16.10.2003

Artikel

Babyboom
bei den Seehunden

Die Situation der Seehunde im Wattenmeer ein Jahr nach der großen Seuche

Seehunde sind Lieblinge der Touristen. Jedes Leid, was ihnen widerfährt, wird daher fast automatisch zu einer nationalen Katastrophe. Besonders lang hält diese Betroffenheit jedoch nie an und es werden auch kaum Lehren für den Umweltschutz daraus gezogen. Die in den letzten Jahren immer regelmäßiger im Wattenmeer auftretenden Tierseuchen, wie die Seehundstaupe, haben dabei eindeutige Zusammenhänge mit der zunehmenden Umweltverschmutzung. Das Ökosystem Wattenmeer ist noch empfindlicher als andere Meeresbereiche. Die wachsenden Umweltbelastungen, seien sie gewollt oder fahrlässig verursacht, bedrohen dabei die Existenz vieler seltener Tier- und Pflanzenarten. Nach dem erneuten Ausbrechen der Seehundstaupe 2002 haben sich die Bestände im Laufe dieses Jahres etwas erholt, doch an den wahrscheinlichen Ursachen des Massensterbens wurde nichts geändert.

Im letzten Jahr waren ausgehend von der dänischen Ostseeinsel Anholt die Bestände der Seehunde von rund 19.000 binnen 4 Monaten in Ost- und Nordsee um zirka 60 Prozent dezimiert worden. Tausende tote Seehunde wurden an den Küsten angeschwemmt und mußten von den Naturschutzbehörden geborgen werden. Schon einmal, im Jahre 1988, gab es eine ähnlich große Verbreitung der Seuche. Damals wurden allein im Wattenmeer 8.600 an Seehundstaupe verendete Tiere gefunden. Auch 1988 war Anholt der Ausgangspunkt der Katastrophe. Im Laufe des Jahres 2003 nahmen die Bestände wieder leicht zu. Der Anteil der Jungtiere am Gesamtbestand lag in diesem Sommer bei etwa 28 Prozent. Normal ist dagegen eine Vermehrungsquote von knapp über 20 Prozent. Dies lag unter anderem daran, daß wesentlich mehr Weibchen als Männchen die Seuche überlebt haben.

In früheren Jahrzehnten war ein solch massives Auftreten der Seehundstaupe nicht bekannt. Die Krankheit, wissenschaftlich Phocine Distemper Virus (PDV) genannt, ist nicht auf den Menschen übertragbar, jedoch auf Haustiere wie zum Beispiel Hunde. Bei Hunden bricht die Seehundstaupe allerdings nicht aus. Die im deutschen Wattenmeer lebenden Kegelrobben verenden nur in Einzelfällen an einer PDV-Infektion. Eine Impfung der Seehunde gegen PDV ist weder durchführbar noch beabsichtigt. Diese Epidemien sind nicht durch zu hohe Bestandszahlen verursacht. Die Verschmutzung des Meeres scheint dagegen das Immunsystem der Seehund irreparabel zu schädigen. Die Seehundbestände werden bisher durch 5 Zählflüge pro Jahr überwacht. Die drei deutschen Nationalparks Niedersächsisches-, Hamburgisches- und Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer, spielen in Sachen Naturschutz eine wichtige Rolle. Allerdings sind die absoluten Ruhezonen relativ klein. Massenweise werden zudem Touristen per Schiff nahe an die Seehundbänke kutschiert. Bei solch vielen Störungen können sich gerade die Heuler am scharfen Sand ihre Bäuche aufschlitzen.

Das deutsche Wattenmeer (von wad altfriesisch für seicht, untief) ist nicht nur ein empfindliches Ökosystem, sondern auch weltweit einzigartig. Nur hier in der Nordsee fällt der Meeresboden zur offenen See nur so leicht ab. Zwar gibt es auch woanders große sedimentführende Flüsse, doch nur an der Nordsee ist der Tidenhub so ideal, um Material aus dem Meer anzulanden. Dünen und Sandbänke wirken als natürliche Wellenbrecher. Das gemäßigte Klima bedingt den offenen Charakter der Gezeitenlandschaft. Läge unser Wattenmeer in den Tropen, hätten wir dort unter ansonsten gleichen Bedingungen Mangrovenwälder. Charakteristisch für das deutsche Wattenmeer sind die sogenannten Salzwiesen, die sozusagen mit der Zeit aus dem Schlick herauswachsen und dann nur noch unregelmäßig überflutet werden. Trotz des relativ lebensfeindlichen Standortes leben in den Salzwiesen 25 Pflanzenarten und 400 Arten Insekten. So ist das Wattenmeer auch die zentrale Drehscheibe für die riesigen Schwärme des ostatlantischen Vogelzuges, die hier zwischen Nordland und Mittelmeer ihre Kräfte auftanken.

Diese einzigartige Welt ist immer noch stark bedroht. Schadstoffeinleitungen in Luft und Flüsse, Müllverklappungen auf See, Schiffskollisionen und undichte Ölplattformen bilden dabei die Hauptgefahren für das deutsche Wattenmeer. In der Deutschen Bucht dauert es drei Jahre, bis sich das Wasser komplett mit dem des Nordatlantik ausgetauscht hat. Ein wirklicher Schutz ist nur durch internationale Abkommen möglich. An einem ernsthaften Schutz der Umwelt hat das Kapital jedoch kein Interesse. So müssen die bisher verabschiedeten Richtlinien, wie das MARPOL-Abkommen und die Beschlüsse der drei Internationalen Nordseeschutzkonferenzen wirkungslos bleiben. Die nächste Seuche bei den Seehunden ist also nur eine Frage der Zeit.

 

Falk Hornuß

 

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