17.09.2002

Atomindustrie besteht auf
"Ausstieg"

Weshalb die AKW-Lobby den Kanzlerkandidaten Stoiber zurückpfiff

Aus der Sicht der Umweltverbände und der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW ist die Atomenergiepolitik der rot-grünen Bundesregierung ein Desaster. Man könnte versucht sein, die Kritik der Verbände als überzogen abzutun - gäbe es nicht den Kanzlerkandidaten der Union, Edmund Stoiber.

Dieser hatte vor Monaten mehrfach angekündigt, er wolle den "Atomausstieg" im Falle eines Wahlsieges revidieren. Doch dann intervenierten die Atomkraftwerksbetreiber beim Kanzlerkandidaten der Union. Nach Medienberichten wiesen sie Stoiber auf die Vorzüge des mit der rot-grünen Bundesregierung ausgehandelten "Atomkonsens-Vertrags" hin, der ihnen Laufzeiten von mehr als 30 Jahren garantiere. Die Atomindustrie ist sehr zufrieden mit dem jüngst novellierten Atomgesetz und gestattet der Bundesregierung großzügig, den festgeschriebenen Bestandsschutz für die deutschen Atomkraftwerke der Öffentlichkeit als "Atomausstieg" zu verkaufen. Stoiber hat verstanden und verzichtet inzwischen auf Ankündigungen, er wolle das für die Atomindustrie so vorteilhafte Atomgesetz wieder ändern.

Das rot-grüne Atomgesetz garantiert den deutschen Atomkraftwerken Betriebszeiten bis zu ihrem technisch-wirtschaftlichen Ende. Über eigene sicherheitstechnische Bedenken ging die Bundesregierung hierbei großzügig hinweg. Noch im Jahre 1999 führten die verantwortlichen Juristen des Bundesumweltministeriums in einem internen Rechtsgutachten den Nachweis, daß keines der deutschen Atomkraftwerke dem aktuellen "Stand von Wissenschaft und Technik" entspricht. Nach der geltenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hätte dieses Gutachten zur unverzüglichen Stillegung der deutschen Atomkraftwerke führen müssen.

Statt dessen behaupten dieselben Spitzenbeamten des Umweltministeriums im neuen Atomgesetz - ohne weitere Begründung - ganz einfach das glatte Gegenteil: Die deutschen Atomkraftwerke entsprächen dem Stand von Wissenschaft und Technik.

Das neue Atomgesetz stellt auch einen Versuch dar, die unmittelbaren Probleme der Atomindustrie mit ihrem Atommüll zu beseitigen: Der radioaktive Müll darf ganz einfach in neuen Mehrzweckhallen direkt neben den Atomkraftwerken jahrzehntelang gelagert werden, ohne ein Endlager nachweisen zu müssen. Und das aus den Wiederaufarbeitungsanlagen in Frankreich und Großbritannien zurückkehrende Plutonium darf in deutschen Atomkraftwerken "verbrannt" werden, obwohl das zu einem labileren Reaktorbetrieb führt.

Im "Atomkonsens-Vertrag" sicherte die Bundesregierung der Atomindustrie weiterhin zu, deren vielfältige Privilegien unangetastet zu lassen. Im Gegensatz zu anderen Energieträgern soll Uran auch weiterhin steuerbefreit bleiben, und im Gegensatz zu anderen risikobehafteten Unternehmungen wird die Atomindustrie auch weiterhin keine risikoadäquate Haftpflichtversicherung für ihre Anlagen nachweisen müssen. Die milliardenschweren Atomrückstellungen sollen den Atomkonzernen auch weiterhin als Möglichkeit der kostengünstigen Innenfinanzierung für den anhaltenden Expansionskurs zur Verfügung stehen. Obendrein sicherte die Bundesregierung (rechtswidrig) zu, künftig keine kostenaufwendigen sicherheitstechnischen Nachrüstungen vorzuschreiben.

Wurden mit dem "Atomkonsens" die Atomkraftwerksbetreiber wie RWE, E.ON, EnBW und HEW zufriedengestellt, so unterstützte diese Bundesregierung den Atomkraftwerkshersteller Siemens mit zahlreichen Hermes-Bürgschaften bei seinen Atomexporten ins Ausland. Derartige Staatsbürgschaften erhielt Siemens für die Nachrüstung eines slowenischen, eines argentinischen und eines litauischen Atomkraftwerks.

Selbst für den Neubau von zwei Atomkraftwerksblöcken in einer chinesischen Sonderwirtschaftszone gewährte Rot-Grün eine Hermes- Bürgschaft. Außerdem verzichtete die Bundesregierung darauf, gegen geplante EU-Kredite für den Fertigbau zweier Atomkraftwerke in der Ukraine zu stimmen. Während also im Inland der jahrzehntelange Weiterbetrieb von Atomkraftwerken abgesichert wurde, förderte Rot- Grün den Atomkraftwerksbau im Ausland.

Als dritten wesentlichen Baustein ihrer Atompolitik änderte die Bundesregierung 2001 die Strahlenschutzverordnung. "Strahlenschutz" scheint ebenso ein Euphemismus zu sein wie "Atomausstieg". Denn die neue Verordnung erlaubt die mengenmäßig unbegrenzte Freisetzung radioaktiver Abfälle in die Umwelt. Nach ihr wird künftig ein großer Teil des Schutts abgerissener Atommeiler auf der nächsten Mülldeponie landen können. Eine Heraufsetzung der entsprechenden Grenzwerte macht es möglich. Weil dieser umdeklarierte Atommüll keinerlei Kontrolle mehr unterliegt, können künftig radioaktive Substanzen selbst in Lebensmitteln wieder auftauchen, ohne daß es bemerkt werden wird. Die Gesellschaft für Strahlenschutz rechnet langfristig mit zigtausend Strahlentoten aufgrund der neuen Bestimmungen.

Die neue Strahlenschutzverordnung hat für die Bevölkerung den Strahlenschutz deutlich verschlechtert. Die zulässige jährliche Gesamtbelastung eines Normalbürgers wurde von zuvor 0,6 Millisievert auf ein Millisievert erhöht (Dosisgrenzwert). Rot-Grün erlaubt also fast eine Verdoppelung der Strahlenbelastung. Zudem werden Schwangere einer großen Gefahr ausgesetzt. Neuerdings dürfen sie im inneren Kontrollbereich von Reaktoren arbeiten. Und für die Kumpel im ehemaligen Uranbergbau der DDR in der Wismut-Region im Erzgebirge gelten auch weiterhin noch nicht einmal die Grenzwerte der gesamtdeutschen Strahlenschutzverordnung.

Die Fachebene des Bundesumweltministeriums hat Kritikern noch im April 2001 schriftlich bestätigt, daß die Strahlenschutzverordnung so nicht beschlossen werden dürfe. Dennoch trat sie vier Monate später in Kraft.

 

Henrik Paulitz
Der Autor ist Mitarbeiter der Internationalen Ärzte für die Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW)

 

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