Vorwort:
Manchmal kommt ein Jahrestag genau zur richtigen Zeit. Heute vor 60 Jahren, am
28. Februar 1943 begannen die Frauen-Demonstrationen in der Rosenstraße in Berlin.
Oft wird PazifistInnen vorgeworfen, ihre Haltung sei weltfremd. Die rhetorische Frage:
"Was hättet ihr denn gegen Hitler ausrichten können ?" wird im selben Atemzug
stereotyp beantwortet: "Gegen einen Diktator helfen nur Bomben". Aktuell ist diese
Frage, weil auch gegen Saddam Hussein nur Bomben helfen sollen. Ausgeblendet wird
dabei, ob denn für die US-Administration, ob denn überhaupt je für einen Kriegseintritt
"humaniäre Gründe" ausschlaggebend oder auch nur mitentscheidend gewesen seien.
Denn Tatsache ist, daß die USA sich im Zweiten Weltkrieg aus
wirtschaftlichen Gründen beteiligt haben.
Lassen wir aber einmal die Unterscheidung zwischen den realen und vorgeblichen Gründen
für Kriege beiseite, ist es dennoch eine interessante Fragestellung, ob denn eine Diktatur
nicht auch auf gewaltfreiem Wege gestürzt werden kann. Und nicht ohne Grund wurde die
Geschichte von der Rosenstraße in Berlin über Jahrzehnte hin von zwei Seiten her
totgeschwiegen. Die offizielle deutsche Seite hatte kein Interesse daran, Zweifel
daran aufkommen zu lassen, daß "die Deutschen" zwar kollektiv schuldig geworden waren
- dies jedoch auf geradezu mysthische Weise, denn ein Widerstand gegen das Nazi-Regime
sei ja zwar heldenhaft, aber aussichtslos gewesen. Das konnte mit dem gescheiterten
Attentat der Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 oder der Gruppe 'Weiße Rose'
exemplarisch gezeigt werden, da sie ihre Akionen "mit dem Leben bezahlen mußten".
Die US-amerikanische Seite hatte ebensowenig Interesse daran, Zweifel daran aufkommen
zu lassen, ob denn Krieg und Flächenbombardement deutscher Städte alternativlos die
einzige Möglichkeit gewesen sei, "Hitler zu beseitigen". Andernfalls wäre die
"humanitäre" Legitimation des Krieges in Frage gestellt.
Bereits im September 2000 erschien folgender Artikel in der Zeitung 'graswurzelrevolution',
den wir hier wiedergeben:
Hätten die Nazis gestürzt werden können?
Einige revolutionstheoretische Überlegungen zum Aufstand der
Rosenstraße-Frauen 1943
Über den erfolgreichen Widerstand der Berliner Frauen in der Rosenstraße ist in der
'graswurzelrevolution'
immer wieder berichtet worden (vgl. 'graswurzelrevolution' 138, 149, 176, 222): während
der ersten Märzwoche
im Jahr 1943 gelang es insgesamt ca. 1.000 Frauen, die in Mischehen mit jüdischen Männern
lebten, mit öffentlichem, unbewaffnetem zivilen Ungehorsam ca. 1.700 Juden, die deportiert
werden sollten, frei zu bekommen. Einige wurden deshalb sogar aus Auschwitz, wohin sie
schon
deportiert worden waren, zurückgeholt.
Die Frauen hatten sieben Tage lang, oftmals auch die
ganze Nacht hindurch, vor dem Sammellager in der Rosenstraße demonstriert. Manchmal
wurden Maschinengewehre gegen sie aufgefahren und sie flüchteten in angrenzende
Hauseingänge - aber immer wieder kamen sie zurück und schrien: "Gebt uns unsere Männer
wieder!" oder "Mörder!" Es war die größte und erfolgreichste innerdeutsche
Widerstandsaktion
während der gesamten Zeit des Nationalsozialismus.
Die bisher wichtigste und umfassendste Studie zu diesem Aufstand, diejenige von Nathan
Stoltzfus1 nämlich, ist nun endlich auch in deutscher Sprache erschienen.
Während die englische
Originalausgabe bereits in der 'graswurzelrevolution' besprochen wurde und dort
besonderer Wert auf die
zweifellos detaillierten Darstellungen Stoltzfus' zu Geschichte und Statusänderungen von
Mischehen vor und während der Nazi-Zeit gelegt wurde (vgl.
'graswurzelrevolution' 222, lib. Buchseiten), möchte
ich das Erscheinen der deutschsprachigen Ausgabe zum Anlaß nehmen, auf die
aufstandstheoretischen Passagen des Buches einzugehen, denn auch sie sind ungeheuer
spannend und verführen zum gedanklichen Weiterspinnen der Aktion, die vielleicht auch hätte
zum Sturz der Nazis führen können. In jedem Fall kann die Wichtigkeit dieses Buches gar
nicht
überschätzt werden, sowohl für die Theorie des Rassismus und Antisemitismus, weil es am
Beispiel der Mischehen klar macht, daß genau bei diesem Thema der wissenschaftliche
Rassismus versagen mußte und auch praktisch versagt hat; des weiteren für alle
Frauenbewegungen, weil es zeigt, wie beherzt und radikal Frauenwiderstand auch in dieser
Zeit
aussehen konnte und wie sich Frauen im Widerstand gegenseitig gestärkt haben; aber auch für
alle, die sich der Gewaltfreiheit oder des gewaltfreien Anarchismus verschrieben haben und
sich
immer wieder die bange Frage stellen, ob das nicht im Angesicht des Nationalsozialismus
völlig
versagen mußte.
Die Nazi-Führungsriege war wahrscheinlich das Brutalste, was die Welt gekannt hat - aber
sie
war nicht blöd. Stoltzfus zeigt auf, wie Hitlers Machttheorie aussah. In der "Schlußaktion"
gegen
die letzten in Berlin lebenden Juden, die in Ehe mit deutschen, "arischen" Frauen lebenden
jüdischen Männer, sah die Nazi-Führungshierarchie so aus, daß nach Hitler zunächst Goebbels,
dann erst Himmler kam. Goebbels, der für den Gau Berlin den Oberbefahl inne hatte, teilte
Hitlers Machttheorie, Himmler sehr viel weniger. Hitler ging seit dem Ersten Weltkrieg, in
dem er
als "Gefreiter" mitgekämpft hatte, um dann den "Dolchstoß" der Revolution von 1918/19
erleben
zu müssen, von einer Theorie der Macht aus, die keineswegs allein auf Terror beruht.
Stoltzfus:
"In 'Mein Kampf' erklärte Hitler, daß Unterstützung durch das Volk die Hauptgrundlage
politischer
Macht sei. Die erste Grundlage für die Schaffung von Autorität sei immer Popularität. Wenn
sie
sich diese Unterstützung verschafft hat, muß die politische Führung Gewalt einsetzen, die
zweite
Grundlage aller Autorität, um ihre Macht zu festigen. Politische Macht, die sich durch
allgemeinen Rückhalt beim Volk etabliert hat und mit Hilfe von Gewalt stabilisiert worden
ist,
hätte aber keinen Bestand, wenn sie nicht durch soziale Traditionen gestützt würde, jenen
letzten
Grundstein der Macht." (S. 26)
Freiwillige Unterstützung (nichts anderes ist Popularität), Gewalt und soziale Traditionen
waren
also die subjektiven Bestandteile der Machttheorie von Hitler und Goebbels. Stoltzfus
zeigt auf,
daß beide diese Machttheorie immer im Hinterkopf behielten, bei allem, was sie auch taten.
Mit
"sozialen Traditionen" waren bestimmte Gewohnheiten wie der christliche Glaube gemeint,
woraus sich die Politik des Ausgleichs der Nazis mit der Kirche ebenso ergab wie der
Abbruch
von Kampagnen, gegen die sich die Kirche wandten, z.B. das Entfernen der Kruzifixe in den
Schulen in den dreißiger Jahren oder das offene Euthanasie-Programm 1941. Gegen beides
wandte sich die katholische Kirche offen und mit Erfolg. Für die Mischehe spielte die
soziale
Tradition insofern eine Rolle, als damals "Scheidung" aus christlichen Gründen unpopulär
war,
weshalb die Nazis ein Scheidungsgesetz gegen in Mischehe mit Juden verheiratete deutsche
Frauen immer wieder hinauszögerten. Soziale Traditionen sollten nach Maßgabe der
Machttheorie Hitlers nur langsam verändert werden, im Zweifel erst nach dem gewonnenen
Krieg.
Es kann gar nicht deutlich genug darauf hingewiesen werden, daß diese Machtheorie aus
Hitlers
Erfahrung der Niederlage im Ersten Weltkrieg stammte. Seiner Wahrnehmung nach wurde der
"Dolchstoß" damals von zwei Strömungen geführt: dem Pazifismus und den Frauen. Und in der
Tat waren ja die großen Friedensdemonstrationen des Jahres 1918 mehrheitlich
Frauendemonstrationen. Hitler nahm also wahr, daß öffentliche Unzufriedenheit von Frauen im
eigenen Hinterland die Kriegsanstrengungen an der Front und damit eine vermeintlich
unantastbare Macht vollständig zerstören konnten. Es war für ihn eine Lehre: sowas sollte
sich
nie wiederholen. Doch der Widerstand der Rosenstraße-Frauen drohte genau jene Konstellation
zu wiederholen: das Kriegsglück hatte sich seit Stalingrad gewendet, Berlin wurde
bombardiert,
die offen sogar gegen Maschinengewehre protestierenden Frauen drohten die Macht der Nazis
zu zerstören, wenn sie zu einer Massenbewegung würden. Deshalb wurde ihren Forderungen
nachgegeben.
Zeitlich zusammen mit dem Widerstand in der Rosenstraße fiel auch die Mobilisierung von
ca. 5
Mio. weiblichen Arbeitskräften für die Kriegsindustrie, um auf einen Anteil von Frauen
in der
Industrie von 61 Prozent zu kommen, wie das in England bereits der Fall war und für einen
"totalen Krieg" (Goebbels) für nötig befunden wurde. Doch viele Frauen kamen dem nicht
nach:
"Als sich in jenem Februar erstmals ein für Deutschland katastrophaler Kriegsausgang
abzeichnete, begehrte der weibliche Teil der Bevölkerung auf und zeigte sich nicht gewillt,
weiter
die Härten und Entbehrungen hinzunehmen, die der Krieg mit sich brachte. Es erinnerte alles
sehr stark an 1918, und eine Auflehnung, wie sie es damals gegeben hatte, war für die Nazis
seit eh und je ein Schreckgespenst gewesen. Nur sehr wenige Frauen weigerten sich ganz
direkt - sozusagen in einem bewußten Akt bürgerlichen Ungehorsams -, den Befehlen des
"Führers" Folge zu leisten, doch Geheimagenten des SD berichteten, daß es in der weiblichen
Bevölkerung immer mehr Anzeichen für Defätismus und Kriegsmüdigkeit gebe. Frankfurter
Bürgerinnen hätten angeblich gesagt, daß dieser Wahnsinn bald vorbei wäre, wenn sich alle
Frauen zusammentäten. Hunderttausende von Frauen aus dem gesamten Reichsgebiet
meldeten sich krank: Sie könnten leider die ihnen zugewiesenen Aufgaben nicht übernehmen.
Rasendes Kopfweh, plötzliche Nebenhöhlenentzündungen, chronische Rückenschmerzen,
hartnäckige Erkältungen, Infektionen der verschiedensten Art oder auch Knochenbrüche
hinderten sie bedauerlicherweise daran. Die Gestapo von Karlsruhe konstatierte: Es gibt gar
nicht so viele Krankheiten, wie hier beim Arbeitsamt in Traglasten von Gesundheitsattesten
genannt worden sind. Viele Frauen behaupteten auch, daß sie sich dringend auf eine Reise
begeben müßten, schwiegen sich aber darüber aus, wohin diese sie führen würde oder wann
sie wieder daheim sein würden. (...) Weil sich so viele Frauen auf diese Weise ihrer
Zwangsverpflichtung entzogen, berichtete Speers Ministerium für Rüstung und Kriegsproduktion
Anfang 1944, daß es 'die Mobilisierung der deutschen Frauen für die Kriegsanstrengungen als
völlig gescheitert' ansehen müsse." (S. 274) Wäre auf die Rosenstraße-Frauen geschossen
worden oder ihren Forderungen nicht nach wenigen Tagen entsprochen worden, wäre dieses
massenhafte Potential womöglich "explodiert" und hätte den Protest auf die Straße getragen.
Innerhalb vieler linker oder antifaschistischer Gruppen wird die revolutionstheoretische
und
machtzerstörerische Dimension des Rosenstraße-Proteste überhaupt nicht gesehen oder
gewürdigt - natürlich weil es sich um eine unbewaffnete Demonstration handelte. Oft wird zur
Relativierung angeführt, die demonstrierenden Frauen seien ja privilegierte "Arierinnen"
gewesen. Stoltzfus zeigt dagegen, daß die mit Juden verheirateten Frauen am untersten Ende
der Skala der als deutsch aktzeptierten Bevölkerung standen, oft jahrelang von NachbarInnen
und Behörden als "Huren" schikaniert oder Vorwürfen der "Rassenschande" ausgesetzt, weil
sie
innerhalb der jüdischen Familien lebten. Deutsche Männer ließen sich aus Karrieregründen
viel
schneller von jüdischen Frauen scheiden und begaben sich durch ihre Verbindung auch nie so
stark ins jüdische Milieu - einer der wichtigsten Gründe dafür, daß es weit mehr deutsche
Frauen
waren, die mit jüdischen Männern verheiratet waren als umgekehrt. Abgesehen davon: für die
Zerstörung der Macht der Nazis war es natürlich nötig, daß sich Teile der
Mehrheitsbevölkerung
gegen sie auflehnten. Was von antifaschistischen Gruppen immer gefordert wurde, daß nämlich
Deutsche sich gegen die Nazis wehrten, kann nicht gerade dann zur Relativierung
herangezogen werden, wenn sie es tatsächlich mal taten. Manche Deportationspläne der Nazis
sahen vor, auch die mit Juden verheirateten Frauen zu den Vernichtungslagern mitzunehmen.
Schon ihr Leben vor dem März 1943 war ungeheuer mutig, ihr entschlossener Widerstand umso
mehr.
Dabei waren einige Frauen nicht ganz so unpolitisch, wie es zunächst den Anschein hatte.
Stoltzfus: "Frau Weigert hatte schon von öffentlichem Protest als Mittel der Einflußnahme
auf die
Politik gehört; sie hatte von Mahatma Gandhi gelesen und davon, wie er die Massen seines
Landes mobilisiert hatte. (...) Einige Frauen, die sich da in der Rosenstraße versammelt
hatten,
hatten sicherlich etwas über die in der Weimarer Republik so häufigen Protestkundgebungen
von Kommunisten oder Sozialisten gehört oder diese sogar persönlich miterlebt; vielleicht
wußten sie auch noch von den ja vor allem von Frauen getragenen Massenprotesten und
Straßenaufständen gegen den Ersten Weltkrieg und für das Frauenwahlrecht." (S. 303)
Kurzum: der Frauenaufstand in der Rosenstraße fand in einer gesellschaftlichen
Umbruchsituation statt, in der sich das Kriegsglück wendete und Hunderttausende Frauen nach
Auswegen suchten, um nicht in der Kriegsindustrie für den "totalen Krieg" zu arbeiten. Die
Demonstrationen hätten sich in dieser Situation genauso gut wie ein Lauffeuer ausbreiten
können und eine Situation wie 1918 heraufbeschwören können: Hitlers Macht untergraben -
eine
Revolution gegen die Nazis! Nie war sie so nah und möglich wie in jener ersten Märzwoche
1943. Stoltzfus abschließend in seinem wunderbaren Buch:
"In jedem Fall veranlaßte die schon früh von in Mischehe lebenden Deutschen geleistete
Opposition das Regime dazu, die Deportation von Juden mit deutschen Ehepartnern zunächst
einmal hinauszuschieben, und die betroffenen Deutschen hatten so die Möglichkeit, mit einer
"friedlichen" Protestversammlung statt mit Waffengewalt unter Beweis zu stellen, daß sie
weiterhin für das Leben ihrer Angehörigen kämpfen würden. Obwohl sie nicht das höchste Opfer
brachten, so riskierten sie doch zumindest ihr Leben; sie wären mit Sicherheit zu Märtyrern
geworden, wenn sie zu Waffen gegriffen hätten, um die Erfüllung ihrer Forderungen zu
erzwingen. (S. 368) Und: "Der Diktator fürchtete Unruhe in der eigenen Bevölkerung mehr,
als er
solche Unruhe tatsächlich erfuhr." (S. 370) "Zur Begründung und Festigung politischer
Macht war
Terror bei weitem nicht so wirksam, wie freiwillige Unterstützung durch das Volk es gewesen
war. (...) Die Geschichte der Mischehen in Nazideutschland zeigt auf, daß der 'Führer'
gesellschaftlichen Einschränkungen unterworfen war. Gleichgültig, ob Hitler und andere
ranghohe Nazis die Auswirkung gesellschaftlicher Unruhe überschätzten, wenn man sich
intensiver mit dem Einfluß "normaler Bürger" auf die Herrschaft der Nazis und die von ihnen
begangenen Verbrechen beschäftigen will, dann wird man die Millionen von "Mitläufern" ins
Blickfeld nehmen müssen, die, indem sie nichts taten, ein solches Verhalten als akzaptable
soziale Norm definierten." (S. 371)
Anmerkung:
1 Nathan Stoltzfus: Widerstand des Herzens. Der Aufstand der Berliner Frauen in der
Rosenstraße - 1943,
Hanser Verlag, München/Wien 1999, 476 S., 54 DM.
G. Hogweed