4.04.2004

Kommentar

Gegen Reaktionäre

Schon im Vorfeld der Protestaktionen gegen Sozialabbau vom Samstag wurde deutlich, daß der DGB nur mit angezogener Handbremse mobilisierte. Außer ver.di hatten sich alle übrigen Teilgewerkschaften auffällig zurückgehalten. Und der "grüne" ver.di-Vorsitzende Bsirske nutze seinen Auftritt in Stuttgart zu einer Philippika gegen Aktionäre und Reaktonäre, die gar nicht an der Regierung sind...

Entgegen allen Erwartungen - und Befürchtungen - kamen in Stuttgart über 150.000 Menschen zum Protest gegen den Sozialabbau zusammen. Und dies trotz mangelhafter Mobilisierung von Gewerkschaftsseite und, obwohl noch am Mittag über 200 Busse auf den Zufahrtswegen im organisationsbedingten Stau steckten. Ausgerechnet durch das bekannte Nadelöhr Neue Weinsteige hatten die Verantwortlichen sämtliche Busse geleitet. Dies, obwohl drei weitere Zufahrtswege zu den beiden Sammelorten der Demo hätten genutzt werden können. So schimpfte ein dem Autor namentlich bekannter Busfahrer während dem Stop-and-Go hunderter Busse auf der Neuen Weinsteige: "Das ist gewollt. So idiotisch kann niemand sein."

Und so zog sich die Kundgebung auf dem Stuttgarter Schloßplatz nach der Durchsage um 12 Uhr betreffs der "verhinderten" 200 Demo-Busse doch sehr angenehm über eine Stunde in der Art eines Open-Air- und Free-Concert hin. Die überwiegende Mehrheit schien jedenfalls die Musik von 'Fools Garden' zu mögen und tröge Funktionärsbeiträge nicht zu vermissen.

Der erste Redebeitrag der Kundgebung, den der DGB-Landesvorsitzende Rainer Bliesener ableistete, riß nach so starker musikalischer Konkurrenz niemanden auf dem Stuttgarter Schloßplatz zu Beifallsstürmen hin. Recht hatte Bliesener zwar, wenn er meinte: "Wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft hat schon verloren." Doch erstens ist der Spruch inzwischen allzu oft zitiert und zweitens schien der DGB sich bisher mit der zweiten Hälfte zufrieden zu geben. Und den Überraschungs-Coup der Demo gegen Sozialabbau am 1. November letzten Jahres, der ohne gewerkschaftliche Unterstützung über 100.000 Menschen auf die Beine brachte, schien Rainer Bliesner zu vergessen, wenn er vollmundig tönte: "Wenn man uns reizt, sagen wir den Massen: Ihr müßt aufstehn!"

Nun ja, immerhin ist dem DGB zu Gute zu halten, daß mit dem aktuellen Slogan "Aufstehn, damit es endlich besser wird!" gegenüber dem 1. Mai 2003 der positive Bezug auf "Reformen" fallen gelassen wurde. Und wenn auch Blieseners Prognose "Heute entsteht in Europa eine neue soziale Bewegung" reichlich optimistisch ist, mochte dieser an einem Samstag mit über 250.000 Demo-TeilnehmerInnen in Berlin, über 120.000 in Köln und mehreren Millionen in ganz Europa niemand widersprechen.

Leider griff daraufhin der Hauptredner, Frank Bsirske, doch wieder auf die ach so nötigen "Reformen" zurück. Es sei "sonnenklar", daß Deutschland angesichts über 4 Millionen Arbeitsloser Reformen benötige. Noch mehr Reformen für noch mehr Arbeitslose?, fragten sich da manche betroffen. Und als Beispiele für eine "aktive Zinspolitik" und Neuverschuldung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, wußte er ausgerechnet Großbritannien, Dänemark und die USA als Beispiele zu benennen.

In der "Agenda 2010" entdeckte er einen "schwarzen Faden" und während der ersten drei Viertel seiner langen Rede konnte der Eindruck entstehen, er kritisiere Aktionäre und Reaktionäre, die an der Regierung sind. Ausführlich malte er die "Gesetzes-Vorgaben" von Rogowski, dem Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie, schwarz in schwarz. Danach nahm er sich den Hundt vor: Er zeichnete detailgetreu die bekannten aktuellen Forderungen des Arbeitgeber-Präsidenten Dieter Hundt, ließ dabei aber außer Acht, daß diese Forderungen immer flugs verschärft werden, nachdem sie die amtierende Regierung gerade erst umgesetzt hat. Weiter widmete er sich Stoiber und prügelte ihn für die "Agenda 2010" als sei Stoiber der amtierende Kanzler.

Schröder kam namentlich in Bsirskes Rede gerade eben zweimal vor. Und im letzten Viertel seiner Rede waren dann auch ein paar starke Sprüche eingebaut, die von den Massenmedien gerne zitiert werden. So war dann vom "Bundeskanzler" die Rede, der eine "Politik gegen die eigene Stammwählerschaft" mache. Wer genau hinhörte, bemerkte allerdings, daß die Positionen Bsirskes - von solchen zitierfähigen Kraftsprüchen abgesehen - wachsweich sind. So forderte er "verbindliche" Mindestlöhne oder etwa "auskömmliche" Renten. Und bei seiner Forderung nach "Bildung ohne Klassenschranken" hätte manches GEW-Mitglied ihm gerne zugerufen, daß sich die Bildungs-Chancen der unteren Schichten in den letzten sechs Jahren - welcher Regierung? - mehr und mehr verschlechterten.

Der Gesamteindruck der Rede des ver.di-Vorsitzenden läßt den Schluß zu, daß sich Bsirske an dem Motto orientierte: "Ihr könnt die CDU nicht wählen, die amputiert Euch zwei Beine." Vielleicht hat er einen Spruch aufgegriffen, der in Gewrkschaftskreisen gerade viel zitiert wird, aber nicht ganz zugehört. Denn der SPD-Delegierte Klaus Schüler aus Eisenach hatte seinem neuen Parteivorsitzenden Müntefering vorgehalten: "Wir können nicht argumentieren: Ihr könnt die CDU nicht wählen, die amputiert Euch zwei Beine. Wählt die SPD, die amputiert euch nur eins."

Aber Bsirske ist ja auch Mitglied der kleineren der beiden Regierung-Parteien und kein SPD-Mitglied. Und so nimmt es auch nicht Wunder, daß er über jene Partei, die inzwischen locker auch die FDP an sozialer Kompetenz übertrifft, kein Wort verlor.

 

Klaus Schramm

 

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