Weshalb die AKW-Lobby den Kanzlerkandidaten Stoiber zurückpfiff
Aus der Sicht der Umweltverbände und der atomkritischen
Ärzteorganisation
IPPNW ist die Atomenergiepolitik der rot-grünen Bundesregierung ein
Desaster. Man könnte versucht sein, die Kritik der Verbände als
überzogen
abzutun - gäbe es nicht den Kanzlerkandidaten der Union, Edmund
Stoiber.
Dieser hatte vor Monaten mehrfach angekündigt, er wolle den
"Atomausstieg" im Falle eines Wahlsieges revidieren. Doch dann
intervenierten die Atomkraftwerksbetreiber beim Kanzlerkandidaten der
Union. Nach Medienberichten wiesen sie Stoiber auf die Vorzüge des
mit der rot-grünen Bundesregierung ausgehandelten "Atomkonsens-Vertrags"
hin, der ihnen Laufzeiten von mehr als 30 Jahren garantiere. Die
Atomindustrie ist sehr zufrieden mit dem jüngst novellierten Atomgesetz und
gestattet der Bundesregierung großzügig, den festgeschriebenen Bestandsschutz
für die deutschen Atomkraftwerke der Öffentlichkeit als "Atomausstieg" zu
verkaufen. Stoiber hat verstanden und verzichtet inzwischen auf
Ankündigungen, er wolle das für die Atomindustrie so vorteilhafte
Atomgesetz wieder ändern.
Das rot-grüne Atomgesetz garantiert den deutschen Atomkraftwerken
Betriebszeiten bis zu ihrem technisch-wirtschaftlichen Ende. Über
eigene sicherheitstechnische Bedenken ging die Bundesregierung hierbei
großzügig hinweg. Noch im Jahre 1999 führten die verantwortlichen Juristen des
Bundesumweltministeriums in einem internen Rechtsgutachten den
Nachweis, daß keines der deutschen Atomkraftwerke dem aktuellen "Stand von
Wissenschaft und Technik" entspricht. Nach der geltenden Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts hätte dieses Gutachten zur unverzüglichen
Stillegung der deutschen Atomkraftwerke führen müssen.
Statt dessen behaupten dieselben Spitzenbeamten des
Umweltministeriums im neuen Atomgesetz - ohne weitere Begründung - ganz
einfach das glatte Gegenteil: Die deutschen Atomkraftwerke entsprächen dem Stand von
Wissenschaft und Technik.
Das neue Atomgesetz stellt auch einen Versuch dar, die unmittelbaren
Probleme der Atomindustrie mit ihrem Atommüll zu beseitigen: Der
radioaktive Müll darf ganz einfach in neuen Mehrzweckhallen direkt
neben den Atomkraftwerken jahrzehntelang gelagert werden, ohne ein Endlager
nachweisen zu müssen. Und das aus den Wiederaufarbeitungsanlagen in
Frankreich und Großbritannien zurückkehrende Plutonium darf in
deutschen Atomkraftwerken "verbrannt" werden, obwohl das zu einem labileren
Reaktorbetrieb führt.
Im "Atomkonsens-Vertrag" sicherte die Bundesregierung der
Atomindustrie weiterhin zu, deren vielfältige Privilegien unangetastet zu lassen.
Im Gegensatz zu anderen Energieträgern soll Uran auch weiterhin
steuerbefreit bleiben, und im Gegensatz zu anderen risikobehafteten
Unternehmungen wird die Atomindustrie auch weiterhin keine
risikoadäquate Haftpflichtversicherung für ihre Anlagen nachweisen müssen. Die
milliardenschweren Atomrückstellungen sollen den Atomkonzernen auch
weiterhin als Möglichkeit der kostengünstigen Innenfinanzierung für
den anhaltenden Expansionskurs zur Verfügung stehen. Obendrein sicherte
die Bundesregierung (rechtswidrig) zu, künftig keine kostenaufwendigen
sicherheitstechnischen Nachrüstungen vorzuschreiben.
Wurden mit dem "Atomkonsens" die Atomkraftwerksbetreiber wie RWE,
E.ON, EnBW und HEW zufriedengestellt, so unterstützte diese Bundesregierung
den Atomkraftwerkshersteller Siemens mit zahlreichen Hermes-Bürgschaften
bei seinen Atomexporten ins Ausland. Derartige Staatsbürgschaften erhielt
Siemens für die Nachrüstung eines slowenischen, eines argentinischen
und eines litauischen Atomkraftwerks.
Selbst für den Neubau von zwei Atomkraftwerksblöcken in einer
chinesischen Sonderwirtschaftszone gewährte Rot-Grün eine Hermes-
Bürgschaft. Außerdem verzichtete die Bundesregierung darauf, gegen
geplante EU-Kredite für den Fertigbau zweier Atomkraftwerke in der
Ukraine zu stimmen. Während also im Inland der jahrzehntelange
Weiterbetrieb von Atomkraftwerken abgesichert wurde, förderte Rot-
Grün den Atomkraftwerksbau im Ausland.
Als dritten wesentlichen Baustein ihrer Atompolitik änderte die
Bundesregierung 2001 die Strahlenschutzverordnung. "Strahlenschutz"
scheint ebenso ein Euphemismus zu sein wie "Atomausstieg". Denn die
neue Verordnung erlaubt die mengenmäßig unbegrenzte Freisetzung
radioaktiver Abfälle in die Umwelt. Nach ihr wird künftig ein großer Teil des
Schutts abgerissener Atommeiler auf der nächsten Mülldeponie landen können.
Eine Heraufsetzung der entsprechenden Grenzwerte macht es möglich. Weil
dieser umdeklarierte Atommüll keinerlei Kontrolle mehr unterliegt, können
künftig radioaktive Substanzen selbst in Lebensmitteln wieder
auftauchen, ohne daß es bemerkt werden wird. Die Gesellschaft für Strahlenschutz
rechnet langfristig mit zigtausend Strahlentoten aufgrund der neuen
Bestimmungen.
Die neue Strahlenschutzverordnung hat für die Bevölkerung den
Strahlenschutz deutlich verschlechtert. Die zulässige jährliche
Gesamtbelastung eines Normalbürgers wurde von zuvor 0,6 Millisievert
auf ein Millisievert erhöht (Dosisgrenzwert). Rot-Grün erlaubt also fast
eine Verdoppelung der Strahlenbelastung. Zudem werden Schwangere einer
großen Gefahr ausgesetzt. Neuerdings dürfen sie im inneren Kontrollbereich
von Reaktoren arbeiten. Und für die Kumpel im ehemaligen Uranbergbau der
DDR in der Wismut-Region im Erzgebirge gelten auch weiterhin noch nicht
einmal die Grenzwerte der gesamtdeutschen Strahlenschutzverordnung.
Die Fachebene des Bundesumweltministeriums hat Kritikern noch im
April 2001 schriftlich bestätigt, daß die Strahlenschutzverordnung so nicht
beschlossen werden dürfe. Dennoch trat sie vier Monate später in Kraft.
Henrik Paulitz
Der Autor ist Mitarbeiter der Internationalen Ärzte für die
Verhütung
eines Atomkrieges (IPPNW)