Täter ohne Profil ?
Menschen, die aus politischen Vorsätzen anderen Menschen Leid zufügen, Folterer, Mörder, auch Massenmörder, sind schon erforscht, ihr Leben
beschrieben worden. Im jeweiligen politischen Kontext ist die “Banalität des Bösen” längst kein Rätsel mehr. Menschen töten aus geringsten
Anlässen, und sei es, um nur nicht “nein” sagen zu müssen, nur ja konform zu bleiben, wie uns der Sozialpsychologe Stanley Milgram mit seinen
Experimenten schon vor Jahrzehnten zu zeigen wußte. Die Palette des ureigenen Vorteils ist vielfältig und reicht von der simplen Vermeidung
psychischen Unbehagens bis zur narzistischen Aufblähung durch omnipotente Allmachts- phantasien, allesamt einer vermeintlich “guten Sache”
wegen.
Spätestens seit dem 11. September 2001 - durch die täglichen Nachrichten aus dem Nahen Osten verstärkt - starren wir auf ein mörderisches
Phänomen, das sich diesen Erklärungs- ansätzen entzieht: Die Selbstmordattentäter. Menschen, deren (politische) Ziele wichtiger sind, als ihr eigenes
Leben. Menschen, die ihr Leben zur Waffe funktionalisieren und damit die basale Rationalität von Eigeninteresse und Todesfurcht ebenso außer
Kraft setzen, wie die Logik der politischen Macht. Wer nicht überleben will, ist auch mit nichts zu bedrohen. Für sie hat der Tod seinen Schrecken
verloren. Bewunderung, Verehrung, Angst, Schock, Hass, Rache führen dann zu manichäischen Konstruktionen von “Gut” und “Böse” - aber zu
keinem Verständnis.
In letzter Zeit haben drei Autoren versucht, sich dem Phänomen der politischen Selbstopferung aus unterschiedlichem Blickwinkel und Motivlagen
zu nähern. Einer von ihnen ist der Aushilfslehrer für Elektrotechnik Abd Samad Moussaoui aus Montpellier. Der Beginn seiner Reflexionen lässt
sich genau datieren. Es war der 13. September 2001, als er mit dem Auto auf dem Heimweg war und Radio hörte. Geschockt vernahm er plötzlich
seinen Namen - genauer: den seines Bruders Zacarias, der eben in den USA verhaftet, an den Attentaten auf das World Trade Center beteiligt
gewesen sein soll. Das Leben war verändert. Neben Verdächtigungen, Drohungen und Verleumdungen überschütteten Polizei, Presse, Freundes-
und Bekanntenkreis Abd Moussaoui mit Fragen über den ein Jahr jüngeren Bruder, den er vor sechs Jahren zum letzten mal gesehen hatte.
Antworten hatte er keine - warum schloss er sich radikalen fundamentalistischen Muslimen an? Warum ging er in die USA? Warum wollte er dort
fliegen lernen und zeigte auffallend kein Interesse an Start- und Landemanöver? Abd Moussaoui wollte stattdessen sich und anderen verständlich
machen, wie sich das Leben des Bruders entwickelte, das er lange Jahre geteilt hatte und in einer rätselhaften Entfremdung endete. Die lesenswerte
Familiengeschichte marokkanischer Einwanderer in Frankreich vermag die sozial-politischen Hintergründe auszuleuchten, trotzdem sie die
entscheidenden Fragen offen lässt: warum gerade jetzt, warum er und nicht andere?
Eindrucksvoll beschreibt der gedrängte Autor das Scheitern seiner Eltern, deren historisch-kultureller background, Hautfarbe und Sprache nach
Marokko wiesen, während die vier Kinder in Frankreich aufwuchsen. Nach der Scheidung findet die Mutter Arbeit als Putzfrau in Mulhouse, die
Kinder kamen ins Waisenhaus und waren von da an “die einzigen Schwarzen mit elsässischem Akzent”. Vielerorts Gelächter. Für die Brüder der
lebensentscheidende Bruch - sie waren keine Franzosen und keine Nordafrikaner, kannten nicht mal heimische Bräuche und kein Wort arabisch.
“Diese unklare Zugehörigkeit hat mich, ebenso wie Zacarias, mein ganzes Leben verfolgt.” Trotzdem mit entscheidendem Unterschied. Zacarias
Moussaoui wurde verbittert, zog sich zurück aus einer Gesellschaft, die zusehends von einem Rassismus Le Pens durchzogen war. Er legte zwar
noch ein Technikerdiplom ab, hatte aber keine französischen Freunde mehr. Rassismus wurde zu einer fixen Idee und seine fehlenden historischen
Wurzeln wurden durch eine gesteigerte muslimische Identität ersetzt. Bald gab es nur ein Thema: Golfkrieg, Bosnien, Algerien, Palästina,
Tschetschenien... die verfolgten Muslime auf der Welt.
Der Bruder registrierte besorgt, aber ohne Verdacht diese Entwicklung vom lebenslustigen Jungen, der Profisportler werden wollte, zum
ehrgeizigen, erfolgsheischenden Schüler und Facharbeiter, bis zum introvertierten, verbitterten Studenten, der seinen Weg suchte, der plötzlich nach
London führte.
International Business wollte er studieren und bald kannte er auch die englische Sprache, aber keine Engländer. Das war auch nicht notwendig, wie
der Bruder erfuhr, denn in der fanatischen wahhabitischen Bewegung waren alle Immigranten muslimischer Herkunft gut aufgehoben. Finanzielle
Unterstützung, soziale Geborgenheit und Zukunftsperspektiven sind die ersten Reize der Anwerbung kulturell und familiär Entwurzelter, die bald für
höhere Aufgaben bestimmt sind. Ab nun weiss Abd Moussaoui über seinen Bruder nicht mehr viel zu sagen. Der gemeinsame Freund Xavier sollte
ihm jeden Verdacht bestätigen. Der lebenslustige, unreligiöse Technikstudent mit schwarzer Hautfarbe folgte Zacarias nach London, wo er sich
ebenfalls den Anschauungen der Wahhabiten anschloss. Wenige Jahre später wird der Autor zur Polizei vorgeladen. Farbfotos lagen auf dem
Tisch. Xavier im Drillichanzug und geschlossenen Augen. “Gefallen in Tschetschenien.”
Abd Moussaoui ist anzuerkennen, dass er sich um Distanz und Verständnis bemüht. Ein schwieriges Unterfangen, an dem der Journalist und
Dokumentarfilmer Raid Sabbah scheitert. Eine vertane Chance. Fünf Nächte lang hatte er die Gelegenheit im Flüchtlingslager von Dschenin mit dem
Palästinenser Said zu sprechen, der sich in lauter Verzweiflung für den Märtyrertod entschieden hat und versteckt auf seinen Auftrag und Bombe
wartet. Der Autor glaubt “zu begreifen, was in einem Selbstmordattentäter vorgeht”, glaubt “seine Erfahrungen zu teilen”, wenn er das Gehörte in
seinen Worten nahezu unkommentiert 1:1 zu reproduzieren trachtet. Statt dessen entsteht ein schaurig fasziniertes Porträt eines 29-jährigen, der
seinen Tod zum Geschenk rationalisiert.
Trotz allem erfährt der Leser Einzelheiten einer biographischen Leidensgeschichte, die den israelisch-palästinensischen Konflikt der letzten
Jahrzehnte wiederspiegelt und doch oft in Vergessenheit gerät. Die Vertreibung der Familie aus ihren Olivengärten im Westjordanland durch
jüdische Siedler, Verhaftung des Vaters, der verzweifelte, symbolische Griff der Kinder zur Steinschleuder gegen die Soldaten, die die Mutter
erschossen hatten. Schließlich vier Jahre Gefängnis und Folter im Al-Far’a-Verwahrungslager. Said ist ein gebrochener Mensch, für den soziale
Entwurzelung und Demütigung zum Alltag wird. Ein Gefühl der Stärke überkommt ihn erst, als er seine eigene M16 in Händen hält. Ein Geschenk
von Jamal, der führend in der Bewegung des Dschihad Al Islami die Anwärter auswählt, ihnen Zeit und Einsatzort mitteilt und den Sprengstoff
besorgt.
Allzu geradlinig zeichnet Raid Sabbah die Entwicklung von der Unerträglichkeit der Unterdrückung zum Widerstand, der nicht in einem besseren
Leben, sondern im Tod gipfeln soll und hinterlässt die offene Fragen: warum gerade jetzt, warum er und nicht andere?
Fragen, denen der Islamist Christoph Reuter mit einer äußerst informativen Arbeit auf den Grund geht. Auf über 400 Seiten nimmt sich der kundige
Autor den Raum, um das Phänomen der Selbstmordattentäter historisch und politisch in einen internationalen Kontext zu beleuchten. Es ist kein
Psychogramm - so der irreführende Untertitel des Buches - sondern ein facettenreiches Konglomerat an Informationen nach jahrelanger
Recherchearbeit. Obendrein, flüssig und verständlich geschrieben.
Reuters spannt den Bogen von der Schlacht bei Kerbala (Irak) im 8. Jahrhundert, als 72 Getreue in der Nachfolge Mohammeds gegen ein tausend
Mann starkes Heer den Untergang wählten, zum allmächtigen Schiitenführer Chomeini, der diesem Mythos folgend, zehntausende Kinder und
Jugendliche als menschliche Angriffswellen gegen den Irak in den Tod schickte. Chomeini war der erste, der eine religiöse Rechtfertigung für das
Selbstopfer im Namen des Islam beschwörte und die westliche Öffentlichkeit mit einem Begriff konfrontierte: “Dschihad” - heiliger Krieg. Während
es im Iran nach bis zu einer Million Gefallener zu einer “Märtyrerinflation” kam, ohne irgend einen Vorteil zu erzielen, wurde die Idee vom
Märtyrertum als iranischer Revolutionsexport weitergetragen: zur Hisbollah in den Libanon Mitte der 80er Jahre. “Die Hisbollah hat den
sprengstoffbeladenen Märtyrer erst wahrhaftig zum Mythos werden lassen - in der arabischen Welt, in Sri Lanka, der Türkei, Tschetschenien. Und
zwar gerade nicht, weil es die Taten von Verzweifelten waren - sondern weil es überlegt gesetzte, sparsam verwandte Operationen waren, die ein
Minimum an Opfern und maximale Wirkung versprachen.” Trotzdem sind die Selbstmordattentate die Waffe der Ohnmächtigen. Die traurige Logik
einfach: “Als Lebender bist du hier nichts.” zitiert Reuters einen palästinensischen Schuldirektor, “Als Toter kannst du ein Held werden, wenigstens
für einen Moment.” Die letzten Worte auf Video verbreitet, und für die Hinterbliebenen irdische Versorgung. Und die Terrorbekämpfer? Sie
drehen mit an der Spirale der Gewalt durch Vergeltung der Vergeltung der Vergeltung, ohne an den ursächlichen Lebensbedingungen etwas zu
verbessern. Im Gegenteil. Sie führen einen “totalen Krieg”. Aber gegen wen? Jahrelang haben die Analytiker der israelischen Geheimdienste am
Profil des “typischen Selbstmordattentäters” gearbeitet, um schließlich zu merken: Es gibt keines. Und der israelische Psychologe Ariel Merari
erzählte dem Autor: “Die Selbstmordkommandos sind in ihrer Zusammensetzung ein Spiegelbild ihrer Gesellschaft. Und in der haben sie alle
Schranken überwunden: Es sind Männer vom Lumpenproletariat dabei und Universitätsabsolventen, Arme, aber auch zwei Söhne von Millionären.
Es sind immer noch vor allem Gläubige, aber nicht nur. Nur in einem von 34 Fällen war ein ganz naher Verwandter erschossen worden.” Im Jänner
2002 sprengte sich in Jerusalem die erste Frau. Wafa Idris, 28 Jahre, war nicht religiös, war eine engagierte Rettungssanitäterin beim Roten
Halbmond, die Leben rettete. Hinter dem leeren Sarg laufen junge Mädchen voller Bewunderung für ihre Heldin und bringen dabei eine makabre
Bedeutung von Emanzipation in Erfahrung: “Der Dschihad ist nicht nur für Männer!”
Die unerträgliche Ohnmacht ist das stärkste Antriebsmoment, so Eyad Sarradsch, der in Gaza ein Mental Health Project leitet, und bringt auf den
Punkt: “Das Leben und Sterben aber der eigenen Person und noch vielleicht von zwei Dutzend weiteren buchstäblich in der Hand zu haben, ist die
ultimative Macht.” Und um in den Genuss dieser Macht zu gelangen, bedarf es keiner nationalen Verankerung mehr. Die Jünger der Al-Qaida
brauchen als nächstes Kampfziel kein bestimmtes Territorium - sondern die Welt.
Christoph Reuter hat ein spannendes und wichtiges Buch geschrieben. Er verfällt in seiner Arbeit keinen psychologistischen Deutungsversuchen,
sondern bleibt in seinen Analysen auf einem sachlich historisch-politischen Terrain.
Die Bücher:
Abd Samad Moussaoui
(unter Mitarbeit von Florence Bouquillat):
Zacarias Moussaoui. Mein Bruder.
Pendo Verlag. 2002. 175 Seiten.
Raid Sabbah
Der Tod ist ein Geschenk.
Die Geschichte eines Selbstmordattentäters.
Droemersche Verlagsanstalt. 2002. 253 Seiten.
Christoph Reuter
Mein Leben ist eine Waffe.
Selbstmordattentäter - Psychogramm eines Phänomens.
C. Bertelsmann Verlag. 2002. 448 Seiten.
Karl Fallend
Nachveröffentl. aus: Die Presse - Spectrum. 18. Jänner 2003