Offener Brief des Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma,
Romani Rose, an Bundeskanzler Gerhard Schröder und den Ministerpräsidenten
des Landes Thüringen, Herrn Dieter Althaus
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
ich bitte um Verständnis, dass ich mich wegen der zentralen Gedenkfeier zum
60. Jahrestag der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager
im Nationaltheater Weimar am 10. April 2005 auf diesem Weg an Sie wende.
Wie nun bekannt wurde, wird unserem Wunsch, einen Repräsentanten aus unserer
Minderheit als Redner für diesen Gedenkakt einzuladen, nicht entsprochen.
Die Entscheidung, für diesen wohl letzten bedeutenden historischen
Jahrestag, an dem Überlebende teilnehmen können, lediglich Vertreter der
jüdischen Opfer sowie der politisch Verfolgten als Redner zu laden, jedoch
unseren Opfern die Stimme zu verweigern, hat vor allem bei unseren alten
Menschen Unverständnis und Empörung ausgelöst. Damit wird eine unrühmliche
Tradition bundesdeutscher Erinnerungspolitik fortgesetzt, nämlich Sinti und
Roma aus dem offiziellen Gedenken auszuschließen oder sie allenfalls als
Fußnote zum Völkermord an den Juden zu erwähnen. Eine würdige und
wahrhaftige Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen
Menschheitsverbrechen ist jedoch unteilbar.
Sie, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, haben in Ihrer damaligen
Eigenschaft als Bundesratspräsident anlässlich der Gedenkstunde für unsere
Holocaust-Opfer am 19. Dezember 2003 gesagt: "Die Erinnerung an das
Schicksal der Sinti und Roma im Nationalsozialismus hat ihre eigene
Berechtigung, und das Gedenken an ihre Toten und Geschundenen besitzt seine
eigene Würde. Es ist von keiner anderen Verfolgtengruppe geborgt und
abgeleitet. Der Völkermord an den Sinti und Roma stellt ein historisches
Faktum von unabhängiger Relevanz dar, der nicht übersehen oder verleugnet
werden darf, und mit dessen Ursachen und Folgen wir uns auch künftig
auseinandersetzen müssen."
Die polnische Regierung hat es als selbstverständlich erachtet, mich als
einen der Hauptredner zur zentralen Gedenkfeier im Staatlichen Museum
Auschwitz am 27. Januar einzuladen. Während die ehemalige Präsidentin des
EU-Parlaments Simone Veil und der israelische Staatspräsidenten Katzav der 6
Millionen ermordeten Juden gedachten, habe ich in meiner Ansprache
stellvertretend für die nationalen Roma-Minderheiten an die 500.000
Angehörigen unserer Minderheit erinnert, die im nationalsozialistisch
besetzten Europa dem Völkermord zum Opfer fielen.
Sechzig Jahre nach der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrations-
und Vernichtungslager wäre es auch international ein fatales Signal, wenn in
dem Land, von dem aus der Völkermord seinen Ausgang nahm, Sinti und Roma von
dem offiziellen Gedenkakt der Bundesrepublik im Nationaltheater Weimar
ausgeschlossen blieben. Allein im KZ Buchenwald und seinen Außenlagern
wurden mehrere Tausend Angehörige unserer Minderheit gequält und ermordet.
Es gibt kaum ein Konzentrationslager, an dem nicht auch Sinti und Roma Opfer
tiefster Menschenverachtung wurden.
Die historische Dimension dieser Verbrechen brachte der damalige
Bundespräsident Roman Herzog unmissverständlich zum Ausdruck, als er
anlässlich der Eröffnung unseres Heidelberger Dokumentationszentrums am 16.
März 1997 sagte: "Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen
Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur
planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den
Juden. Sie wurden im gesamten Einflussbereich der Nationalsozialisten
systematisch und familienweise vom Kleinkind bis zum Greis ermordet."
Wir begrüßen es, dass der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland
und ein jüdischer Überlebender an die Leiden der jüdischen Opfer erinnern.
Unsere alten Menschen, die bis heute seelisch und körperlich von der
erlittenen Verfolgung gezeichnet sind, werden diese Gedenkfeier im Fernsehen
mitverfolgen. Sie werden es der deutschen Politik nicht verzeihen, wenn
unserer Minderheit eben dieses Recht verweigert wird.
Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, haben eine Verpflichtung gegenüber
allen Opfern der nationalsozialistischen Völkermordverbrechen. Ich richte
deshalb noch einmal den eindringlichen Appell an Sie und an Herrn
Ministerpräsidenten Althaus, die getroffenen Entscheidungen zu revidieren
und dafür Sorge zu tragen, dass die Sinti und Roma an diesem bedeutenden
historischen Jahrestag nach Jahrzehnten des Verdrängens der an ihnen
begangenen Verbrechen endlich eine eigene Stimme erhalten.
Mit freundlichen Grüßen
Romani Rose