17.09.2006

Sternmarsch gegen Sozialabbau

Knapp 10.000 demonstrierten in Berlin

Ein breites Bündnis hat auch ohne Unterstützung der Gewerkschaftsbürokratie knapp 10.000 Menschen aus der gesamten Bundesrepublik zu einem Sternmarsch gegen Sozialabbau in Berlin zusammenführen können.

Bei strahlendem Sonnenschein vereinigten sich drei Demonstrationszüge am Alexanderplatz. Bei der dortigen Zwischenkundgebung konnte das "offene Mikrofon" für Redebeiträge genutzt werden. Sehr pointiert und unverkrampft sprach eine junge Frau vom 'Revolutionär Sozialistischen Bund'. Sie griff die Erfahrungen der großen SchülerInnen-Demo vom Vortag auf und wies stringent darauf hin, daß nach französischem Beispiel eine Einheit zwischen SchülerInnen, Studierenden, Erwerbslosen und Lohnabhängigen den entscheidenden Wendepunkt herbeiführen könne.

Vom Alex aus zog die explizit gegen die "schwarz-rote" Regierungspolitik gerichtete Demonstration über den Boulevard 'Unter den Linden' zum Brandenburger Tor. An den mitgeführten Transparenten war weithin sichtbar, daß Montags-Demos aus über 100 Städten zu den maßgeblichen Kräften gehörten, die eine solche beachtliche Zahl an TeilnehmerInnen organisiert hatten.

Vor dem Brandenburger Tor kam eine erstaunliche Vielfalt an Redebeiträgen zum Zug. Fred Schirrmacher von der bundesweiten Organisation der Montags-Demo-Bewegung hob den eigenständigen und überparteilichen Charakter der Montags-Demos hervor. In seiner Rede wies er auf den eklatanten Widerspruch hin, daß "Schwarz-Rot" noch vor einem halben Jahr mit nahezu einstimmigem Medienecho von einem Minus durch Hartz IV gesprochen hatte und daß nunmehr offiziell von einem Überschuß von über 9 Milliarden Euro die Rede ist. "Offenbar schert die Meinung der Bürger dieses Landes die Politiker einen Dreck!" erklärte Schirrmacher unter großem Beifall.

Globalisierung und internationaler Terrorismus seien für die Politk nur ein Vorwand. Es müsse nicht verwundern, wenn viele keinen Unterschied mehr erkennen können, ob sie ihr Kreuz bei der CDU oder bei der NPD machen. Schirrmacher kritisierte einerseits die Führungsspitze des DGB, die sich zu keiner Unterstützung des Sternmarsches hatte durchringen können. Die für den Aktionstag am 21. Oktober vorgesehene Parole "Das geht besser" sei lächerlich. Wenn DGB-Chef Sommer die Politik von "Schwarz-Rot" kritisch begleiten wolle, statt sie zu bekämpfen, müsse er sich sagen lassen: Es gibt nichts an dieser Politik zu begleiten. Zugleich jedoch rief Fred Schirrmacher zur Beteiligung am 21. Oktober auf. Zusammen mit der Gewerkschaftsbasis gelte es, die Politik von "Schwarz-Rot" anzugreifen - ein "heißer Hebst" stehe bevor.

Als Zweite sprach Birgit Kühr, die ebenso wie Fred Schirrmacher hervorhob, keiner Partei anzugehören. Kühr ist Aktivistin bei der Montags-Demo Angermünde in Brandenburg. Auch in Zukunft werde sie sich den nicht Mund verbieten lassen. Leider seien viele, die sich noch im Sommer 2004 bei den Montags-Demos engagierten inzwischen resigniert. Sie frage sich, wenn das Volk nicht gegen das "Fortentwicklungsgesetz" aufstehe, was denn noch alles kommen müsse. Etwa elektronische Fußfesseln für ALG-II-Empfänger? Birgit Kühr prangerte an, daß ALG-II-Empfänger nun sogar als unbewaffnete Patrouillen im öffentlichen Nahverkehr eingesetzt werden sollen. Sie prangerte an, daß der Regelsatz von 345 Euro auf 242 Euro gekürzt werden soll, zählte die schwerwiegendsten Schritte bei Sozialabbau wie Erhöhung der Mehrwertsteuer, Gesundheitsreform und Studiengebühren auf und meinte, dies müsse eigentlich zur Forderung nach Rücktritt der Regierung führen.

Birgit Kühr ließ keinen Zweifel daran, daß nach ihrer Meinung Merkel und Müntefering bestraft werden müßten. Auch sie forderte dazu auf, sich an den Demonstrationen am 21. Oktober mit eigenen Parolen zu beteiligen.

Stefan Engel, Parteivorsitzender der MLPD, lobte in seinem Redebeitrag den "selbständigen" Beitrag der über 100 Montags-Demos. Keine der großen Parteien oder Gewerkschaften hätten zum heutigen Sternmarsch aufgerufen und dennoch könne jeder an der Vielzahl gewerkschaftlicher Fahnen erkennen, daß die Gewerkschaftsbasis zahlreich vertreten sei. Ein Beweis, so Stefan Engel, daß dies der richtige Weg sei.

Auch die Gewerkschaftsführung wurde von Engel heftig kritisiert. Am 21. Oktober solle laut DGB-Chef Sommer gar nicht demonstriert, sondern Vorschläge gemacht werden, was die "schwarz-rote" Regierung besser machen könne. Und dies, so Engel, obwohl sie in den tiefsten Umfrage-Keller gerutscht sei, den je eine Regierung erreicht habe.

Der MLPD-Vorsitzende lobte die Montags-Demo-Bewegung für ihre neue demokratische Streitkultur und das "offene Mikrophon". Unvermeidlich hob er auch die nicht unumstrittene Parole "Neue Politiker braucht das Land" hervor. Zugleich bestätigte er den überparteilichen Charakter der Montags-Demos, den - so sein Versprechen - die MLPD nicht verletzen werde. Gemeinsam kämpfe das Bündnis für eine sozialistische Gesellschaft anstelle der gegenwärtigen kapitalistischen.

Als nächste Rednerin sprach Mina Ahadi, Frauen- und Menschenrechtlerin aus dem Iran und Vorsitzende des internationalen Komitees gegen Steinigungen. Ahadi lebt seit 10 Jahren in der Bundesrepublik und hat nach eigenem Bekunden als Flüchtling staatliche Diskriminierung in Deutschland erlebt. Ahadi kritisierte den "politischen Islam" und forderte eine Orientierung an laizistischen Prinzipien. Insbesondere prangerte Ahadi die "opportunistische Politik" der bisherigen deutschen Bundesregierungen an, die regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen hinwegsahen, wenn es um wirtschaftliche Interessen ging. Als Frauen- und Menschenrechtlerin habe sie häufig den Bundestag aufgesucht, aber sie müsse offen bekennen, daß sie kaum sonst irgendwo soviel Opportunismus erlebt habe.

Zwischen den angekündigten Redebeiträgen kamen VertreterInnen des Streiks an der Berliner Charité zu Wort, die über die aktuelle Situation berichteten.

Annegret Gärtner-Leymann, IG-Metall-Betriebsrätin bei Opel in Bochum, berichtete über die Verschärfung der Arbeitsbedingungen in der deutschen Automobil-Industrie. Monat für Monat werde die Arbeit verdichtet und zugleich sei inzwischen die 45-Stunden-Woche Realität. Gärtner-Leymann forderte statt dessen die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Gegenüber der Gewerkschaftsführung äußerte auch sie sich mit Blick auf den 21. Oktober und das Motto "Das geht besser" kritisch. Sie rief zu einer Beteiligung auf mit einer klaren Stoßrichtung, die Regierungspolitik zu bekämpfen: "Für eine gemeinsame Zukunft, gegen unsere gemeinsamen Gegner."

Der Redebeitrag von Helmut Manz vom PDS-Vorstand in Nordrhein-Westfalen fiel durch seine deutlichen Formulierungen auf. Manz ist zugleich bei der Montags-Demo Dortmund aktiv. Er erinnerte an das Manifest der PDS, das nach seinen Worten auch innerhalb der PDS anscheinend vergessen würde und an die daran enthaltene Forderung nach einer Millionärssteuer. Allein an Geld-Vermögen - Grundstücke und Jachten blieben sogar unangetastet - konzentriere sich hier eine Summe von über 2 Billionen Euro: "Das ist eine Zwei mit zwölf Nullen!" Bei einem Steuersatz von nur 5 Prozent würde dies jährlich 100 Milliarden Euro in die öffentlichen Kassen spülen - "Dann könnte Schwarz-Rot alle sogenannten Reformen stecken lassen und hätte noch was übrig!"

Klar, räumte Manz ein, gäbe es dann ein gigantisches Geschrei. Doch nähmen wir diesen Leuten 100 Milliarden weg, sei dies noch längst keine Enteignung. Jährlich vermehre sich deren Vermögen um 140 Milliarden Euro. Wenn den Millionären und Multimillionären so immer noch ein jährlicher Zuwachs von 40 Milliarden verbleibe, sei dies sicherlich "verdammt hart". Es sei verdammt hart - so ergänzte er - Rentnerinnen und Rentner im eigenen Kot verrecken zu lassen. Manz sprach von einer "Klassengesellschaft" in Deutschland. Leider habe die Mehrheit gelernt, "zu leiden, ohne zu klagen" und die oberen zehn Prozent hätten offenbar von Kindesbeinen an gelernt, "zu klagen, ohne zu leiden".

Den siebten Redebeitrag hielt Linda Weißgerber vom Bundesvorstand des Frauenverbands Courage. Sie erinnerte daran, wie viele falsche Hoffnungen sich an die Kanzlerschaft einer Frau geknüpft hätten. Für viele Frauen habe Kanzlerin Angela Merkel einen Crash-Kurs geboten. Ausgerechnet die erste Frau im Kanzleramt exekutiere eine besonders frauenfeindliche Politik. Scharf wandte sie sich auch gegen Versuche der NPD auf dem Feld der Frauenpolitik mit einem neuen Frauenverband zu agieren: "Unser Herz schlägt international!"

Siegmar Herrlinger, Arbeiter im Porsche-Werk Stuttgart-Zuffenhausen, und Vertreter des Solidaritätskreises für gemaßregelte Kollegen, berichtete von den dortigen Zuständen. Seit neun Monaten kämpfe der Kollege Ulrich Schirmer gegen seine Entlassung. Obwohl er vor einem Arbeitsgericht Recht bekam, habe Porsche inzwischen drei Kündigungen nachgeschoben. Die Stuttgarter Montags-Demo wurde zum Zeichen der Solidarität zweimal nach Zuffenhausen verlegt - dies sei, so Herrlinger, die "beste Zusammenarbeit", die er seit langem erlebt habe. Ausdrücklich dankte er auch der MLPD für deren Unterstützung.

An achter Stelle sprach Lucy Redler, Vertreterin der WASG Berlin. Sie räumte ein, daß der Sternmarsch innerhalb der Berliner Linken umstritten sei, daß sie sich aber dennoch zu einer Teilnahme entschlossen habe. Zwei Demos in so kurzem zeitlichem Abstand würden die Bewegung schwächen. Aus ihrer Sicht sei es besonders wichtig, die außerparlamentarische Opposition und deren Einheit zu stärken. Dies sei auch der Zweck der Kandidatur der WASG bei der Senatswahl am Sonntag. Die WASG sei die einzige Partei, die in Berlin gegen den Sozialkahlschlag antrete.

Redler erinnerte daran, daß die PDS im "rot-roten" Senat eine massive Privatisierung von Wohnungen, den Abbau von 180.000 Stellen im öffentlichen Dienst und vieles andere mitgetragen habe. Tatsächlich gelte immer noch - wie einst von der PDS plakatiert: "Hartz IV ist Armut per Gesetz!" Sie wies darauf hin, daß die - ebenfalls von der PDS zu verantwortenden - 1-Euro-Jobs in Berlin zur Vernichtung regulärer Arbeitsplätze beigetragen hätten. Lucy Redler forderte eine "radikale Arbeitszeitverkürzung" auf 30 Stunden pro Woche bei vollem Lohnausgleich.

Mit aller Kraft gelte es nun, zur Teilnahme an den Demos am 21. Oktober aufzurufen. Auch hierzulande sei längst ein Generalstreik angesagt. "Französische Zustände" seien nötig. Das Beispiel in Frankreich habe gezeigt, daß nur so der Angriff auf den Kündigungsschutz zurückzuschlagen sei. Ein kämpferischer Charakter der Demos am 21. Oktober müsse erkennbar werden - trotz Sommer und Bsirske.

Kommentar:
Gerade die Beiträge von GewerkschafterInnen, Helmut Manz (PDS) und Lucy Redler (WASG) haben gezeigt, daß die Propaganda, der Sternmarsch in Berlin sei "MLPD-nahe" realitätsfern war. Sicherlich ist Lucy Redler zuzustimmen, daß es die Bewegung gegen den Sozialabbau schwächt, wenn zwei Demos in kurzer zeitlicher Abfolge miteinander konkurrieren. Doch ähnlich wie im Falle der Konfrontation zwischen WASG und PDS in Berlin, liegt hierfür die Verantwortung - vielleicht nicht einseitig - eindeutig jedoch weit überwiegend bei der einen Seite.

Auch wenn die WASG in den Mainstream-Medien durchweg als "trotzkistisch unterwandert" gebrandmarkt und die inhaltliche Auseinandersetzung mit der PDS ausgeblendet wurde - wer die letzten Jahre der "rot-roten" Koalition in Berlin aufmerksam verfolgt und sich über die Positionen der WASG informiert hat, weiß - auch wenn sich daraus nicht zwingend folgern läßt, bei den Berliner Senatswahlen einen Stimmzettel abgeben zu müssen - auf wessen Seite das Recht ist.

Ebenso wie die PDS gegenüber der WASG in Berlin hat die an der Gewerkschaftsführung orientierte Seite, die bezeichnender Weise als "die soziale Bewegung" firmiert, in unglaublicher Arroganz und angemaßter Machtvollkommenheit die Position vertreten: Friß oder stirb! Um jede Chance für eine gemeinsame Demo gegen Sozialabbau im Herbst zu vereiteln, hat der DGB die Veröffentlichung des Termins 21. Oktober solange hinausgezögert, bis die Bundeskoordinierung der Montags-Demos die Plakate für den Sternmarsch (16. September) Anfang August in Auftrag gab. Um eine Konfrontation mit der "schwarz-roten" Regierung zu vermeiden, werden sämtliche RednerInnen undemokratisch von der Gewerkschaftsführung "gesetzt". Der Slogan "Das geht besser" ist schlichtweg ein Affront gegen die Gewerkschaftsbasis.

Wer vor diesem Hintergrund davon schreibt, die Bundeskoordinierung der Montags-Demos sei "MLPD-gesteuert", muß sich fragen lassen, woher denn diese "Erkenntnis" stammt - etwa vom "Verfassungsschutz"? Eine solche Propaganda ist nicht nur gehässig und dumm, sie betreibt zudem das Geschäft des Kapitals. Sie ist um keinen Deut besser als die Propaganda der Mainstream-Medien gegen die Berliner WASG.

Ich habe selbst lange daran herumgekaut, ob es keinen besseren Weg gibt, als auf die Arroganz der Gewerkschaftsführung mit einem Beharren auf eine kämpferische bundesweite Demo gegen Sozialabbau zu antworten. Solange jedoch die Demokratisierung des DGB keinen Schritt voran kommt, scheint es mir - in diesen Notfall! - der richtige Weg zu sein, um so innerhalb des DGB den nötigen Druck zu erzeugen.

 

Klaus Schramm

 

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