Wird der Sozialabbau fortgesetzt, bis wir auf dem sozialen Niveau von China
angekommen sind?
Es ist nur eine kleine Minderheit, die von der Globalisierung profitiert. Global
betrachtet: Eine verschwindende Minderheit. Diese Minderheit macht allerdings
keine Anstalten zu verschwinden.
Mit Ausnahme kurzer Perioden wie zuletzt der 50er- und 60er-Jahre des letzten
Jahrhunderts hat vom Kapitalismus seit dessen Beginn im 19. Jahrhundert nur eine
kleine Minderheit profitiert. Und wenn zeitweise die unteren Zweidrittel am
wachsenden Wohlstand partizipieren konnten - dann allerdings nur in den
Industrieländern in Europa, in den USA, Kanada und Japan.
Mit der Globalisierung geht eine ungeheure Zunahme der Verflechtungen und der
Konzentration der globalen Wirtschaft einher, während insbesondere auf dem
afrikanischen Kontinent in den letzten Jahrzehnten Hunger und Elend wieder
zugenommen haben. Einmal vorhandene positive Ansätze wurden mit eiserner Faust
zerschlagen. Der Grund: Die Gier nach Rohstoffen und keinesfalls ethnische
Konflikte wie es uns die westlichen Mainstream-Medien wieder und wieder
einzureden versuchen. Ethnische Konflikte werden allerdings gerne benutzt, um
die Menschen in den rohstoffreichen Ländern gegeneinander auszuspielen und mit
neokolonialen Methoden Marionetten-Regimes einzusetzen - wie zuletzt in der
"Demokratischen Republik Kongo" mit Joseph Kabila.
Die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel konzentriert sich bei immer
weniger Personen. Ob diese deshalb ein besseres Leben führen, möchte ich
ausdrücklich in Frage stellen. Doch die herrschenden Eliten davon überzeugen zu
wollen, daß auch ihr Dasein im Grunde elend ist, dürfte höchstwahrscheinlich
aussichtslos sein. Aber dieser Aspekt gehört nicht hierher. Mit Vernunft war den
Mächtigen noch nie beizukommen. Wie der frühere CDU-Generalsekretär Heiner
Geißler vor zwei Jahren einmal ganz richtig bemerkte: Die Gier zerfrißt die
Hirne der Herrschenden.
Zugleich mit einem gigantischen Zuwachs der Produktionsmittel wird in den
Industrieländern seit zwanzig Jahren mit zunehmendem Tempo der Sozialabbau
exekutiert. Wir sitzen zwar - wie die Linke immer so schön formuliert -
"objektiv" am längeren Hebel: Überspitzt gesagt: Gäbe es Demokratie, würde der
Kapitalismus abgeschafft.
Und nicht nur, daß wir bei weitem in der Überzahl sind, ist ein "objektiver"
Fakt. Ein weiterer Fakt, der uns eigentlich Mut machen müßte ist: Der
Kapitalismus ist ein Goliath auf tönernen Füßen. Von Beginn an beruhte der
Kapitalismus auf der rücksichtslosen Ausbeutung der Ressourcen - am Anfang:
Kohle.
Heute ist mit großem Abstand vor allen anderen Energieträgern Rohöl der
Lebenssaft der die Rädchen des Getriebes antreibt. Ein Ersatz, der sich ebenso
gut zentral kontrollieren ließe, ist nicht in Sicht. Das ist der alleinige
Grund, warum das US-Kapital gezwungen war, den Irak zu annektieren, wenn es
seine globale Vormachtposition nicht verlieren wollte.
Solare und regenerative Energien lassen sich überall gewinnen, dezentral
einsetzen und entziehen sich daher der Kontrolle einer Zentralmacht, wenn sie
sich einmal aus ihrem Nischen-Dasein befreit haben. Sie könnten die
Energieträger eines demokratischen Zeitalters werden. Deshalb werden sie vom
Kapital gehaßt, mit allen Mitteln blockiert und gebremst. Jedoch: Der
Kapitalismus ist auf dem absteigenden Ast, seitdem zur Jahrtausendwende der
Peak-Oil, der Zenit der globalen Erdölförderung überschritten wurde. Vorerst nur
sehr sacht, dann aber entsprechend der bekannten Gaußschen Glockenkurve mit
zunehmendem Tempo geht dem kapitalistischen Goliath der Lebensaft aus. Ein Grund
zur Hoffnung? Für das Klima und für ein menschenwürdiges Überleben auf diesem
Planeten könnte sich die Anämie des Kapitalismus als zu langsam erweisen.
Ein Grund, warum wir trotz aller "objektiven" Fakten zur Zeit dem
Fortschreiten der Globalisierung ohnmächtig zuschauen müssen, liegt darin,
daß wir völlig zersplittert sind. Immer weniger aus dem unteren Zweidrittel in
Deutschland haben überhaupt noch Arbeit. Und: Ein Arbeitsplatz und damit die
Möglichkeit zum Streik ist mit Abstand der wirkungsvollste Hebel, mit dem der
Macht, die auf der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel beruht, Paroli
geboten werden kann. Die Gewerkschaften haben zudem lange Zeit die Interessen
der Erwerbslosen, der RentnerInnen, der StudentInnen und Auszubildenden, der
kleinen Gewerbetreibenden und der Ich-AG-Menschen mißachtet. Erst seitdem zu
Beginn 2006 weniger Menschen gewerkschaftlich organisiert sind als es
Erwerbslose gibt - auf der einen unter 7 Millionen - auf der anderen Seite: über
7 Millionen - scheint an der Gewerkschaftsspitze ein Umdenken einzusetzen.
Nachdem in den 70er-Jahren Bürgerinitiativen große Erfolge erzielen konnten, hat
sich dieser Hebel zur gesellschaftlichen Veränderung mehr und mehr als
wirkungslos erwiesen. PolitikerInnen lassen sich heute nicht mehr von
Großdemonstrationen beeindrucken. Die Drohung, am Wahlsonntag das Kreuzchen an
einer anderen Stelle zu machen zieht nicht mehr, seit die schwarz-rot-gelb-grüne
Einheitspartei im Bundestag alle "Querulanten" ausgeschieden hat, die sich dem
neoliberalen Einheitsprogramm nicht vorbehaltlos anschließen wollten. Und die
WählerInnen merken ihre absolute Ohnmacht daran, daß die Parteioberen sich frech
zu Wahlsiegern erklären, auch wenn ihre Partei real nicht einmal mehr die
20-Prozent-Grenze überschreitet.
Zeitweilig hatte sich die Hoffnung auf KonsumentInnen-Organisationen gerichtet.
Doch solche Organisationen konnten noch in keinem einzigen Fall ihre Mitglieder
zu einer wirkungsvollen Kampagne führen. Bezeichnender Weise wurde eine der
wenigen erfolgreichen Kaufboykott-Aktionen in der deutschen Geschichte - der
Shell-Boykott - von Greenpeace, einer Umwelt-Organisation getragen. Funktioniert
hat es, weil eine hochmotivierte Mitgliedschaft mit einem weite Kreise
überzeugenden - umweltpolitischen - Ziel genügend Energie einbrachte.
KonsumentInnen-Organisationen jedoch sind viel zu heterogen, als daß sie eine
solche gebündelte Energie entfalten könnten. Auch wenn "alle" beispielsweise
über steigende Gaspreise klagten - allzu viele wußten ganz genau, daß sie mit
steigenden Preisen mehr gewinnen als verlieren. Und nicht zufällig sitzen deren
RepräsentantInnen an den Schaltstellen der KonsumentInnen-Organisationen.
Das gleiche Bild bietet sich bei den RentnerInnen: Während die überwiegende
Mehrheit der RentnerInnen in Deutschland unter der Armutsgrenze lebt, haben sie
es bisher nicht geschafft, sich wirkungsvoll zu organisieren. Verhindert wird
dies letztlich durch die Minderheit der reichen RentnerInnen.
Und wie sieht es bei den LandwirtInnen aus? Nicht anders. Während von Jahr zu
Jahr Zehntausende aufgeben müssen, vertritt der deutsche Bauernverband mit
seinem Vorsitzenden Sonnleitner ganz eindeutig die Interessen der kleinen
Minderheit großbäuerlicher Massenbetriebe, die überdies mit EU-Subventionen
überschüttet werden.
Eine weitere Zersplitterung ganz anderer Art müssen wir realisieren, wenn wir
uns die Situation der ArbeiterInnen in China, in Indien oder gar in Afrika vor
Augen führen. Es ist den europäischen Gewerkschaften ja bis heute noch nicht
einmal gelungen, sich auf diesem Kontinent zu einer aktionsfähigen Einheit
zusammenzuschließen. Wir hinken dem Zusammenschluß des Kapitals zu
multinationalen Konzernen meilenweit hinterher. Beim Opel-Streik im Herbst 2005
machte sich die mangelnde Solidarität, die sich auf verbale und symbolische Akte
bei GM-Beschäftigten verschiedener europäischer Zweigwerke beschränkte,
schmerzlich bemerkbar.
Ein weiterer Aspekt - und das scheint mir noch wichtiger - ist der des
Bewußtseins. Leider ist das Bewußtsein, wie wichtig Solidarität ist, wenig
verbreitet - und leider denkt die überwiegende Mehrheit der Deutschen national.
Das ist in den anderen europäischen Ländern nicht viel anders. Allzu
leicht lassen sich die Menschen ausspielen gegen "die Polen" oder "die
Chinesen", die angeblich unsere Arbeitsplätze gefährden...
Dieses mangelnde Problembewußtsein wird sich jedoch erst in sozialen Kämpfen -
und ich befürchte, in sehr langwierigen - allmählich verändern. Und es trägt
sicherlich nicht zu einer Schärfung des Bewußtseins bei, wenn sich die Linke
heute leider überwiegend scheut, sich als antikapitalistisch zu bezeichnen. Ja,
ein großer Teil hat offenbar sogar das Problem, sich überhaupt nicht als
antikapitalistisch zu begreifen.
Ich komme nun zur Eingangsfrage:
Wird der Sozialabbau fortgesetzt, bis wir auf dem sozialen Niveau von China
angekommen sind?
Ich bin kein Prophet. Ich kann nur sagen: Wenn sich keine kämpferische
Solidarität - und zwar in globalem Maßstab - entwickelt, kann es passieren, daß
das soziale Niveau noch unter das des heutigen China absinkt. Wir dürfen nicht
damit rechnen, daß das Kapital uns, wenn wir wehrlos sind, aus Mitleid ein
soziales Niveau wie in China gewährt. In China werden noch massenweise
Arbeitskräfte benötigt - das kann sich schnell ändern, wie wir nur zu gut
wissen. Wenn wir die zunehmend beschleunigte Talfahrt nicht stoppen können,
steht uns ein Schicksal bevor wie das der überwiegenden Mehrheit der Menschen in
Afrika.
Um das Bewußtsein zu heben, ist auch politische Arbeit nötig. Aber ich warne
ausdrücklich vor Voluntarismus. Es genügt nicht, eine Veränderung zu wollen -
wir müssen auch studieren, wie wir diese Veränderung am besten beschleunigen
können.
Um die gegenwärtig verbreitete Resignation zu überwinden, ist es unbedingt
nötig, eine Perspektive aufzuzeigen. Ich glaube nicht, daß das Wort Sozialismus
als Zielvorstellung taugt. Allzusehr ist der Begriff Sozialismus auch heute noch
mit den bürokratischen Diktaturen verknüpft, die seit der Oktoberrevolution den
Ostblock beherrschten. Auch dort hatte nur eine Minderheit, kleine bürokratische
Cliquen, die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. Das Wort von den
"volkseigenen Betrieben" war nichts anderes als eine Lüge.
In Südamerika begeben sich die Staats-Chefs Hugo Chavez in Venezuela und Evo
Morales in Bolivien wieder auf diesen Irrweg. Sie haben zumindest die
Verstaatlichung von Schlüsselsektoren der Wirtschaft angekündigt. Chavez hat
Anfang dieses Jahres die Erdölindustrie im Orinoco-Delta, Stromunternehmen und
den Telefon-Konzern CANTV verstaatlicht. Morales hat im letzten Jahr den
Gassektor in Bolivien verstaatlicht und die Schweizer Firma Glencore enteignet,
in dessen Besitz der Metall-verarbeitende Vinto-Komplex war. Sie scheinen damit
zumindest einen anderen Weg einzuschlagen als Brasiliens Präsident Lula, der
lange von Attac und Teilen der europäischen Linken als sozialistischer Visionär
gefeiert wurde, sich dann aber als Neoliberaler entpuppte.
Auf dem Weg der Verstaatlichungen werden sie jedoch zwangsläufig scheitern.
Zentralisierte wirtschaftliche Macht - und damit die Grundlage jeglicher
Machtausübung - läßt sich niemals demokratisieren. Solange die Produktionsmittel
nicht wirklich demokratisiert werden, wechselt lediglich die kleine Clique
derjenigen, die die Verfügungsgewalt besitzt - der Rechtstitel ist nur ein Stück
Papier. Es ist tragisch, wenn Völker darunter leiden müssen, daß Versuche
wiederholt werden, die historisch - ebenso wie der Kapitalismus - ganz
offensichtlich gescheitert sind.
Ebenso mußte der überwiegende Teil des chilenischen Volks unter dem bereits zu
Zeiten des Diktators Pinochet begonnen und unter verschiedenen Regierungen
fortgesetzten neoliberalen Wirtschaftsexperiment leiden. Ein eindrückliches
Beispiel wie sich in Zeiten des "Anything goes" der im 19. Jahrhundert noch
kristallklare Begriff Sozialismus in Beliebigkeit aufgelöst hat, bietet die
Karriere der "Sozialistin" Michelle Bechelet. Unter einer "konservativen"
Regierung war sie Rüstungsministerin und verwaltete wachsende Militäretats,
während gleichzeitig der Sozialetat geschrumpft wurde und der chilenische
Sozialabbau nicht zuletzt auf Kosten der Frauen ging. Nun firmiert sie als
"sozialistische" Präsidentin Chiles und gilt als Feministin. Die französische
Präsidentschafts-Kandidatin Ségolène Royal, die für die gleiche neoliberale
Politik wie Bechelet eintritt, bezeichnet sich ebenfalls als Sozialistin. Es ist
schaurig mitanzusehen, daß heute große Teile der Linken soweit heruntergekommen
sind, gleichzeitig Ségolène Royal UND Hugo Chavez zu ihren Idolen zu erheben.
Und zugleich sind Beispiele wie es sie auch in Deutschland gab - ich nenne die
Glashütte Süßmuth - bei denen ArbeiterInnen und Angestellte den Betrieb in
Eigenregie übernahmen, weitgehend in Vergessenheit geraten. Die linke Debatte
müßte sich darauf konzentrieren, was wir aus diesen Beispielen lernen können,
was daran verbessert werden muß und wie die Demokratisierung der
Produktionsmittel konkret realisiert werden kann. Nur so - mit der Entwicklung
einer konkreten Utopie - kann die Linke einen Weg in eine lebenswerte Zukunft
weisen.
Um hier nicht als Vertreter des vielfach mißbrauchten Begriffs eines "dritten
Weges" mißverstanden zu werden: Auch der Begriff Marktwirtschaft ist eine Lüge
und nichts anderes als ein Mittel der Propaganda. Der frühe Liberalismus -
ebenso wie der Neo-Liberalismus - argumentiert mit der Fiktion des freien (daher
die Besetzung des Begriffs "liberal") Individuums auf dem Markt. Unterschoben
wird dabei die begriffliche Assoziation des bäuerlichen Gemüsemarkts oder des
Tauschmarkts des Mittelalters. Keiner der in ihrer wechselnden Funktion als
Angebot und Nachfrage auftretenden Individuen kann das andere beherrschen - der
Preis der Waren bildet sich zum gemeinsamen Nutzen aller Beteiligten. Dies
funktioniert viel besser als es irgend ein bürokratisches Entscheidungsgremium
je könnte - soweit die ökonomische Theorie. Die Realität sieht anders aus: Auf
dem wichtigsten Markt, dem sogenannten Arbeitsmarkt, hat das "freie Spiel von
Angebot und Nachfrage" seit Beginn des Kapitalismus noch nie funktioniert.
Stehen diejenigen, die ihre Arbeit anbieten müssen, jenen isoliert gegenüber,
die über die Produktionsmittel verfügen, sind sie wegen des Machtgefälles
schlicht und einfach ausgeliefert. In der Regel - und dies heute fast wieder in
dem Ausmaß wie zu Zeiten des Frühkapitalismus - steht ein überreichliches
Angebot einer geringen Nachfrage gegenüber. Freilich: Dies kann sich spielerisch
dadurch regulieren, daß genügend Proletarier verhungern - das haben die frühen
Vertreter der sich als Wissenschaft ausgebenden Ökonomie noch ganz offen so
gesagt - und geschrieben. Wer's nicht glaubt, mag es nachlesen.
Ohne die Bildung von Gewerkschaften wären die Proletarier - die Zustände in
England zu Beginn des 19. Jahrhunderts beweisen das - der kapitalistischen
Willkür auf Verderb und nicht auf Gedeih ausgeliefert gewesen. Doch
Gewerkschaften sind Kartellbildungen - ähnlich wie Trusts - sie verhindern
gerade die "freie" Regulierung des Preises für Arbeit, indem sie das Machtmittel
des Streiks anwenden oder in Lohnverhandlungen damit drohen können. Und um
einigermaßen stabile Verhältnisse im Kapitalismus - allerdings bei weitem kein
Kräftegleichgewicht - zu gewährleisten, ist durch Kartellgesetze und
Kartellbehörden der Kapitalseite eine ähnliche Bündelung der Kräfte (mehr oder
weniger) unmöglich gemacht. Dies ist auch der Grund, warum die ProtagonistInnen
der angeblichen Wissenschaft Ökonomie mal mehr mal weniger deutlich
Gewerkschaften als unvereinbar mit einer Marktwirtschaft bezeichnen. Damit haben
sie allerdings recht. Nur allzu deutlich dürfen sie das nicht sagen - sonst
würden sie ihre eigene Theorie ad absurdum führen.
Eine weitere wichtige These, die wir als Lehre aus dem Scheitern des sogenannten
Sozialismus ziehen müssen: Wir müssen anerkennen, daß Gewalt immer nur zu einer
Verschlechterung der Zustände führt. So sehr der Kampf gegen die feudalistischen
und - in noch geringem Umfang - frühkapitalistischen Zustände im Rußland des
Jahres 1917 legitim war - heute wissen wir, daß es Mittel und Wege gibt, einen
solchen Kampf gewaltfrei zu führen. Ein gewaltsamer Kampf läßt sich sinnvoll nur
mit militärischen Mitteln führen und führt so zwangsläufig zu hierarchischen
Strukturen. Und eine Zentralisierung der Macht läßt sich beim Aufbau einer neuen
Gesellschaftsordnung nicht wieder rückgängig machen. Sie führt entweder zur
Wiederbelebung kapitalistischer Strukturen - nur mit neuen Besitzern der
Produktionsmittel und einer von diesen abhängigen Politik - oder zu einer mehr
oder weniger zählebigen Diktatur.
Wichtig ist die Frage der Gewaltfreiheit auch deshalb, weil die Sache, für die
wir kämpfen, nur dann glaubwürdig sein kann, wenn die Mittel, mit denen wir
kämpfen, unserem Ziel entsprechen. Heute wird viel von "Der Weg ist das Ziel"
geplappert - oft irgendwie metaphysisch oder spirituell oder esoterisch. Hier
hat dieser Satz eine ganz konkrete Bedeutung: Unser Ziel ist eine solidarische,
gewaltfreie Gesellschaft - und dieses Ziel können wir nur auf gewaltfreiem Weg
erreichen.
Das Scheitern der Sozialdemokratie 1914 ist hauptsächlich darin begründet, daß
große Teile von ihr - und bezeichnender Weise gerade die verbürgerlichte Führung
- Gewaltfreiheit und Pazifismus als "bürgerlich" abgetan haben. Die Spaltung in
SPD und KPD nach dem Ersten Weltkrieg ist darauf zurückzuführen, daß beide
Richtungen der deutschen ebenso wie der internationalen Arbeiterbewegung die
Lehre aus diesem Scheitern nicht gezogen haben. Während die sich weiterhin meist
als sozialdemokratisch bezeichnende Richtung sich auf die Seite des Kapitalismus
als vermeintliche unabänderliche Endstufe der geschichtlichen Entwicklung schlug
und antikapitalistische Töne nur noch quasi-religiös in sonntäglichen
Beschwörungen eines Sankt-Nimmerlein-Tages zuließ, schlug sich die
kommunistische Richtung - wie ein eineiiger Zwillingsbruder - auf die Seite des
vermeintlich existierenden Sozialismus, der - "Nie wieder Krieg, nie wieder
Faschismus!" zur Not mit militärischen Mitteln verteidígt werden müsse.