifen, das man anderen Menschen machen kann, könnten die großen Migrationsbewegungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts sogar dazu beitragen, die menschliche Gesellschaft zu befruchten, und vielleicht eine zweite Renaissance hervorbringen.
(aus dem Amerikanischen von Julika Griem)
Jeremy Rifkins jüngste Veröffentlichungen sind die Bücher "Access: Das Verschwinden des Eigentums" (Campus, 2000) und "Das biotechnische Zeitalter. Die Geschäfte mit der Genetik" (Bertelsmann, 1998). Er zählt zu den geistigen Vätern der grünen Bewegung in den USA.