5.07.2004

Auferstehung
der deutschen Sozialdemokratie?

Über die Jahre hin aus allen führenden Positionen in der SPD hinausgedrängt und in nennenwerter Zahl nur noch in den Gewerkschaften zu finden, haben sich nun am Sonntag in Berlin sozialdemokratisch gestimmte Menschen zusammengeschlossen, um die beiden Vereine "Wahlalternative" und "Arbeit und soziale Gerechtigkeit" zusammenzulegen und um (vielleicht) bis zur nächsten Bundestagswahl eine neue sozialdemokratische Partei zu schmieden. Da weit und breit keine sozialdemokratische Partei mehr anzutreffen ist, trifft dieses nostalgische Vorhaben auf große Resonanz.

Zuerst schien es, als seien diese Auffangbecken nur gegründet worden, um wütenden bis resignierten Linken eine warme Stube zu bieten, um sie so steuern und von einer Parteineugründung abzuhalten zu können. Und einige Partei-U-Boote werden mit Sicherheit unter den InitiatorInnen ihr Unwesen treiben. Doch allein auf eine Internet-Seite hin haben sich nach Angaben der InitiatorInnen bislang über 10.000 UnterstützerInnen eingetragen und mehr als 70 Regionalgruppen haben sich gebildet. Bei einer solch starken Nachfrage läßt sich die Entstehung eines passenden Angebots nicht unterdrücken. Am Samstag wurde von Infratest/dimap - wie zur Gründung bestellt - eine Umfrage veröffentlicht: Sechs Prozent der Befragten erklärten, sie könnten sich "sicher vorstellen", für eine solche Partei zu stimmen. 37 Prozent der Wahlberechtigten halten es für "prinzipiell möglich". Besonders bei Jugendlichen (57 Prozent), Arbeitern (60 Prozent) und Arbeitslosen (70 Prozent) trifft die Idee der neuen Partei auf Unterstützung.

Die Auferstehung der deutschen Sozialdemokratie entspricht also weitverbreiteten Sehnsüchten. Eine neue sozialdemokratische Partei hat gute Chancen, um über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen und einer kleinen Funktionärsschicht den Lebensunterhalt zu sichern. Doch hätte sie angesichts der heutigen Machtverhältnisse überhaupt eine Chance, politischen Einfluß zu gewinnen? Und wäre sozialdemokratische Politik heute nicht völlig anachronistisch?

Die deutsche Sozialdemokratie, die in der Zeit bis 1998 von der SPD - da in der Opposition - wenigstens zum Schein noch als Ideologie aufrechterhalten wurde, ist schon lange tot. Entstanden war sie einstmals als Strömung von Reformisten (u.a. Eduard Bernstein) in der SPD zum Ende des 19. Jahrhunderts. Die Entstehung dieser Strömung war eine Antwort auf Bismarcks Politik von Zuckerbrot und Peitsche. Als Peitsche wurden Sozialistengesetze und Verbote eingesetzt, als Zuckerbrot der Aufbau des Sozialstaats, die Legalisierung der SPD und die Einladung zur Teilnahme am Parlamentarismus. Einer der Kernpunkte dieser Ideologie war die Abkehr vom Konzept einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft und die Propagierung einer gesetzeskonformen, "evolutionären" Entwicklung des Sozialismus. Rosa Luxemburg - damals noch SPD-Mitglied - schrieb 1999 in 'Sozialreform oder Revolution': "Die opportunistischen Strömungen datieren in unserer Bewegung, wenn man ihre sporadischen Äußerungen wie in der bekannten Dampfersubventions- frage in Betracht zieht, seit längerer Zeit. Allein eine ausgesprochen einheitliche Strömung in diesem Sinne datiert erst seit Anfang der neunziger Jahre, seit dem Fall des Sozialistengesetzes und der Wiedereroberung des gesetzlichen Bodens."

Ein entscheidender Schritt zur Entstehung der Sozialdemokratie war die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols und die Zustimmung zu den Kriegs-Krediten 1914, die schließlich zur Spaltung der ArbeiterInnen-Bewegung und zur Gründung des Spartakusbundes, später KPD, führten. Wie schnell sich die SPD weiter nach rechts entwickelte, zeigt sich darin, daß sich einer der Wortführer der "Sozialreformer", Eduard Bernstein, bereits 1917 in der USPD, einer Linksabspaltung der SPD wiederfindet. Kernpunkte der sich herausbildenden sozialdemokratischen Ideologie waren zuerst die Anerkennung der kapitalistischen Wirtschaft als unüberwindlich, zweitens die Verwechslung von Demokratie und Parlamentarismus und drittens - als Eintritts-Billett in "Politikfähigkeit" und "Regierungs- verantwortung" - die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols in Form von Militär und Polizei.

Ihren Höhepunkt hatte die Sozialdemokratie in Gestalt der beiden Parteien SPD und CDU im bundesrepublikanischen Deutschland der 50er und 60er Jahre. Obwohl die CDU (und CSU) mehr die Rolle einer rechten und die SPD mehr die einer linken Partei spielte, zeigte sich in der Regierungs-Praxis, daß beide Parteien - ganz deutlich zur Zeit der "Großen Koalition" 1966 bis 1969 - die Kräfte-Balance zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften als (austauschbare) "Volksparteien" in legislative Formen gossen. Ein stetig anwachsendes Bruttosozialprodukt konnte als "Kuchen" entsprechend den Kräfteverhältnissen "fair" zwischen den oberen und unteren gesellschaftlichen Schichten aufgeteilt werden. So war der "soziale Friede" scheinbar gesichert. Doch die dabei allzu deutlich werdende Rolle der Sozialdemokratie - idealtypisch verkörpert in der SPD - als gesellschafts- und systemstabilisierende Kraft förderte die Entstehung eine außerparlamentarischen Opposition, der APO.

Die der sozialdemokratischen Ideologie adäquate Wirtschaftstheorie hatte 1936 der Nationmalökonom John Maynard Keynes formulierte. Auch er leugnete den durch das Profit-Prinzip bedingten Zwang der kapitalistischen Wirtschaft zu stetigem Wachstum und den damit vorprogrammierten Zusammenbruch. Im wesentlichen basiert seine Theorie darauf, daß zyklisch auftretenden Rezessionen mit staatlicher "anti-zyklischer Konjunkturpolitik" gegengesteuert werden könne. Das "deficit spending", das durch staatlich finanzierte Kredite und "Belebung der Binnen-Nachfrage" zum "Ankurbeln der Wirtschaft" führen soll, ist auch heute noch das Patentrezept aller sozialdemokratisch orientierten Linken von Oskar Lafontaine bis Norbert Blüm.

Der SPD-Bundeskanzler und selbsternannte Welt-Ökonom Helmut Schmidt allerdings war der Prototyp eines sozialdemokratischen Politikers und er überschritt zugleich den Zenit dieser Ideologie. Mit dem Scheitern des Keynesianismus in der Weltrezession der 70er Jahre, in der entgegen der Keynesianischen Prognose Inflation und Arbeitslosigkeit andauerten ("Stagflation"), begann der unaufhaltsame Aufstieg des Monetarismus und damit zugleich neoliberaler PolitikerInnen wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan. Aus der Distanz der Jahre heraus muß dagegen die Politik des Helmut Kohl als Versuch bezeichnet werden, soviel Sozialdemokratie wie möglich mit so viel Neoliberalismus wie nötig zu kreuzen. Im Vergleich zur Politik von "Rot-Grün" mutet seine Politik des ab 1982 von Jahr zu Jahr nur sacht gesteigerten Rechts-Trends schon gerade zu linksextrem an.

Die heutige Union unter Angela Merkel hingegen versucht "Rot-Grün" an radikalem Neoliberalismus zu überbieten und damit eine Nische im politischen Spektrum zu finden, wo von der Regierung allenfalls noch eine Handbreit Platz gelassen wird. Kein Wunder, daß Politiker wie Norbert Blüm inzwischen politisch heimatlos geworden sind. In Anbetracht einer solch gewaltigen Rechtsverschiebung des gesamten politischen Spektrums wird nun vermutet, daß für eine neue linke Partei genügend Platz sei. Doch warum konnte die PDS von diesem weiten Feld nicht profitieren?

Die PDS konnte sich nie zwischen dem sozialdemokratischen und dem kommunistischen/sozialistischen Weg entscheiden. Auf der einen Seite war vor 1998 die Option der Anpassung an das parlamentarische System, das Glaubensbekenntnis zur "Marktwirtschaft" und zum Gewaltmonopol von Militär und Polizei (und damit die Absage an die revolutionäre Gesellschaftsveränderung) - also die Sozialdemokratisierung - lediglich eine Perspektive für Karrieristen und Parteifunktionäre, denen auch eine 5-Prozent-Mini-Ausgabe der SPD für die eigene Versorgung völlig ausgereicht hätte. Auf der anderen Seite hatte die PDS vom kommunistischen Weg nie eine klare Vorstellung entwickeln können, da noch eine zu große Anzahl von Mitgliedern an den nur mehr oder weniger graduell in Frage gestellten Illusionen vom kommunistischen Charakter der DDR festhielt. Und so hatte eine völlig ungeklärte kommunistische Perspektive ebenso wenig wie die noch von der SPD nominell besetzte sozialdemokratische Perspektive eine Chance Überzeugungskraft zu entwickeln. Eine Perspektive jenseits der Scheinalternative Kapitalismus versus Staats-"Sozialismus" zu diskutieren, lag wohl völlig außerhalb des Horizonts von Menschen, die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks meinten, sich auf den Parlamentarismus einlassen zu müssen.

Nach 1998 verschlief der reformorientierte Teil der PDS auf Grund gesellschafttheoretischer Unterbelichtung die Chance, sich als Sachwalter des abgestoßenen sozialdemokratischen Erbes anzudienen und aufzuspielen. Einem Andre Brie würde auch heute noch kaum jemand den Sozialdemokraten abkaufen. Und ebensowenig konnte der linke Flügel (oder deren drei) eine glaubwürdige neosozialistische Perspektive entwickeln. Auch heute noch hängt das Erbe der SED in den alten Bundesländern wie Blei an der Glaubwürdigkeit der PDS - trotz aller Distanzierungs-Schwüre. Die Begriffe "Sozialismus" oder "Kommunismus" scheinen auf ewig durch den Mißbrauch der Ostblock-Diktaturen desavouiert. Auch dies ein weiterer Grund (ein negativer), der sozialdemokratischen Parteineugründung gute Chancen zu attestieren. Und im absehbaren Falle eines Verlusts der Regierungs-Mehrheit von "Rot-Grün" hätte diese neue Partei tatsächlich spätestens 2006 die Möglichkeit (von der die PDS-Reformer 2002 nur träumen konnten), das Überleben dieser Koalition zu retten und kleine Korrekturen am neoliberalen Kurs zu erzwingen.

Mehr als minimale Korrekturen werden dies allerdings kaum sein können. Wie gerade das Beispiel der F.D.P. zeigt, hat eine kleine Partei nur dann großen Einfluß, wenn sie das "Zünglein an der Waage" spielen kann. Das heißt nichts anderes, als daß sie glaubwürdig damit drohen kann, statt "Rot-Grün" die "scharze" Option zu wählen. Diese Drohung ist allerdings einer Partei links von "Rot-Grün" nicht möglich. Jede etwaige Drohung einer neuen sozialdemokratischen Partei kann prinzipiell mit der "Kanzlerfrage" ausgehebelt werden. Und weil gerade mangels realer Unterschiede zwischen "rot-grüner" und "schwarzer" neoliberaler Politik die Unterschiede überzeichnet dargestellt werden müssen, verschärft dies die Erpreßbarkeit mit dem "größeren Übel". Zum großen Einfluß, den die F.D.P. einmal hatte, sei allerdings ergänzt, daß sich dieser auf die Besetzung von Ämtern beschränkte. Zwischen "Mitte-Links" und "Mitte-Rechts" bestand nie ein ernstlicher Spielraum für Kurskorrekturen.

Um im Parlament einen Kurswechsel erzwingen zu können, fehlt einer neuen sozialdemokratischen Partei durch das rasant geschwundene gesellschaftliche Gewicht der Gewerkschaften zudem eine reale Basis, um politischen Druck zu entfalten. Arbeitslose und in prekären Jobs Beschäftigte sind nach wie vor in zu geringem Maße organisiert, als daß sie der in beschleunigter Globalisierung angewachsenen Machtfülle auf Seiten der Konzerne viel entgegensetzen könnten.

Wenn die Massenmedien der sozialdemokratischen Sammlungsbewegung vorwerfen, kein Programm vorweisen zu können, ist dies schlicht Irreführung. Es ist allerdings das alte, von der SPD entsorgte wirtschaftspolitische Konzept der Sozialdemokratie. Die Sorge, daß diese Ideologie neue Ausstrahlung und Überzeugungskraft entfalten könnte, ist offensichtlich unbegründet. Und so finden sich im neuen Wahlbündnis denn auch langgediente Sozialdemokraten von altem Schrot und Korn wie Uwe Hiksch oder das frühere SOST-Mitglied Joachim Bischoff, der den Ausbruch des "rot-grünen" Zeitalters 1998 noch als "historisches Bündnis" bejubelte. Auch dann, wenn der alte Zauderer Lafontaine noch auf den fahrenden Zug aufspringen sollte, wird er kaum merklich an Fahrt gewinnen.

Die von Jahr zu Jahr sinkende Beteiligung an Wahlen wird häufig als politische Resignation interpretiert. Sie ist jedoch sicherlich zugleich ein Zeichen wachsender demokratischer Mündigkeit. Obwohl das Wort "Politik" - zumal unter Jugendlichen ähnlich desavouiert ist wie die Begriffe "Sozialismus" oder "Kommunismus" - bestätigen Umfragen gerade unter Jugendlichen, daß das politische Interesse wieder steigt. Ein Thema wie die bereits in ihren ersten Ausläufern spürbare Klimakatastrophe steht nicht erst seit dem Kino-Schocker 'The day after tomorrow' des deutschen Hollywood-Regisseurs Roland Emmerich für Jugendliche auf Platz Eins ihrer Prioritäten-Liste. Blockiert wird die Umsetzung dieses schon weit fortgeschrittenen Bewußtseins allerdings nicht allein durch eine vielfach zu beobachtende resignative Grundstimmung, sondern zugleich durch ein weitgehend ungebrochenes Vertrauen in die Parolen von "Rot-Grün". Auf der einen Seite ist kaum zu übersehen, daß sich seit Jahren und Jahrzehnten nichts grundlegend bessert, sondern im Gegenteil unter "Rot-Grün" sogar die Kohlendioxid-Emissionen wieder über drei Jahre hin anstiegen. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, daß Illusion und Resignation in Wechselwirkung stehen. Erst wenn die heutige Politik als heuchlerisch durchschaut wird, kann sich auch die emotionale Basis für ein starkes politisches Engagement entfalten.

Gerade junge Menschen werden aber einer sozialdemokratischen Perspektive kaum viel abgewinnen. In dem Maße, in dem sie sich von den herrschenden Illusionen befreien, werden sie zugleich erkennen, daß eine solche Partei nur dazu dienen kann, den unter "Rot-Grün" - oder auch "Schwarz-Gelb" - bestimmenden Neoliberalismus weiter an der Macht zu halten. Thomas Händel vom 14-köpfigen Vorstand des neuen Wahlbündnisses weiß genau, wohin die Wünsche der "Wahlmüden" sich immer stärker richten: "Es wurde Zeit, zusammenzugehen, weil eine soziale Alternative zum politischen Einheitsangebot entwickelt werden muß." Doch ob die von ihm angebotene "Alternative" in Form einer neuen Partei angenommen wird, ist fraglich. Immer mehr Menschen erkennen, daß auf diese Weise ihre Energien erneut auf die Mühlen des bestehenden Systems umgeleitet würden. Da ihr vitales Interesse dem entgegengesetzt ist, werden sie sich statt dessen mehr und mehr in neuen politischen Formen engagieren und demokratische Perspektiven jenseits des Parlamentarismus entwickeln. Immer mehr Menschen, auch in Umfeld der Neo-Sozialdemokraten, machen sich Gedanken um neue, demokratische Wirtschaftskonzepte. Und je mehr sich die wirtschaftliche Lage verschärft, um so wichtiger ist zugleich eine neue, realistische Perspektive jenseits des Kapitalismus.

 

Adriana Ascoli

 

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