20.08.2007

Rede

Perspektiven
gegen Hartz IV und Sozialabbau

Nach drei Jahren Montags-Demo

Laut einer am Freitag (17. August) veröffentlichten Umfrage des ZDF-Politbarometers beurteilt eine Mehrheit der Bevölkerung die Hartz-Gesetze negativ. 58 Prozent finden die sogenannten Reform-Maßnahmen für nicht gut. Nur 31 Prozent beurteilen sie positiv.

Sogar drei Viertel der Befragten sprechen sich für eine Erhöhung der Hartz-IV-Bezüge - also des ALG II - aus. Diese sollen sich an den Lebenshaltungskosten orientieren. 78 Prozent sagten, sie seien für einen gesetzlichen Mindestlohn in allen Branchen.

Warum tut sich dennoch so wenig in Deutschland? Der DGB hatte im vergangenen Sommer - ja Herr Sommer, wir erinnern uns! - einen heißen Herbst angekündigt. Außer ein paar warmen Worten am 21. Oktober wurde nichts daraus. Immerhin hatte der DGB an diesem Tag zu Kundgebungen in Berlin, Stuttgart, Dortmund, München und Frankfurt am Main insgesamt rund 210.000 Menschen mobilisiert.

Doch es ist eine altbekannte Weisheit, daß die Basis die deutschen Gewerkschaften zum Jagen tragen muß - und das ist eine doppelte Gewißheit, solange die sogenannte sozialdemokratische Partei sich nicht in der Opposition befindet - mit dieser Partei fühlen nämlich sich die Gewerkschafts-Spitzen trotz aller verbalen Distanzierung nach wie vor eng verbunden.

Seit Jahren treten immer mehr abhängig Beschäftigte aus den Gewerkschaften aus, weil diese sich bis zur Unkenntlichkeit an die neoliberale Politik angepaßt hatten. Im Januar 2005 sank die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder erstmals unter 7 Millionen. Doch in den mittleren Etagen der Gewerkschaftsbürokratie entwickelt sich in den letzten zwölf Monaten mehr und mehr Widerstand. Es ist klar, daß es dabei nicht allein um einen Kurswechsel in der Tarifpolitik geht, die seit fast 15 Jahren stagnierende Realeinkommen in Kauf nahm. Wichtiger ist es, Druck in Richtung auf eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit aufzubauen, statt sich defensiv bei den Tarifverhandlungen scheibchenweise Verlängerungen abhandeln zu lassen. Im Rückblick müßte längst jedem GewerkschafterIn klar sein, daß die sogenannten Arbeitsplatzgarantien, die bei den Verhandlungen heraussprangen, nicht einmal die Mindesthaltbarkeitsdauer von Versprechen der PolitikerInnen besaßen.

Ein zweiter wichtiger Schauplatz der Auseinandersetzung ist der Kampf um Mindestlöhne. Wenn diese in Deutschland nicht von den Gewerkschaften erkämpft werden, bekommen wir sie nie - nicht von Rot, Grün, Schwarz oder Blau...

Und viele GewerkschafterInnen - zumindest an der Basis - haben längst erkannt: Beides, sowohl Arbeitszeitverkürzung als auch Mindestlöhne sind DIE Hebel, die wir ansetzen müssen, um die Arbeitslosigkeit, die inzwischen real auf über 9 Millionen angestiegen ist, endlich zu reduzieren. Das ist nicht allein eine ethische Verantwortung der Gewerkschaften, sondern nichts weniger als ein Überlebenskampf. Denn wenn wir uns einmal die Entwicklung der Mitgliedszahlen des DGB über die letzten zehn Jahre hin ansehen: Diese Schrumpfung bedeutet zugleich einen Verlust an Kampfkraft - und der Streik ist eine der Urformen des gewaltfreien Kampfs. Und dieser Verlust an Kampfkraft ist ein Verlust an gesellschaftlicher Gegenmacht.

Und wenn wir den Gewerkschaften vorwerfen, daß ihnen das Schicksal der Erwerbslosen über Jahre hin am Arsch vorbei ging - dann nicht etwa, weil wir zu wenig warme Worte gehört hätten, dann deshalb, weil schlichtweg verpennt wurde, an diesen beiden Hebeln anzusetzen.

Wenn wir - zumindest ein bißchen etwas - dazu beitragen wollen, daß diese Abwärtsentwicklung umgedreht werden kann, müssen wir analysieren, wo die Ursachen liegen. Sie liegen nicht darin - wie uns manche Propheten von der Linkspartei weismachen wollen -, daß ein "neoliberaler Diskus" in den 1990er Jahren die Oberhand gewonnen hätte. Laut diesem Erklärungsmuster wäre es damit getan, die Stimmung herumzureißen und nach dem Motto "Die besseren Argumente zählen" - die Mehrheit hinter sich zu scharen.

Es führt nichts daran vorbei, zu realisieren, daß das Wort von der Globalisierung - neben vielem Blödsinn und Verwirrung stiftenden Unfug - auch einiges an Wahrheit enthält. Der Kern der mit dem Schlagwort Globalisierung beschriebenen wirtschaftlichen Umwälzungen besteht darin, daß die Macht des Kapitals durch gigantische globale Konzentrationsprozesse gewaltig angewachsen ist. Die Gewerkschaften haben es immer seltener mit auf den nationalen Standort beschränkten Unternehmen, sondern mit immer mächtigeren global playern zu tun. Und da ist die Drohung mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer nur eines von einer Vielzahl beliebter Folterinstrumente. Oft hat allein das Vorzeigen dieser Folterinstrumente Wirkung getan und die gewerkschaftlichen VerhandlungsführerInnen im Tarifstreit zum Einknicken veranlaßt. Diese Erfahrung darf allerdings nicht zur illusionären Einschätzung verführen, die Gewerkschaften hätten nur standhafter sein müssen, dann wäre auch essentiell mehr herauszuholen gewesen. Dem ist - unterm Strich - nicht so!

Die Gewerkschaften wurden deshalb mehr und mehr geschwächt, weil sie der zunehmenden Konzentration der wirtschaftlichen Macht, des Kapitals, immer weniger entgegenzusetzen hatten. Wie schon zu Beginn der Gewrkschaftsbewegung im 19. Jahrhundert gilt: Die Kräfte müssen gebündelt werden. Der einzig realistische Weg besteht darin, die Gewerkschaften europaweit stärker zusammenzuschließen und EUROPAWEIT streikfähig zu machen. Und dazu genügt bei weitem nicht ein bürokratischer Wasserkopf wie der 1973 gegründete Europäische Gewerkschaftsbund EGB. Selbst nationale Generalstreiks hätten heute nur noch einen Bruchteil der Durchschlagskraft, die sie noch vor 50 Jahren hatten. Deshalb muß eine Lehre aus den letzten Jahrzehnte gewerkschaftlicher Politik heißen: Ein streikfähiger Zusammenschluß der europäischen GewerkschafterInnen muß her. Und das ist auch zu organisieren. Nur so kann hinter den zwei genannten Hebeln auch die nötige Kraft entfaltet werden. Mit der Hebelwirkung kann die eingesetzte Kraft zwar in ihrer Wirkung gesteigert werden - wenn aber nicht genügend Kraft dahinter steckt, nützt der schönste Hebel nichts!

Von all dem sind wir aber noch weit entfernt. Weder mit dieser Analyse allein, noch mit den illusionären Parolen mancher Anführer der Linkspartei, können wir das Ruder herumreißen. Wenn wir die letzten drei Jahre Montags-Demos zurückblicken, müssen wir der ungeschminkten Wahrheit ins Gesicht sehen, daß die Zahl der TeilnehmerInnen im ersten Jahr mehr und mehr zurückgegangen ist und in den Jahren 2005 und 2006 auf einen - immerhin zähen - Kern beschränkt blieb. Woran liegt es, daß die Mehrheit, von der eingangs die Rede war - 58 Prozent, 75 Prozent, 78 Prozent - so desillusioniert und lethargisch ist? Wenn wir dies nicht analysieren, finden wir auch keinen Ansatzpunkt, wie auf eine Veränderung hingewirkt werden könnte.

Horst Eberhard Richter, der bekannte Psychoanalytiker und Atomwaffengegener, sprach kürzlich in einem Interview von der "narkotisierten Gesellschaft". Wenn bei allem Sozialabbau nach wie vor das TV-Gerät als unpfändbar gilt, hat dies einen ganz gewichtigen Hintergrund. Warum sitzen im Durchschnitt die Deutschen täglich mehrere Stunden vor der Glotze. Das ist natürlich heute die effektivste - und zudem legale - Droge, mit der sich das Elend ertragen läßt - ohne sich wehren zu müssen. Nun nutzt es aber selbstverständlich nichts, den Menschen mit erhobenem Zeigefinger zu predigen: Setzt euch doch nicht JEDEN Abend vor die Glotze oder vom Konsum von Deutschlands meistverkauftem Toilettenpapier - dem mit dem vier Buchstaben - anzuraten. Die Menschen beginnen erst dann, sich zu wehren, wenn sie einen Weg erkennen können, der aus der Misere herausführt. Vieles haben sie ja schon erkannt - sonst wäre der Schmerz ja nicht so groß, daß zu solch hohen Dosen an Narkotika gegriffen würde. Die Desillusionierung ist ja bereits weit fortgeschritten.

Ende letzten Jahres wurde eine andere Umfrage veröffentlicht, die es - wie eben die eingangs zitierte - nicht auf die Titelseiten der Mainstream-Medien geschafft hat. Und diese Umfragen sind die interessantesten! Laut einer vom 'stern' in Auftrag gegebenen Umfrage des Forsa-Instituts meinen 82 der deutschen Bevölkerung, sie hätten politisch nichts zu sagen. Ebenfalls 82 Prozent der Gesamtbevölkerung sind der Ansicht, daß "auf die Interessen des Volkes keine Rücksicht" genommen werde. In Ostdeutschland sind es sogar 90 Prozent. Nur 18 Prozent sind der Meinung, daß "das Volk etwas zu sagen hat".

Auch in der Frage, welchen Einfluß sie im parlamentarischen System der Bundesrepublik über Wahlen ausüben können, wächst die Skepsis. Nur noch fünf Prozent der Befragten sind der Auffassung, sie könnten durch Wahlen die Politik "in starkem Maße" mitbestimmen. 48 Prozent glauben, sie könnten mit einer Wahlteilnahme "etwas" Einfluß ausüben. 47 Prozent hingegen sind der Überzeugung, die Politik durch Wahlen "gar nicht" mitbestimmen zu können. In Ostdeutschland meinen das sogar 56 Prozent.

Die Akzeptanz des politischen Systems - gleich, ob damit die papierene Grundlage im Grundgesetz oder die politische Realität gemeint ist, schwindet: Der Forsa-Umfrage zufolge sind 36 Prozent mit dem politischen System unzufrieden (in Ostdeutschland: 51 Prozent) wie es auf dem Papier festgelegt ist. Mit dem tatsächlichen Funktionieren des Systems sind sogar 61 Prozent unzufrieden (in Ostdeutschland: 79 Prozent).

Auch im Mitgliederverlust von SPD und CDU zeigt sich die wachsende Kluft zwischen Bevölkerung und der Kaste der PolitikerInnen. Hatte die SPD 1998 zu Beginn der "rot-grünen" Koalition noch rund 750.000 Mitglieder - zu Zeiten des Bundeskanzlers Willy Brandt überschritt sie einmal die Million - sank die Zahl in sieben Jahren "rot-grünen" Sozialabbaus und Umweltzerstörung unter die historische Tiefstmarke von 600.000. Inzwischen geht es in beschleunigtem Tempo auf die 500.000 zu. Die CDU verzeichnet eine parallele Entwicklung. Waren es bei ihr noch zu Zeiten des DDR-Anschlusses rund 750.000, so sank deren Mitgliederzahl inzwischen auf dasselbe Niveau wie das der SPD. Den größten Anteil machen in beiden Parteien Männer um die 60 aus.

Und wie jetzt am Wochenende gemeldet wurde, wollen die Parteien ganz ungeniert diesen Mitgliederschwund durch einen Griff nach Steuergeldern ausgleichen.

Wenn vorhin von Desillusionierung und Lethargie die Rede war, ist keineswegs in beiden Fällen etwas Negatives gemeint: Der bedeutende deutsche Philosoph Schopenhauer sagte einmal sinngemäß: Wer sich von einem Irrtum befreit, verliert nicht, sondern gewinnt. Wissen, daß etwas falsch ist, ist ein Gewinn an Wahrheit. Illusion schadet immer: Früher oder später wird sie demjenigen, der sie hegt, Nachteile bringen. Desillusionierung ist also etwas Positives.

Also: Wenn 80, 90 Prozent der Deutschen von der sogenannten repräsentativen Demokratie desillusioniert sind, haben sie einen Gewinn an geistiger Klarheit. Die Erkenntnis muß allerdings noch soweit reifen, daß sich die Menschen Gedanken darüber machen, was denn anstelle des Parlamentarismus aufgebaut werden soll. Diktaturen wie im Ostblock mit seinem "realexistierenden Sozialismus" wollen sie gewiß nicht. Deshalb können sie mehrheitlich der Verstaatlichungspolitik der von manchen als sozialistische Leitfiguren angebeteten lateinamerikanischen Präsidenten Hugo Chavez oder Ivo Morales nichts abgewinnen. Statt die Wirtschaft weiter zu zentralisieren - ob in nationalem oder internationalem Format - müssen wir sie dezentralisieren. Kapitalkonzentration führt immer zu wirtschaftlicher Macht und damit unweigerlich zu politischer Macht. Nur mit dem Mittel der Dezentralisierung kann die Ökomomie demokratiefähig umgestaltet werden.

Das sind Thesen, die eine Perspektive weisen. Über diese und andere mögliche Perspektiven muß dringend auf möglichst breiter Basis diskutiert werden. Der Kapitalismus kann schneller zusammenbrechen als wir alle denken. Die gegenwärtige Kredit-Krise hat das Potential, in eine globale Wirtschaftskrise nach dem Vorbild der 1930er Jahre zu münden. Der Kapitalismus hat aber auch die Kraft, sich vielleicht noch 80, 90 Jahre an der Macht zu halten. Ob morgen oder erst in ein paar Jahrzehnten, das wissen nur Hellseher. Und Hellseher gibt es bekanntlich nicht.

Gleich wie es kommt, müssen wir darauf vorbereitet sein. Die kleinen Leute müssen ihre Kräfte bündeln. Die wichtigste Organisation, um dies zu bewerkstelligen, ist immer noch die Gewerkschaft. Diese darf nicht durch politisch motivierte Gegen-Gewerkschaften geschwächt, sondern muß demokratisch umgestaltet und zu europäischen Einheitsgewerkschaften - schließlich zu globalen Einheitsgewerkschaften zusammengeschlossen werden. Gleichzeitig muß eine politische, demokratische Perspektive entwickelt werden. Die Montags-Demo-Bewegung kann dazu das Klümpchen Sauerteig sein, mit dem - ihr kennt vielleicht das Gleichnis - eine tausendfache Menge an Mehl in Brot verwandelt werden kann.

 

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