Die Situation der Seehunde im Wattenmeer ein Jahr nach der großen Seuche
Seehunde sind Lieblinge der Touristen. Jedes Leid, was ihnen widerfährt, wird daher fast automatisch zu einer nationalen
Katastrophe. Besonders lang hält diese Betroffenheit jedoch nie an und es werden auch kaum Lehren für den
Umweltschutz daraus gezogen. Die in den letzten Jahren immer regelmäßiger im Wattenmeer auftretenden Tierseuchen,
wie die Seehundstaupe, haben dabei eindeutige Zusammenhänge mit der zunehmenden Umweltverschmutzung. Das
Ökosystem Wattenmeer ist noch empfindlicher als andere Meeresbereiche. Die wachsenden Umweltbelastungen, seien
sie gewollt oder fahrlässig verursacht, bedrohen dabei die Existenz vieler seltener Tier- und Pflanzenarten. Nach dem
erneuten Ausbrechen der Seehundstaupe 2002 haben sich die Bestände im Laufe dieses Jahres etwas erholt, doch an
den wahrscheinlichen Ursachen des Massensterbens wurde nichts geändert.
Im letzten Jahr waren ausgehend von der dänischen Ostseeinsel Anholt die Bestände der Seehunde von rund 19.000 binnen
4 Monaten in Ost- und Nordsee um zirka 60 Prozent dezimiert worden. Tausende tote Seehunde wurden an den Küsten
angeschwemmt und mußten von den Naturschutzbehörden geborgen werden. Schon einmal, im Jahre 1988, gab es eine
ähnlich große Verbreitung der Seuche. Damals wurden allein im Wattenmeer 8.600 an Seehundstaupe verendete Tiere
gefunden. Auch 1988 war Anholt der Ausgangspunkt der Katastrophe. Im Laufe des Jahres 2003 nahmen die Bestände
wieder leicht zu. Der Anteil der Jungtiere am Gesamtbestand lag in diesem Sommer bei etwa 28 Prozent. Normal ist
dagegen eine Vermehrungsquote von knapp über 20 Prozent. Dies lag unter anderem daran, daß wesentlich mehr
Weibchen als Männchen die Seuche überlebt haben.
In früheren Jahrzehnten war ein solch massives Auftreten der Seehundstaupe nicht bekannt. Die Krankheit, wissenschaftlich
Phocine Distemper Virus (PDV) genannt, ist nicht auf den Menschen übertragbar, jedoch auf Haustiere wie zum Beispiel
Hunde. Bei Hunden bricht die Seehundstaupe allerdings nicht aus. Die im deutschen Wattenmeer lebenden Kegelrobben
verenden nur in Einzelfällen an einer PDV-Infektion. Eine Impfung der Seehunde gegen PDV ist weder durchführbar noch
beabsichtigt. Diese Epidemien sind nicht durch zu hohe Bestandszahlen verursacht. Die Verschmutzung des Meeres
scheint dagegen das Immunsystem der Seehund irreparabel zu schädigen. Die Seehundbestände werden bisher durch 5
Zählflüge pro Jahr überwacht. Die drei deutschen Nationalparks Niedersächsisches-, Hamburgisches- und
Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer, spielen in Sachen Naturschutz eine wichtige Rolle. Allerdings sind die absoluten
Ruhezonen relativ klein. Massenweise werden zudem Touristen per Schiff nahe an die Seehundbänke kutschiert. Bei
solch vielen Störungen können sich gerade die Heuler am scharfen Sand ihre Bäuche aufschlitzen.
Das deutsche Wattenmeer (von wad altfriesisch für seicht, untief) ist nicht nur ein empfindliches Ökosystem, sondern
auch weltweit einzigartig. Nur hier in der Nordsee fällt der Meeresboden zur offenen See nur so leicht ab. Zwar gibt es
auch woanders große sedimentführende Flüsse, doch nur an der Nordsee ist der Tidenhub so ideal, um Material aus
dem Meer anzulanden. Dünen und Sandbänke wirken als natürliche Wellenbrecher. Das gemäßigte Klima bedingt den
offenen Charakter der Gezeitenlandschaft. Läge unser Wattenmeer in den Tropen, hätten wir dort unter ansonsten gleichen
Bedingungen Mangrovenwälder. Charakteristisch für das deutsche Wattenmeer sind die sogenannten Salzwiesen, die
sozusagen mit der Zeit aus dem Schlick herauswachsen und dann nur noch unregelmäßig überflutet werden. Trotz
des relativ lebensfeindlichen Standortes leben in den Salzwiesen 25 Pflanzenarten und 400 Arten Insekten. So ist das
Wattenmeer auch die zentrale Drehscheibe für die riesigen Schwärme des ostatlantischen Vogelzuges, die hier zwischen
Nordland und Mittelmeer ihre Kräfte auftanken.
Diese einzigartige Welt ist immer noch stark bedroht. Schadstoffeinleitungen in Luft und Flüsse, Müllverklappungen auf
See, Schiffskollisionen und undichte Ölplattformen bilden dabei die Hauptgefahren für das deutsche Wattenmeer. In der
Deutschen Bucht dauert es drei Jahre, bis sich das Wasser komplett mit dem des Nordatlantik ausgetauscht hat.
Ein wirklicher Schutz ist nur durch internationale Abkommen möglich. An einem ernsthaften Schutz der Umwelt hat
das Kapital jedoch kein Interesse. So müssen die bisher verabschiedeten Richtlinien, wie das MARPOL-Abkommen
und die Beschlüsse der drei Internationalen Nordseeschutzkonferenzen wirkungslos bleiben. Die nächste Seuche bei
den Seehunden ist also nur eine Frage der Zeit.
Falk Hornuß