Diskussion zum Thema:
Parlamentarismus / Basisdemokratie / Perspektiven alternativer Politik

 

Diskussionsbeitrag (1) von Klaus Schramm

17.12.2000

Grundsätzlich vorneweg:
Sowohl in seinem Beitrag als auch in seinem Buch 'DIE GRÜNEN - Verstaatlichung einer Partei' analysiert Paul Tiefenbach zwar die Veränderungen recht genau, blendet aber die Kraft, die diese Veränderung hin zur Anpassung an die bestehende Gesellschftsordung bewirkt hat, aus.

Paul Tiefenbach orientiert sich am Ansatz Robert Michels, der bereits vor 80 Jahren sehr klare Analysen und darauf aufbauende Prognosen abgegeben hat. Mit Johannes Agnoli scheint er sich hingegen nicht so intensiv beschäftigt zu haben - jedenfalls ist im Literaturverzeichnis seines Buchs über die "Grünen" lediglich ein Artikel von Agnoli von 1986, jedoch nicht der Klassiker 'Transformation der Demokratie' aufgeführt.

Immerhin schreibt Paul in seinem Beitrag:
Ich würde nicht so weit gehen wie Michels und von einem "ehernen Gesetz der Oligarchie" sprechen, aber doch die These wagen, dass unter den Bedingungen des westeuropäischen Kapitalismus systemoppositionelle Parteien stets im Parlament ihren weltanschaulichen Charakter aufgeben und opportunistische Züge annehmen.

Um es klar zu benennen: Die Wirtschaft, die großen Konzerne, werden jede nur denkbare Möglichkeit und als letztes Mittel neben allen Formen der legalen Bestechung auch "finanzielle Zuwendungen" und "Landschaftspflege" nutzen, um die Länderparlamente und den Bundestag als Herrschaftsmittel in ihrer Hand zu behalten. Deshalb war es von vorneherein vermessen, mit der Gründung einer Partei und dem Versuch, die Parlamente als Podium zu benutzen, diesen mächtigen Gegner auf solche Weise frontal anzugreifen.

Wenn die Linke etwas aus dem Vietnam-Krieg hätte lernen können, wäre es das gewesen, daß ein vom Material her stärkerer Gegner nicht frontal, sondern nur durch eine Guerilla-Taktik, und das heißt nichts anderes als dezentral mit Aussicht auf Erfolg bekämpft werden kann. Und wie schon Gandhi gelehrt hat, unterscheidet sich der gewaltfreie Kampf im Hinblick auf Strategie und Taktik in nichts vom Krieg.

Weiter zitiert Paul den konservativen Parteienforscher von Beyme:
"Sozialisten, Anarchisten, Christdemokraten, Bauernparteien, Kommunisten, Faschisten, Neopopulisten, ethnische und regionale Gruppen und Linkssozialisten sind im Laufe der letzten hundert Jahre in den meisten westlichen Systemen in die politische Arena getreten. Sie haben nicht selten als Bewegung begonnen, sich schließlich zur 'Partei neuen Typs' deklariert und haben am Schluss als Parteien unter anderen geendet."
und gibt ihm recht.
Wie dieses Beispiel zeigt, ist es durchaus möglich, den Wirkmechanismus zu erkennen, wenn mensch sich lange genug eingehend mit der Parteiengeschichte befaßt, ohne jedoch notwendig die Ursache, die hinter der Wirkung steht, wahrnehmen zu müssen.
Wenn allerdings heutzutage ein Jürgen Trittin daherkommt und uns als seine neue Errungenschaft erzählt: "Die Konzerne akzeptieren nun den Primat der Politik" würde sicherlich sogar von Beyme den Kopf schütteln und lächeln.

Nichts desto trotz habe ich zu von Beymes Aufzählung eine Kleinigkeit zu bekritteln und anzumerken. In der Aufzählung werden ungerechtfertigter Weise die Anarchisten aufgeführt. Meines Wissens hat es - außer dem untypischen Fall der Anarchosyndikalisten Spaniens zur Zeit des Bürgerkriegs - keine anarchistischen Parteien gegeben - dies ja gerade deshalb, weil sich Anarchisten aus eben derselben Erkenntnis heraus der Partei- und Parlaments-"Demokratie" verweigerten. Leider sind sie dabei einer Anti-Haltung verfallen und lehnten weitgehend jede Form der Organisation, die über rein informellen Austausch und die Produktion von Zeitungen hinausgegangen wäre, ab.

Leider trugen sie dadurch auch nichts oder wenig zur Debatte über Basisdemokratie bei. Diese fand jedoch - weitgehend von der Öffentlichkeit unbemerkt - zumindest in der Friedens- bewegung (Blockade Großengstingen) und deren Nachfolgegruppen wie zB. der Werkstatt für gewaltfrei Aktion, Baden, und in der Anti-AKW-Bewegung (Republik freies Wendland - bei der Platzbesetzung Gorleben) bis hin zu X-tausendmal-quer (von denen ich einen Text heute Nachmittag in die Diskussion stellte) statt. Daß in der Linken gelegentlich über Volksabstimmungen als "basis- demokratisches Korrektiv" zum nicht grundsätzlich in Frage gestellten Parlamentarismus diskutiert wurde, sehe ich dagegen eher als abwegige Debatten an...

Eine kleine Ungenauigkeit sehe ich auch in folgendem Abschnitt:
Dem Revisionismus der Sozialdemokratie folgte der Versuch, mit den neuen kommunistischen Parteien den alten revolutionären Impuls wieder aufzunehmen. Sobald aber diese sich aus ihrer Abhängigkeit von der UdSSR lösten, die Phase des s.g. "Eurokommunismus" in den 70ern, wurden auch sie zu sozialdemokratischen Parteien.

Den Versuch, einen revolutionären Impuls wiederauf- zunehmen erkenne ich wohl. Aber sicher nicht allein durch den Verlust von Menschen wie Rosa Luxemburg bedingt, zeigten die kommunistischen Parteien, wie z.B. die KPD schon seit Beginn der Weimaer Republik, keinerlei demokratischen Impuls, sondern waren durchweg "zentralistisch" - dh. hierarchisch von oben nach unten in der Befehlsstruktur - durchorganisiert. Hingegen ist mir der Eurokommunismus, z.B. der der PCI, mit seiner zumindest kurzfristigen partiellen innerparteilichen Demokratisierung mit dem Schlagwort "Sozialdemokratisierung" (da denk ich an Wehner ;-)) zu negativ abgetan.

Wiederum geradezu philosophischen Idealismus strahlt folgender Satz aus:
In einem Beitrag schrieb jemand, dass man ja in der Partei Kontakte zu Abgeordneten hätte und diese dann besser auf bestimmte Probleme hinweisen könnte. Wenn es kein heikles Thema ist und für den Abgeordneten nicht viel Arbeit bedeutet, wird er sich u.U. auch dafür einsetzen. Vernünftige, engagierte Leute können in allen Parteien etwas bewirken.
Erstens sind vernünftige, engagierte Leute in allen Parteien die Ausnahme und zweitens sind ihre Möglichkeiten äußerst beschränkt. Wenn es also auch bei heiklen Themen gelegentlich vorkommt, daß der Kontakt zu einem/einer Abgeordneten zu einem Erfolg führt, so handelt es sich dabei um die "Ausnahme, die die Regel bestätigt" und solche Ausnahmen rechtfertigen nicht, die eigene politische Energie in solch weitgehend aussichtslosen Bemühungezu vergeuden.
Eben die Beschränktheit und das oft gar völlige Fehlen von Handlungsmöglichkeiten unterstreicht das darauf im Text von Paul folgende Beispiel von Lafontaines Mitarbeiter Wolfgang Filc.

Übrigens muß sich Paul von Beiträgen von Kommunal- politikerInnen nicht nur erschrecken lassen. Ein ermutigendes Beispiel von Klarsicht fand ich in einem Diskussionsbeitrag der Badischen Zeitung vom 20.10.1999, an dem Birgit Degenhardt, seit 1994 als einzige Vertreterin der Liste 'Neue Perspektive' im Lörracher Gemeinderat, Dieter Salomon ("grüner" Landtagsabgeordneter und zugleich Freiburger Stadtrat), Barbara Ludwig, CDU-Stadtverbandsvorsitzende in Emmendingen und Gemeinderätin und Bernd Waldmann, SPD-Stadtrat in Freiburg, teilnahmen. Die Herren machten einen recht 'dämlichen' Eindruck, so daß ich auf z.T. recht drollige Zitate verzichte.
Frau Ludwig kritisierte z.B.: "Aber eine Vorlage der Verwaltung für den Gemeinderat muß ehrlicherweise auch enthalten, was vorher an Abwägungen [in den Ausschüssen, K.S.] stattgefunden hat."
Frau Degenhardt: "Die Naivität, daß ich die Verkehrspolitik in Lörrach bestimmen könnte, hatte ich keinesfalls. Aber ich möchte mehr machen, als daß ich im Gemeinderat ein bißchen widerspiegle, was irgendwer in der Bürgerschaft sagt, während die Verwaltung handelt."
Auf die Frage der BZ, ob die (...) Hierarchie im Gemeinderat die Gefahr berge, daß kleine Gruppierungen gar keine Chance zur Mitwirkung haben -
Frau Degenhardt: "Das ist so."
Auf einen Einwurf von Salomon, der damit endet: "...Und dann kommt die Frustration."
antwortet Frau Degenhardt:
"Diese grenzenlose Naivität gab es bei uns nicht. Wir haben immer versucht, Kontakte zu knüpfen und Gespräche zu führen im Vorfeld von Entscheidungen. Aber das ist nicht immer möglich, und gern wird man von den anderen um- gangen. Ich bin zudem die krasse Ausnahme unter den Kommunalpolitikern: Nach einer Untersuchung sind das im allgemeinen etwa 60-jährige Männer, die einen heraus- ragenden Beruf haben, in einem Sportverein oder der Feuerwehr tätig sind und die schon lange in der Gemeinde leben. Ich komme aus einer ganz anderen Lebenswelt. Nach meiner Mitarbeit in einer Bürgerinitiative kann ich sagen, daß der Nutzeffekt meines Engagements dort ungleich größer ist als im Gemeinderat."
Und Frau Ludwig ergänzt an anderer Stelle:
"Ich habe andere Erfahrungen gemacht. Bei uns gab es immer knappe Mehrheitsentscheidungen, nie einstimmige Beschlüsse. Und um diese knappen Mehrheits- entscheidungen wurde manchmal wüst gerungen. Wenn sie anders ausgefallen waren, als es die Verwaltung erwartet hatte, dann wurde eben solange gewartet, bis man den Punkt wieder auf die Tagesoednung setzen konnte in der Hoffnung, daß an diesem Tag ein Gemeinderatsmitglied fehlt, damit die knappen Mehrheitsentscheidungen anders ausfallen. Das ist wahnsinnig anstrengend, und deswegen war es nicht möglich einfach nur einmal Politik um der Politik willen zu machen."
Und nochmal Frau Degenhardt:
"Ich wehre mich gegen den Eindruck, daß ich ein typisches Weibchen wäre, das nicht die Macht möchte und das diesen sechsten Sinn für Politik nicht hätte. Aber das ist mir alles arg fremd. Ich hatte als Stadträtin einfach die Erwartung an bestimmte Voraussetzungen für meine Arbeit, kleine Dinge nur, etwa daß mir rechtzeitig die Vorlagen zugeschickt werden, daß Sitzungen zu Zeiten stattfinden, an denen ein arbeitender Mensch teilnehmen kann. Außerdem ist diese repräsentative Demokratie ja gar nicht repräsentativ, denn die Welt besteht ja nicht bloß aus 60-jährigen Männern. Mit meinen 38 Jahren bin ich die Zweitjüngste im Lörracher Gemeinderat."

Diesen Artikel sollten sich manche, die meinen, auf kommunaler Ebene (ich habe selbst genau solche Erfahrungen gemacht) sei die Welt noch in Ordnung, einrahmen und an die Wand hängen !

Zurück zu Pauls Text:
Der Gefahr, dass man, wenn man sich in die Strukturen begibt, wo man mitentscheidet, die ursprünglichen Motive nach und nach aus dem Auge verliert, sollte durch die Basisdemokratie begegnet werden.

Damit ist 'Basisdemokratie' verkürzt auf ein Verhinderungs- Instrumentarium (Rotation, Verbot von Ämterhäufung etc.). Es wird lediglich gesehen, was es an negativer undemokratisch- "repräsentativer" Entwicklung zu verhindern gilt. Auch bei den "Grünen" mangelte es von Anfang an daran, den Begriff Basisdemokratie positiv mit Leben zu erfüllen. Aber dazu hätte es Zeit und Engagement an der Basis bedurft - und die Basis wurde durch regelmäßige Wahlkampfeinsätze bis zur physischen und psychischen Erschöpfung getrieben und ausgelaugt, während sie sich in den Zwischenzeiten (Orts- oder Kreis- Mitgliedsversammlungen sind kaum besucht, es gibt keine Freiwilligen für lokale Vorstandsarbeit) lethargisch verzog...
So entwickelte sich z.B. nie eine wirkliche Diskussionskultur innerhalb der "Grünen", auch, weil die Anträge zu Landes- oder Bundesparteitagen nie so zeitig vorgelegen hatten als daß darüber je niveauvolle Diskussion vor Ort möglich gewesen wären.
Und Diskussion und - noch einen Schritt davor: Information über das, worüber abzustimmen ist - ist eine grundlegende Voraussetzung von Demokratie !

Daß Paul darauf verfällt, Basisdemokratie in plebiszitären Ergänzungen des Parlamentarismus zu suchen, verwundert mich nicht, wenn ich einen Abschnitt wie folgenden lese:

Ich denke, es sind zwei verschiedene Arten von Politik: Arbeit in Parteien und in von Parteien beschickten staatlichen Gremien nimmt stark Züge von "politischer Verwaltung" an. Die Arbeit von Greenpeace dagegen versucht Bewusstsein zu schaffen, aufzuklären. Man kann das als "politische Pädagogik" bezeichnen. (...)
Verbände wie Greenpeace, Robin Wood oder Amnesty International können unbefangen kritisieren, während Partein, die selbst in die staatliche Verwaltung integriert sind, dazu neigen, diese in Schutz zu nehmen. Auf der anderen Seite haben diese außerparlamentarischen Verbände und Bewegungen das Problem, dass sie nur appellieren können, aber selbst nichts entscheiden. Aus genau diesem Grund wurden ja seinerzeit die Grünen...

Das hört sich zunächst wie eine engagierte Verteidigung der Arbeit der Bürgerinitiativen und NGOs an...
Die Reduktion ihrer Funktion (so wichtig diese auch ist !) auf "politische Pädagogik", ist allerdings falsch. Wie die Beispiele 'Schönau' und die Tauschringe und die (wenn auch wenigen erfolgreichen) Initiativen für freie Schulen zeigen, ist es BIs durchaus möglich, konkret politisch zu gestalten. Dies fällt bei den genannten Beispielen positiv ins Auge, während es jedoch bei BIs, die "nur" etwas verhindern konnten - wie Müllverbrennungsanlagen, Umgehungsstraßen, Flugplätze, Teststrecken u.s.w. - nicht so offensichtlich ist, daß sie damit auch politisch gestaltend wirksam waren. Das Handicap der BIs lag ganz wo anders: Nämlich in ihrer Fixierung auf ein Ziel, die sogenannte single-issue-Orientierung. Deshalb waren einige der frühen Bunten und Alternativen Listen, die großenteils in den "Grünen" aufgingen auch in ent- sprechenden Arbeitskreisen organisiert: AK Wasser, AK Frauen, AK Verkehr, AK Wohnen, AK Umwelt, AK Berufsverbote,... in denen sich Leute zusammenfanden, die das notwenig kurzlebige BI-Engagement vernetzen wollten.

Genau diesen Gedanken der Vernetzung und der organisatorischen Struktur in kleinen Gruppen gilt es wieder aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Nur wenn wir erreichen können, daß sich dies dezentral, an vielen Orten zugleich entwickelt, könne wir der geballten Macht der Wirtschaft etwas Wirkungsvolles entgegensetzen.

Ciao
  Klaus

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