Bürgerrechtler aus der ehemaligen DDR haben Stellung bezogen
(erstveröffentlicht bereits am 13.12.01)
Aus eigener Erfahrung mit der Diktatur in der DDR,
aus guter Erinnerung
an politischen Druck und Widerstehen,
an Volksverdummung und Wahrhaftigkeit,
an hohle Phrasen und aufsässige Verse,
an militaristisches Gehabe und grundsätzliche Gewaltlosigkeit,
an Bevormundung und Solidarität
und aus jüngster Erfahrung mit der parlamentarischen Demokratie in der
Bundesrepublik
wenden wir uns nicht an den Bundeskanzler, nicht an Rot-Grün, nicht an die
Oppositionsparteien, sondern an Euch, einfache Bürger wie wir.
"Die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft ist offensichtlich gestört."
Das war 1989 so. Und das gilt heute wieder.
Wir fühlen uns in wachsendem Maße ohnmächtig gegenüber wirtschaftlichen,
militärischen und politischen Strukturen, die für Machtgewinn und Profit unsere
Interessen in lebenswichtigen Fragen einfach ignorieren. Wir fühlen uns in
unserer Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen unseres Landes und der
Welt mehr und mehr an die uns wohlbekannten Übel der Diktatur erinnert.
So können wir uns zwar alle vier Jahre bei den Wahlen für eine von vielen
streitenden Parteien entscheiden.
Wir stellen jedoch fest, daß die Programme dieser Parteien mit der Politik, die
sie dann tatsächlich machen, kaum etwas zu tun haben.
Die politischen Losungen in der DDR waren selten lustig, sie werden in ihrer
Hohlheit von den Wahlwerbungen der Parteien heute übertroffen.
Wir haben uns über das Abstimmverhalten der Volkskammerabgeordneten amüsiert.
Angesichts des Abstimmverhaltens der Bundestagsabgeordneten ist uns das Lachen
vergangen.
Wir haben es gelernt, hohle Phrasen und den sinnverkehrenden Gebrauch von
Schlagworten zu erkennen und schadlos an uns abperlen zu lassen:
Früher: Ewige Waffenbrüderschaft; Unverbrüchliche Solidarität; Friedensdienst
(mit der Waffe in der Hand); Erz für den Frieden (gemeint war das Uran der
WISMUT für die russischen Atombomben); Mein Arbeitsplatz - mein Kampfplatz für
den Frieden; Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!
Heute: Kreuzzug gegen das Böse; Ewige Freiheit; Grenzenlose Gerechtigkeit;
Uneingeschränkte Solidarität; Geschlossenheit; Wer nicht für uns ist, ist für
die Terroristen!
Wir haben in der Revolution von 1989 Kopf und Kragen riskiert, um das verhaßte
und verachtete System von Bütteln und Spitzeln in der DDR zu überwinden.
Wir hatten erwartet, daß nach dem Ende des Kalten Krieges auch die westlichen
Geheimdienste abrüsten.
Keiner von uns hat jedoch damit gerechnet, daß nach Beendigung des Kalten
Krieges die Telephonabhöraktivitäten steil ansteigen, daß die von uns
abgerissenen Stasi-Videokameras nur durch neue ersetzt werden.
Wir sind entsetzt darüber, daß heute die Polizei zusammengestrichen und der
Geheimdienst aufgeblasen wird. War denn alles umsonst? Wir wissen, wohin so was
führt.
Keiner von uns hat damit gerechnet, daß ein schrecklicher Terroranschlag in den
USA zum Anlaß genommen werden könnte, scheinbar unumstößliche Maßstäbe von Recht
und Gerechtigkeitsgefühl in der ganzen westlichen Welt ins Rutschen zu bringen.
Wir haben nicht vergessen, wie die Gummiparagraphen des politischen Strafrechts
der DDR uns die Luft abgeschnürt haben.
Wir greifen uns jetzt an den Hals, wenn wir lesen, mit welcher Leichtfertigkeit
das Terrorismus-Bekämpfungsgesetz (der sogenannte Otto-Katalog) des
Innenministers und die entsprechenden Entwürfe in anderen westlichen Staaten und
auf europäischer Ebene Gummistricke drehen, die wir glücklich losgeworden zu
sein gehofft hatten.
Wir sind verblüfft und entsetzt, daß unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit mit
höhnischem Gelächter und dem süffisanten Verweis auf den Rechtsstaat beantwortet
wird.
Wir sind entsetzt, wie selbstverständlich von hochrangigen Politikern gebilligt
wird, daß die vermeintlichen Anstifter des Terroranschlags mit einer grotesk
übermächtigen Militärmaschinerie umgelegt werden. Beweise für ihre Schuld?
Geheim und wohl doch auch überflüssig! Haben deutsche Politiker bereits die
amerikanische Begeisterung für die Todesstrafe übernommen?
Wir sind entsetzt, mit welcher Dumpfbackigkeit Gegnern des Kriegseinsatzes in
Afghanistan entgegengehalten wird, daß Krieg gegen Terroristen helfen kann.
Weshalb traut sich niemand an die Waffenhändler in den USA und in der
Bundesrepublik heran?
Weshalb versuchen die USA mit allen Mitteln, die Errichtung eines
Internationalen Strafgerichtshofs zu verhindern?
Natürlich wollen wir, daß ein unabhängiges Gericht und nicht der
Oberbefehlshaber der stärksten Armee der Welt entscheidet, ob die vorgelegten
Beweise eine Verurteilung der vermeintlichen Hintermänner des Terroranschlags
rechtfertigen.
Wir sind entsetzt darüber, daß ganz nebenbei schon die Diskussion um die
Anwendung der Folter salonfähig wird. Sind die Mächtigen in den westlichen
Staaten nicht auf dem besten Wege, Verhaltensweise, Denkstruktur und Wertesystem
einer Terroristenbande anzunehmen?
Wir haben es einfach satt.
Wir haben es satt, daß unter dem Banner von Freiheit und Demokratie gegen unsere
Interessen regiert wird.
Wir haben es satt, uns für dumm verkaufen zu lassen.
Wir haben es satt, uns das platte Geschwätz auf Parteitagen anzutun.
Wir haben Volksvertreter satt, die unsere Interessen nicht vertreten und das
auch noch als Erfolg feiern.
Wir haben einen Bundeskanzler satt, der um der Macht willen Abgeordnete dazu
bringt, ja zum Krieg zu sagen, wenn sie nein meinen, und nein zu sagen, wenn sie
ja meinen.
Wir machen nicht mit, wenn Kriegseinsätze mit Worthülsen wie "Verantwortung
übernehmen", "der neuen Rolle Deutschlands in der Welt", mit "Politikfähigkeit"
und "der Durchsetzung der Rechte der Frauen" verharmlost werden.
Wir verweigern uns diesem Krieg.
Nur eine Diktatur braucht linientreue Parteisoldaten. Demokratie braucht mündige
Bürger. Lassen wir Medien, Parteien, Kultur und Wissenschaft nicht von röhrenden
Funktionären gleichschalten.
Die erbärmlichen und erschreckenden Umstände der Rot-Grünen Entscheidung für den
Krieg lassen keinen Raum mehr für parteitaktische Spielchen, für die Sorge um
den eigenen warmen Arsch - machen wir endlich den Mund auf!
Reden wir mit unseren Kindern und mit unseren Eltern über diesen Krieg, über
Gerechtigkeit in Deutschland und der Welt und über die Rechtsstaatlichkeit, die
uns zwischen den Fingern zu zerrinnen droht!
Wir haben 1989 gelernt, daß es Sinn hat, zu widersprechen.
Berlin, den 13. Dezember 2001
Sebastian Pflugbeil, Berlin (Neues Forum, Gründungsmitglied; Mitarbeit
Ökumenische Versammlung; Zentraler Runder Tisch; Mitglied der
Stadtverordnetenversammlung von Berlin (Ost) a. D.; Mitglied des
Abgeordnetenhauses von Berlin a. D.; Minister a. D.; Nationalpreis 2000)
Wolfgang Ullmann, Berlin (Demokratie Jetzt, Gründungsmitglied; Mitarbeit
Ökumenische Versammlung; Bü90/Grüne; Zentraler Runder Tisch; Minister a. D.;
Mitglied der Volkskammer; Mitglied des Bundestages a. D.; Mitglied des
Europaparlaments a. D.)
Hans-Jochen Tschiche, Groß-Ammensleben (Neues Forum, Gründungsmitglied;
Mitarbeit Ökumenische Versammlung; Bü90/Grüne; Mitglied der Volkskammer;
Mitglied des Bundestages a. D.; Nationalpreis 2000)
Leonore Ansorg, Berlin (Initiative für Unabhängige Gewerkschaften)
Erika Drees, Stendal (Neues Forum, Gründungsmitglied; Mitarbeit Ökumenische
Versammlung)
Frank Ebert, Berlin (Umweltbibliothek; Matthias-Domaschk-Archiv)
Almuth Falcke, Erfurt (Sprecherin bei der Besetzung der ersten Stasizentrale)
Heino Falcke, Erfurt (Probst i. R.; Stellvertretender Vorsitzender der
Ökumenischen Versammlung)
Hans-Jürgen Fischbeck, Mülheim (Demokratie Jetzt, Gründungsmitglied; Mitarbeit
Ökumenische Versammlung; Mitglied der Stadtverordnetenversammlung von Berlin
(Ost) a. D.; Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin a. D.;
Bundesverdienstkreuz)
Olaf Freund, Dresden (Neues Forum, Gründungsmitglied; Nationalpreis 2000)
Christian Führer, Leipzig (Pfarrer in der Nicolai-Kirche; Friedensgebete;
Montagsdemo; Theodor-Heuss-Medaille)
Bernd Gehrke, Berlin (Initiative Vereinigte Linke; Zentraler Runder Tisch)
Hans-Peter Gensichen, Wittenberg (Kirchliches Forschungsheim)
Friedrich Heilmann, Potsdam (Bü90/Grüne; Landes- und Bundesvorstand a. D.)
Jan Hermann, Pulsnitz (Neues Forum, Gründungsmitglied; Nationalpreis 2000)
Martin Hoffmann, Berlin (Pankower Friedenskreis, Gründungsmitglied; Amnesty
International, Sektion DDR, Gründungsmitglied)
Renate Hürtgen, Berlin (Initiative für Unabhängige Gewerkschaften)
Martin Klähn, Schwerin (Neues Forum, Gründungsmitglied; Nationalpreis 2000)
Thomas Klein, Berlin (Initiative Vereinigte Linke, Gründungsmitglied;
Zentraler Runder Tisch; Mitglied der Volkskammer; Mitglied des Bundestages a.
D.)
Lothar König, Jena (Pfarrer, Junge Gemeinde Jena-Stadtmitte)
Irena Kukutz, Berlin (Neues Forum; Frauen für den Frieden; Mitglied des
Abgeordnetenhauses von Berlin a. D.)
Michael Kukutz, Berlin (Neues Forum; ehem. Bundesgeschäftsführer)
Ekkehard Maaß, Berlin (Deutsch-Kaukasische Gesellschaft)
Heiko Lietz, Güstrow (Neues Forum; Mitarbeit Ökumenische Versammlung;
B90/Grüne; Zentraler Runder Tisch)
Wolfgang Musigmann, Erfurt (Offene Arbeit)
Arndt Noack, Benz (SDP, Gründungsmitglied)
Christine Pflugbeil, Berlin (Neues Forum, Gründungsmitglied; Ärzte für den
Frieden; Nationalpreis 2000)
Peter Rösch (Blase), Berlin (Jenaer Friedensgemeinschaft)
Wolfgang Rüddenklau, Berlin (Umweltbibliothek, Gründungsmitglied)
Sabine Schaaf, Berlin (Neues Forum, Bundesvorstand)
Walter Schilling, Braunsdorff/Thür. (Kirche von unten)
Klaus Schlüter, Schwerin (Grüne Liga, Gründungsmitglied; Zentraler Runder
Tisch; Minister a. D.)
Walfriede Schmitt, Berlin (Unabhängiger Frauenverband; Zentraler Runder
Tisch)
Reinhard Schult, Fredersdorf (Neues Forum, Gründungsmitglied; Zentraler
Runder Tisch; Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin a. D.; Nationalpreis
2000)
Tom Sello, Berlin (Umweltbibliothek; Matthias-Domaschk-Archiv)
Steffen Steinbacher, Berlin (Neues Forum, Landesvorstand)
Marianne Subklew-Jeutner, Greifswald (Initiative Frieden und Menschenrechte;
Stadtbezirksverordnete Berlin a. D.)
Catrin Ulbricht, Dresden (Neues Forum, Gründungsmitglied)
Hans-Jochen Vogel, Chemnitz (Studentenpfarrer i. R.)
Klaus Wolfram, Berlin (Neues Forum; Zentraler Runder Tisch; Haus der
Demokratie und Menschenrechte)
Kontakt: Haus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Str. 4, 10405
Berlin
Fax 030-204 12 63
Homepage: www.wir-haben-es-satt.de
E-mail: post@wir-haben-es-satt.de