http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,165236,00.html
Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy nennt den amerikanischen
Bombenkrieg "nur einen weiteren terroristischen Akt"
Als sich am Sonntag, dem 7. Oktober 2001, die Dunkelheit auf Afghanistan
senkte, startete die US-Regierung ihre Luftangriffe auf Afghanistan,
unterstützt durch die Internationale Koalition gegen den Terror (dem neuen,
fügsamen Ersatz für die Vereinten Nationen). Die Fernsehsender brachten
computeranimierte Bilder von Marschflugkörpern, Stealth Bombern,
"Bunkerbrechern" und MK-82-High-Drag-Bomben. Auf der ganzen Welt schauten
kleine Jungen mit großen Augen zu und vergaßen, nach neuen Videospielen zu
quengeln.
Die Uno, inzwischen auf ein unwirksames Kürzel reduziert, wurde nicht einmal
ersucht, die Luftangriffe zu genehmigen. (Wie denn Madeleine Albright einst
bemerkte, handeln die USA "multilateral, wenn wir können, und unilateral,
wenn wir müssen".) Die "Beweise" gegen die Terroristen wurden in der
"Koalition" unter Freunden herumgereicht. Nach dem Treffen ließ man
verlauten, es spiele keine Rolle, ob die "Beweise" vor einem ordentlichen
Gericht Bestand hätten oder nicht. Auf diese Weise wurden in einem
Augenblick Jahrhunderte der Rechtsprechung fahrlässig zunichte gemacht.
Nichts kann einen terroristischen Akt entschuldigen oder rechtfertigen, ganz
gleich, ob er von religiösen Fundamentalisten, von Milizen, von
Widerstandsbewegungen begangen wird - oder ob er als Vergeltungskrieg einer
anerkannten Regierung daherkommt. Die Bombardierung Afghanistans ist keine
Rache für New York und Washington. Sie ist nur ein weiterer terroristischer
Akt gegen die Menschen auf der Welt. Jede unschuldige Person, die getötet
wird, muss hinzugezählt werden, nicht verrechnet mit der entsetzlichen Zahl
der in New York und Washington gestorbenen Zivilisten.
Selten werden Kriege von Menschen gewonnen, selten werden sie von
Regierungen verloren. Menschen kommen um, Regierungen häuten und
regenerieren sich wie das Haupt der Hydra. Sie verwenden Flaggen, um erst
die Hirne der Leute luftdicht einzuwickeln und echtes Nachdenken zu
ersticken und dann, um sie als feierliche Leichentücher über die
verstümmelten Toten zu breiten. Auf beiden Seiten, in Afghanistan wie in
Amerika, dienen Zivilisten heute ihren Regierungen und deren Aktionen als
Pfand. Ohne es zu wissen, teilen die Leute in beiden Ländern eine
Gemeinsamkeit: Sie müssen mit dem Phänomen des blinden, unvorhersehbaren
Terrors leben. Jeder Bombenladung, die auf Afghanistan fällt, entspricht die
wachsende Massenhysterie in Amerika angesichts von Milzbrand, Entführungen
und anderen terroristischen Untaten.
Es gibt keinen einfachen Weg aus dem brodelnden Morast von Terror und
Brutalität, dem die Welt heute gegenübersteht. Es wird Zeit für die Menschen
innezuhalten. Was am 11. September geschah, hat die Welt für immer
verändert. Freiheit, Fortschritt, Wohlstand, Technik, Krieg - diese Begriffe
haben eine neue Bedeutung. Regierungen müssen die Veränderung einsehen und
ihre neuen Aufgaben mit einem Körnchen Ehrlichkeit und Demut angehen. Leider
fehlt bis heute jedes Zeichen von Einsicht bei den Führern der
Internationalen Koalition. Oder den Taliban.
Als Präsident Bush die Luftangriffe ankündigte, sagte er: "Wir sind eine
friedliche Nation." Amerikas Lieblingsbotschafter Tony Blair (gleichzeitig
Premier von Großbritannien) betete nach: "Wir sind ein friedliches Volk."
Jetzt wissen wir Bescheid. Schweine sind Pferde. Mädchen sind Jungen. Krieg
ist Frieden.
Ein paar Tage später sagte Präsident Bush in einer Rede vor dem FBI: "Dies
ist unsere Berufung. Die Berufung der Vereinigten Staaten von Amerika. Der
freiesten Nation der Welt. Einer Nation, die sich auf fundamentale Werte
gründet, gegen Hass, gegen Gewalt, gegen Mörder und gegen das Böse. Wir
werden nicht weichen."
Hier folgt eine Liste von Ländern, mit denen Amerika seit dem Zweiten
Weltkrieg Krieg geführt hat, die es bombardiert hat oder in denen es
zumindest in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt war: Korea (1950
bis 1953), Guatemala (1954, 1967 bis 1969), Indonesien (1958), Kuba (1959
bis 1961), Belgisch-Kongo (1965), Laos (1964 bis 1973), Vietnam (1961 bis
1973), Kambodscha (1969 bis 1970), Grenada (1983), Libyen (1986), El
Salvador (achtziger Jahre), Nicaragua (achtziger Jahre), Panama (1989), Irak
(seit 1991), Bosnien (1995), Sudan (1998), Jugoslawien (1999). Und jetzt
Afghanistan.
Bestimmt wird sie nicht weichen - diese freieste Nation der Welt. Doch
welche Freiheit hält sie denn aufrecht? Innerhalb der eigenen Grenzen
Redefreiheit, Religionsfreiheit, Gedankenfreiheit; die des künstlerischen
Ausdrucks, der Essgewohnheiten, der sexuellen Vorlieben (na ja, bis zu einem
gewissen Grad) und vieles andere, alles ganz musterhaft und wunderbar.
Außerhalb der eigenen Grenzen die Freiheit zu dominieren, zu erniedrigen und
zu unterwerfen - gewöhnlich unter die wahre Religion Amerikas, den "freien
Markt". Wenn also die US-Regierung einen Krieg Operation "Grenzenlose
Gerechtigkeit" tauft oder Operation "Dauerhafte Freiheit", dann spüren wir
in der Dritten Welt mehr als leise Furcht. Weil wir wissen, dass Grenzenlose
Gerechtigkeit für die einen Grenzenlose Ungerechtigkeit für die anderen
bedeutet. Und Dauerhafte Freiheit für die einen Dauerhafte Unterjochung für
die anderen.
Die Internationale Koalition gegen den Terror ist vor allem eine Intrige der
reichsten und mächtigsten Länder der Welt. Sie produzieren und verkaufen
fast alle Waffen der Welt, sie besitzen den größten Bestand an chemischen,
biologischen und nuklearen Massenvernichtungswaffen. Sie haben die meisten
Kriege geführt, sind die Hauptverantwortlichen der modernen Geschichte für
Völkermorde, Unterwerfungen, ethnische Säuberungen und
Menschenrechtsverletzungen, haben ungezählte Diktatoren und Despoten
gefördert, bewaffnet und finanziert. Sie huldigen einem Kult der Gewalt, sie
haben den Krieg förmlich zum Gott erhoben. Bei all ihren abscheulichen
Vergehen kommen die Taliban da wirklich nicht mit.
Die Taliban entstanden in den Nachwehen des Kalten Krieges im brüchigen
Sammelbecken voll Schutt, Heroin und Landminen. Ihre ältesten Führer sind
gerade Anfang vierzig. Viele von ihnen sind entstellt und verkrüppelt, haben
ein Auge verloren oder einen Arm, ein Bein. Sie sind aufgewachsen in einer
beschädigten und durch den Krieg verwüsteten Gesellschaft. Insgesamt sind
aus der Sowjetunion und Amerika seit über 20 Jahren Waffen und Munition im
Wert von etwa 45 Milliarden Dollar nach Afghanistan geflossen.
Die neuesten Waffen waren das einzig Moderne, das in diese im Innersten
mittelalterliche Gesellschaft vordrang. Die kleinen Jungen - viele von ihnen
verwaist -, die damals aufwuchsen, hatten Gewehre als Spielzeug und erlebten
nie die Geborgenheit und den Trost einer Familie, nie die Gesellschaft von
Frauen. Heute, als Erwachsene und Herrscher, da schlagen, steinigen,
vergewaltigen und misshandeln die Taliban Frauen, sie scheinen nicht zu
wissen, was sie sonst mit ihnen anfangen sollen. Jahrelanger Krieg hat ihnen
ihre Sanftheit genommen, sie gegen Freundlichkeit und Mitgefühl immun
gemacht. Sie tanzen zu den stampfenden Rhythmen der Bomben, die um sie herum
niederregnen. Jetzt richten sie ihre Grausamkeit gegen das eigene Volk.
Bei allem Präsident Bush geschuldeten Respekt: Die Menschen auf der Welt
müssen nicht zwischen den Taliban und der US-Regierung wählen. Alles Schöne
der menschlichen Zivilisation - unsere bildende Kunst, unsere Musik, unsere
Literatur - befindet sich jenseits dieser beiden fundamentalistischen,
ideologischen Pole. Die Aussicht, dass alle Menschen auf der Welt zu
mittelständischen Verbrauchern werden können, ist ebenso unrealistisch wie
die, daß alle einer einzigen Religion folgen werden.
Es geht ja nicht um Gut gegen Böse oder um Islam gegen Christentum, sondern
um Raum. Darum, dass man Unterschiede miteinander in Einklang bringt, dass
man den Drang nach Hegemonie zügelt - jeder Art von Hegemonie, sei sie
ökonomisch, militärisch, sprachlich, religiös oder kulturell. Jeder Ökologe
wird Ihnen sagen, wie gefährlich und empfindlich eine Monokultur ist. Eine
hegemoniale Welt lässt sich mit einer Regierung ohne gesunde Opposition
vergleichen. Sie wird zu einer Art Diktatur. Als stülpte man eine
Plastiktüte über die Welt und hinderte sie am Atmen. Doch diese Tüte wird
schließlich aufgerissen.
Eineinhalb Millionen Afghanen haben ihr Leben verloren in den mehr als 20
Jahren des Konfliktes, der diesem neuen Krieg vorausging. Afghanistan wurde
in Trümmer gelegt, jetzt werden diese Trümmer zu feinem Staub zerrieben. Am
zweiten Tag des Luftangriffs kehrten die US-Piloten zu ihren Basen zurück,
ohne die ihnen zugeteilte Nutzlast an Bomben abgeworfen zu haben. Einem der
Piloten zufolge ist Afghanistan "kein an Zielen reiches Territorium". Donald
Rumsfeld, US-Verteidigungsminister, wurde auf einer Pressekonferenz im
Pentagon gefragt, ob Amerika die Ziele abhanden gekommen seien.
"Erstens werden wir Ziele zum zweiten Mal treffen", sagte er, "und zweitens,
nicht uns kommen die Ziele abhanden, sondern Afghanistan." Was im
Konferenzsaal mit einer Lachsalve begrüßt wurde.
Am dritten Tag des Luftschlages prahlte das US-Verteidigungsministerium, man
habe die "Lufthoheit über Afghanistan erlangt". (Wollten sie damit sagen,
daß sie beide - oder sind es gar 16? - afghanischen Flugzeuge zerstört
hätten?)
In Afghanistan gewinnt die Nordallianz - der alte Feind der Taliban und
damit der neueste Freund der Internationalen Koalition - an Boden beim
Vorstoß auf die Eroberung Kabuls. (Für die Archive soll noch erwähnt sein,
daß die Taten der Nordallianz sich von denen der Taliban nicht sonderlich
unterscheiden. Doch wird dieses störende Detail vorerst vertuscht.) Der
sichtbare, moderate, "akzeptable" Führer der Allianz, Ahmed Schah Massud,
starb Anfang September durch ein Selbstmord-Attentat. Der Rest der
Nordallianz ist ein brüchiger Verband brutaler Kriegsherren, Ex-Kommunisten
und unbeugsamer Kleriker. Eine in verschiedene ethnische Fraktionen
zerrissene Gruppe, deren Mitglieder früher die Wonnen der Macht in
Afghanistan gekostet haben.
Bis zu den US-Luftschlägen kontrollierte die Nordallianz etwa zehn Prozent
Afghanistans. Heute, mit Hilfe der Koalition und "Unterstützung aus der
Luft", ist sie bereit, die Taliban zu stürzen. Mittlerweile laufen die
Soldaten der Taliban zur Nordallianz über, aus Angst vor einer unmittelbar
drohenden Niederlage. Die kämpfenden Truppen sind also damit beschäftigt,
die Seiten und die Uniformen zu wechseln. Doch bei einem zynischen
Unterfangen wie diesem hat das wohl wenig zu bedeuten. Liebe ist Hass, Nord
ist Süd, Frieden ist Krieg.
Die globalen Mächte reden davon, eine "repräsentative Regierung
einzusetzen". Oder aber den 87-jährigen ehemaligen König von Afghanistan
wieder "einzusetzen", Zahir Schah, der seit 1973 im römischen Exil lebt. So
läuft das Spiel. Erst heißt es: Unterstützt Saddam Hussein, dann: Schafft
ihn beiseite; erst: Finanziert die Mudschahidin, dann: Zerbombt sie in
tausend Stücke; jetzt also: Setzt Zahir Schah ein und wartet ab, ob er artig
ist. (Kann man eine repräsentative Regierung "einsetzen"? Kann man sich eine
Portion Demokratie bestellen - mit Extra-Käse und Jalapeño-Chilis?)
Langsam sickern Berichte über die Opfer in der Zivilbevölkerung durch, über
sich leerende Städte, weil die afghanischen Landeskinder an die Grenzen
drängen, die geschlossen sind. Wichtige Durchgangsstraßen wurden in die Luft
gejagt oder gesperrt. Sachkundige, die in Afghanistan gearbeitet haben,
sagen, dass bis Anfang November keine Lebensmitteltransporte bei den
Millionen Afghanen (7,5 Millionen laut Uno) eintreffen können, die
unmittelbar davon bedroht sind, im kommenden Winter zu verhungern. Sie
sagen, dass es in den wenigen Tagen bis Winteranbruch entweder den Krieg
oder den Versuch geben kann, Lebensmittel zu den Hungernden zu bringen.
Nicht beides.
Als Geste der Menschlichkeit hat die US-Regierung zu Beginn der Luftangriffe
37.000 Notrationen über Afghanistan abgeworfen. Sie sagt, sie plane,
insgesamt 500.000 Päckchen abzuwerfen. Auch das bedeutet nur eine einzige
Mahlzeit für 500.000 der Millionen von Menschen, die dringend Nahrung
brauchen. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen verdammen dies als eine
zynische, gefährliche PR-Maßnahme. Sie halten Lebensmittelrationen aus der
Luft für mehr als sinnlos. Erstens, weil die Päckchen nie bei denen landen,
die sie wirklich nötig haben, zweitens und schlimmer, weil alle, die
hinlaufen, um sie einzusammeln, riskieren, von Landminen zerrissen zu
werden. Ein tragisches Rennen um Almosen.
Immerhin bekamen die Notpäckchen ihren exklusiven Fototermin. Ihr Inhalt
wurde in den großen Zeitungen aufgelistet. Sie waren vegetarisch, erfuhren
wir, gemäß den muslimischen Eß-Regeln(!). Die gelben, mit der
amerikanischen Flagge verzierten Päckchen enthalten: Reis, Erdnussbutter,
Bohnensalat, Erdbeermarmelade, Kekse, Fladenbrot, einen Apfel-Müsli-Riegel,
Gewürze, Streichhölzer, Plastikbesteck, eine Serviette und eine illustrierte
Gebrauchsanweisung.
Nach drei Jahren anhaltender Dürre ein Airline-Mahl vom Himmel hoch in
Dschalalabad! Das Niveau der kulturellen Dummheit, das fehlende Verständnis
dafür, was monatelanger, erbarmungsloser Hunger und bittere Armut wirklich
bedeuten, der Versuch der US-Regierung, noch durch das äußerste Elend das
eigene Selbstverständnis aufzubessern, lässt sich nicht in Worte fassen.
Drehen Sie doch dieses Szenario einmal um. Stellen Sie sich vor, die
Taliban-Regierung bombardierte New York und redete unentwegt davon, ihr
wahres Ziel sei die US-Regierung und deren Politik. Und angenommen, in den
Bombenpausen würfen die Taliban ein paar tausend Päckchen mit Nan und Kebab
ab, aufgespießt auf kleine afghanische Flaggen. Hätten die guten Leute von
New York je die Größe, der afghanischen Regierung zu vergeben? Selbst wenn
sie hungrig wären, wenn sie das Essen brauchten und wenn sie es äßen, wie
könnten sie je diese Beleidigung vergessen, diese Herablassung? Der New
Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani schickte das Geschenk eines saudischen
Prinzen über 10 Millionen Dollar zurück, weil ein kleiner freundlichen Rat
zur amerikanischen Nahost-Politik beilag. Ist Stolz ein Luxus, der nur den
Reichen zusteht?
Weit davon entfernt, den Terrorismus auszumerzen, lässt eine solche Wut ihn
erst entstehen. Hass und Vergeltung können nicht mehr rückgängig gemacht
werden, sind sie einmal entstanden. Für jeden "Terroristen", jeden
"Handlanger" der getötet wird, werden auch Hunderte unschuldiger Menschen
getötet. Und an die Stelle von hundert Unschuldigen, die sterben mussten,
treten wahrscheinlich ein paar künftige Terroristen.
Wo wird das alles enden?
Vergessen Sie einmal die Rhetorik und überlegen Sie, dass die Welt bisher
keine vernünftige Definition von "Terrorismus" kennt. Des einen Terrorist
ist nur allzu oft des anderen Freiheitskämpfer. Im Kern der Sache steckt
eine weltweit tief sitzende Ambivalenz gegenüber der Gewalt. Ist Gewalt erst
einmal als legitimes Instrument der Politik akzeptiert, wird aus der Moral
und der politischen Akzeptanz von Terroristen (Aufständische oder
Freiheitskämpfer) umstrittenes, unwegsames Terrain.
Weltweit hat auch die US-Regierung zahlreiche Rebellen und Aufständische
finanziert, bewaffnet und beherbergt. Die CIA und Pakistans ISI haben die
Mudschahidin instruiert und bewaffnet - in den achtziger Jahren Terroristen
für die Regierung im sowjetisch besetzten Afghanistan. Während der damalige
Präsident Reagan mit ihnen für ein Gruppenfoto posierte und sie als
moralisches Ebenbild der amerikanischen Gründungsväter hinstellte.
Heute fördert Pakistan - Amerikas Verbündeter in diesem neuen Krieg -
Aufständische, die ins indische Kaschmir gehen. Pakistan rühmt sie als
"Freiheitskämpfer". Indien nennt sie "Terroristen". Indien wiederum
brandmarkt Länder, die Terrorismus fördern und begünstigen, doch Indiens
Armee hat früher separatistische tamilische Rebellen ausgebildet, die eine
Heimat für sich in Sri Lanka forderten - sie sind verantwortlich für
zahllose blutige Terroranschläge. (So, wie die CIA die Mudschahidin fallen
ließ, als sie ihren Zweck erfüllt hatten, kehrte Indien den tamilischen
Rebellen aus vielerlei politischen Gründen abrupt den Rücken. Es war eine
aufgebrachte tamilische Selbstmordattentäterin, die 1991 den ehemaligen
indischen Premier Rajiv Gandhi ermordete.)
Regierungen und Politiker müssen begreifen, dass es zwar kurzfristige
Resultate bringen kann, diese enormen, blindwütigen Gefühle der Menschen für
eigene, engstirnige Zwecke zu manipulieren, dass dergleichen aber
unerbittlich katastrophale Folgen hat. Religiöse Gefühle aus Gründen der
politischen Nutzbarkeit zu entfachen und auszunutzen ist das gefährlichste
Vermächtnis, das Regierungen oder Politiker einem Volk hinterlassen können -
auch ihrem eigenen. Menschen, die in einer durch religiöse oder kommunale
Bigotterie zerrütteten Gesellschaft leben, wissen, dass jeder religiöse
Text - von der Bibel bis zur Bhagawadgita - untergraben und
fehlinterpretiert werden kann, um alles vom Atomkrieg über Völkermord bis
zur kollektiven Globalisierung zu rechtfertigen.
Für jeden Terroristen sterben Hunderte unschuldiger Zivilisten. Und an deren
Stelle treten ein paar künftige Terroristen. Wie soll das enden?
Dies soll nicht heißen, daß die Terroristen, die am 11. September das
Entsetzliche getan haben, nicht verfolgt und zur Rechenschaft gezogen werden
sollten. Das müssen sie. Ist aber ein Krieg der beste Weg, um sie
aufzuspüren? Wird man die Nadel finden, wenn man den Heuhaufen niederbrennt?
Oder wird es den Zorn schüren und die Welt zur wahren Hölle für uns alle
machen?
Wie viele Leute kann man denn schließlich ausspionieren, wie viele
Bankkonten einfrieren, wie viele Gespräche belauschen, wie viele E-Mails
abfangen, wie viele Briefe öffnen, wie viele Telefone abhören? Schon vor dem
11. September hatte die CIA mehr Informationen zusammengetragen, als sich in
einem Menschleben auswerten lassen. Das schiere Ausmaß der Überwachung wird
zum logistischen, ethischen und bürgerrechtlichen Alptraum. Es wird uns
glatt um den Verstand bringen. Und die Freiheit - dieses kostbare Gut - wird
ihr erstes Opfer. Sie ist jetzt schon schwer verletzt und blutig geschlagen.
Regierungen in der ganzen Welt verwerten die herrschende Paranoia zynisch
für ihre eigenen Interessen. Alles Mögliche an unvorhersehbaren politischen
Kräften wird freigesetzt. In Indien, zum Beispiel, sind Mitglieder des "All
India People's Resistance Forum" im Gefängnis, weil sie in Delhi Antikriegs-
und Anti-US-Pamphlete verteilten. Sogar der Drucker dieser Streitschriften
wurde verhaftet. Die rechtsgerichtete Regierung (die gleichzeitig
extremistische hinduistische Gruppen wie die "Vishna Hindu Parishad" und die
"Bajrang Dal" schützt) hat das "Students Islamistic Movement of India"
verboten und versucht, ein Antiterror-Gesetz neu aufzulegen, das kassiert
wurde, nachdem die Menschenrechtskommission berichtete, es werde mehr
missbraucht als gebraucht. Millionen indischer Bürger sind Muslime. Bringt
es irgendeinen Nutzen, wenn man sie ausgrenzt?
Mit jedem Tag, den der Krieg dauert, überschwemmen blindwütige Emotionen die
Welt. Die internationale Presse hat wenig oder gar keinen freien Zugang zum
Kriegsgebiet. Die Mainstream-Medien, besonders die amerikanischen, sind
jedenfalls mehr oder weniger umgefallen und lassen sich gern den Bauch
pinseln durch Pressemappen von Militärs und Regierungsbeamten. Afghanische
Radiosender sind ausgebombt. Die Taliban hatten für die Presse schon immer
nur tiefes Misstrauen übrig. In einem Propagandakrieg gibt es keine genaue
Einschätzung darüber, wie viele Menschen getötet wurden oder wie groß die
Zerstörung war. Ohne verlässliche Informationen wuchern die Gerüchte.
Wenn Sie in diesem Teil der Welt Ihr Ohr auf die Erde legen, dann können Sie
das Dröhnen hören, den tödlichen Trommelwirbel des aufwallenden Zorns.
Bitte, bitte stoppen Sie den Krieg jetzt! Genug Menschen sind gestorben. Die
schlauen Raketen sind einfach nicht schlau genug. Sie bringen endlose,
unterdrückte Wut zum Explodieren.
Präsident George Bush prahlte neulich, es sei ja wohl Unsinn, "mit einer
Zwei-Millionen-Dollar-Rakete auf ein leeres Zelt oder einen Kamelhintern zu
schießen". Präsident Bush sollte wissen, dass es in Afghanistan keine Ziele
gibt, die den Preis seiner Raketen wert sind. Vielleicht sollte er ein paar
billigere Raketen für billigere Ziele und billigere Leute in den armen
Ländern der Welt bauen, und wäre es nur für den Etatausgleich. Doch das
erschiene am Ende den Waffenherstellern der Koalition als nicht sehr
vernünftig, geschäftlich gesehen.
Und vergessen Sie nicht, daß Präsident George Bush junior und
Vize-Präsident Dick Cheney beide ihr Vermögen der Ölindustrie verdanken.
Allein Turkmenistan, das an den Nordwesten Afghanistans grenzt, verfügt über
gewaltige Gasvorkommen und geschätzte drei Milliarden Barrel Ölreserven.
Amerika hat Öl immer als Sicherheitsfrage betrachtet und mit allen Mitteln
geschützt, die es für nötig erachtete. Wenige von uns bezweifeln, dass seine
militärische Präsenz im Golf weniger mit seinen Sorgen um die Menschenrechte
als mit seinem strategischen Interesse am Öl zusammenhängt.
Öl und Gas aus der Kaspischen Region fließen gegenwärtig nordwärts auf die
europäischen Märkte zu. Geografisch wie politisch bilden Iran und Russland
große Hindernisse für die amerikanischen Interessen. 1998 sagte Dick
Cheney - damals Chef von Halliburton, einem wichtigen Player in der
Ölindustrie: "Ich kann mich an keinen Zeitpunkt erinnern, wo für uns eine
Region so plötzlich strategisch so wichtig wurde wie die kaspische. Fast
scheint es, als wären die Gelegenheiten über Nacht entstanden." Wie wahr.
Seit einigen Jahren nun verhandelt ein amerikanischer Ölgigant namens Unocal
mit den Taliban über die Genehmigung, eine Ölpipeline durch Afghanistan nach
Pakistan bis ins Arabische Meer zu bauen, weil Unocal sich einen Zugang zu
den lukrativen "Emerging Markets" in Süd- und Südost-Asien erhofft. 1997
reiste eine Abordnung der Taliban nach Amerika und traf in Houston sogar mit
Beamten des US-Außenministeriums und mit Unocal-Führungskräften zusammen.
Anders als heute galten damals die Vorliebe der Taliban für öffentliche
Hinrichtungen und ihre Behandlung afghanischer Frauen nicht als Verbrechen
gegen die Menschlichkeit. Während der folgenden Monate übten Hunderte
erzürnter amerikanischer Feministinnen-Gruppen Druck auf die
Clinton-Regierung aus. Erfreulicherweise schafften sie es, den Handel
platzen zu lassen. Und jetzt kommt die große Chance der US-Ölindustrie.
In Amerika werden die Waffenindustrie, die Ölindustrie, die großen
Medien-Konglomerate und selbst die US-Außenpolitik sämtlich von den gleichen
Kartellen kontrolliert. Daher kann man kaum erwarten, dass ein Diskurs über
Gewehre und Öl und Verteidigungsabkommen ernsthaft in den Medien behandelt
wird. Jedenfalls trifft das Geschwätz über den "Kampf der Kulturen", das
Gerede von "Gut gegen Böse" genau auf ein ratloses Volk, dessen Stolz gerade
verwundet wurde, dessen Angehörige tragisch ums Leben kamen, dessen Zorn
frisch und heftig ist. Es wird von Regierungssprechern zynisch verbreitet,
als handelte es sich um die tägliche Dosis Vitamine oder Antidepressiva.
Diese regelmäßige Arznei garantiert, dass Amerika weiterhin das Rätsel
bleibt, das es immer war - ein merkwürdiges Inselvolk, verwaltet von einer
krankhaft aufdringlichen, verworrenen Regierung.
Und was ist mit dem Rest von uns, den betäubten Empfängern all dessen, das
wir als groteske Propaganda wahrnehmen? Den täglichen Konsumenten von Lügen
und Brutalitäten, die mit Erdnussbutter und Erdbeermarmelade beschmiert aus
der Luft in unsere Köpfe abgeworfen werden, ganz wie diese gelben
Lebensmittelpäckchen? Sollen wir wegschauen und schlucken, was man uns
zuwirft? Sollen wir das grimmige Theater ungerührt mit ansehen, das sich in
Afghanistan abspielt, bis wir im Kollektiv röcheln und mit einer Stimme
rufen, dass wir genug haben?
Während das erste Jahr des neuen Millenniums dem Ende entgegeneilt, fragt
man sich: Haben wir das Recht zu träumen verwirkt?
Werden wir uns je wieder Schönheit vorstellen können? Wird es je wieder
möglich sein, den langsamen, erstaunten Lidschlag eines neugeborenen Geckos
in der Sonne zu beobachten oder einem Murmeltier leise zu antworten, das uns
etwas ins Ohr gewispert hat - ohne dass wir an das World Trade Center denken
müssen oder an Afghanistan?
ARUNDHATI ROY
ÜBERSETZUNG: ILSE LANGE-HENCKEL
Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy, 41, die mit dem 1996
veröffentlichten Roman "Der Gott der kleinen Dinge" - der Geschichte einer
Liebe, die gegen die Regeln des indischen Kastensystems verstößt -
weltberühmt wurde, versteht sich schon seit Jahren als Polit-Aktivistin.
Roy, die während ihrer Ausbildung zur Architektin unter anderem in Florenz
studierte, kam über die Arbeit an Drehbüchern und Dokumentarfilmen zur
Literatur. Wegen ihres politischen Engagements, das sich auch gegen indische
Atombombentests und ein Staudammprojekt richtet, droht ihr in ihrem
Heimatland eine Haftstrafe.