6.11.2019

Witz der Woche
Satire von Martin Buchholz

Essay über den Schwund der Mitte

Handwerker-Décolleté - Grafik: Samy - Creative-Commons-Lizenz Namensnennung Nicht-Kommerziell 3.0
Entschuldigen Sie: Haben Sie zufällig irgendwo die politische Mitte gesehen? Eine derzeit mal wieder offene deutsche Frage. Um genau zu sein: Eine mitteldeutsche Frage, bei der es offenbar um die Wurst geht...

Genauer: um die Thüringer Bratwurst, die bekanntlich zwei zipfelige Enden hat und dazwischen eine Mitte, die sich dicke tut. Bloß, daß sich diese Mitte inzwischen offenbar verdünnisiert hat. Das jedenfalls war das allgemeine Klagelied der meisten Thüringer Polit-Würstchen, die sich in heftigen Wahlkrämpfen wanden:

Sag mir, wo die Mitte ist? Wo ist sie gebliehieben?
Sag mir, wo die Mitte ist? Was ist gescheh’n?

Immer wieder das gleiche Gesabbel: Die Wähler hätten sich angeblich von der politischen Mitte verabschiedet und eine Zuflucht "an den Rändern" gefunden. Wenn man in diesem thüringischen Mittel-Deutschland, wo die Mittel mäßig sind und die Mittelmäßigkeit umso unmäßiger, nachfragt: Wo, bitte, geht's hier zur Mitte? – dann ist die Antwort des dortigen Möchtegern-Gauleiters geradeheraus: "Immer rechts halten, dann noch mal rechts rum, und von da aus dann ganz rechts!"

Die Links-Partei hingegen lümmelt dort schon längst mitten auf dem vielbeschlafenen bürgerlichen Lager. Ein ostwestlicher Diwan, auch wenn die CDU immer noch die Links-Partei als den östlichen Iwan satanisiert. Doch die Ramelowsche Staatsmännelei ist sowas von mittig, daß die CDU in Thüringen dagegen nur noch als Randerscheinung wahrzunehmen ist.

Freude hingegen bei der SPD: Sie hat in Thüringen sehr viel sicherer die Fünf-Prozent-Hürde genommen als die Grünen und die FDP. Doch wenn bei den Sozialdemokraten tatsächlich die Schwarze Null den Vorsitz übernimmt, wird diese Völkchen-Partei wohl endgültig im Nirwana verscholzen. Dann hat sich die SPD endgültig in der Urne verascht – und übrig bleibt die reine Leere.

Apropos: Die Leere ist ja das eigentliche Kennzeichen der Mitte.

Das Nichts – eine metaphysische Erscheinungsform. Um aber in Erscheinung zu treten, um überhaupt wahrgenommen zu werden, braucht das Nichts eine Umgrenzung. Es braucht einen Rand. Dann nennt man es ein Loch, wie uns Tucholsky lehrte. Ein Loch ist also ein Nichts mit etwas drum herum. Soll heißen: Jedes Loch braucht einen Rand, wobei die meisten Löcher den Rand einfach nicht halten können. Sie kriegen den Rand nicht voll mit ihrem Gelaber über "die Ränder". Das ist das allgemeine Loch-Prinzip: Außen herum ist der Rand – und in der Mitte ist das Nichts.

Womit die Frage, wo die politische Mitte abgeblieben sei, wohl ausreichend geklärt wäre.


...und hier ein link zur Internet-Präsenz von Martin Buchholz:
www.martinbuchholz.de

 

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