Deutschlands Studenten verstärken ihren Protest gegen den Bildungsnotstand
Schon lange sind die Zumutungen im deutschen Bildungswesen nicht mehr hinzunehmen. Doch
erst jetzt formiert sich erstmals seit 5 Jahren wieder eine breite studentische Front gegen die Pläne,
aus der Hochschullandschaft eine Melkkuh für die Staatsfinanzen zu machen. Seit gut vier Wochen
haben sie den Charakter eines wirklich breiten Widerstands angenommen. Streiks, Besetzungen,
Demonstrationen – all dies scheint im aktuellen Wintersemester erneut zum studentischen
Aufbegehren zu gehören. Und die Mobilisation ist breiter der je.
Beispiele für den Widerstand gibt es viele. So besetzten etwa in Berlin dieser Tage hunderte
Studenten das Karl-Liebknecht-Haus, Bundeszentrale der PDS im Herzen von Berlin. Die Aktion
wurde von der Technischen Universität aus gestartet. Sie zeigt einen grundsätzlichen Wandel im
Ansehen der „demokratischen Sozialisten“. Waren sie vor fünf Jahren noch als natürliche
Verbündete begriffen worden, ist das Ansehen der PDS nach gut zwei Jahren
Regierungsbeteiligung auf Landesebene auf einem Tiefpunkt angelangt. Abschaffung des
Sozialfahrscheins beim Nahverkehr, Streichung des Blindengeldes, hohe Selbstbeteiligung für die
Schulbücher und schließlich die Erleichterung der Universitäten um rund 75 Millionen Euro und
die Reduzierung der Studienplätze von 130.000 auf 85.000 haben sie zum Haßobjekt des sozialen
Protestes werden lassen.
Zuvor waren bereits die Amtsräume des PDS-Wissenschaftssenators Flierl für rund 18 Stunden
besetzt gewesen. Gleichzeitig ging an den Hochschulen die Inbesitznahme der Institute weiter. An
der Freien Universität wurde mit der „Silberlaube“ der zentrale Gebäudekomplex auf dem
Campus besetzt. An der Humboldt-Universität läuft die Diskussion nur noch darüber, wie und
wann sämtliche Institute für einen möglichen Lehrbetrieb geschlossen werden können. Gleichzeitig
beschlossen am Mittwoch die Studenten der Universität Halle-Wittenberg zumindest für den
Hallenser Teil den Ausstand. Gerüchte, nach denen mit der Leopoldina die älteste deutsche
Akademie besetzt werden soll, wurden bislang nicht bestätigt. Die Landeshauptstadt Magdeburg
ist bereits seit Wochen ein Zentrum gegen den Abbau im Bildungswesen. In Göttingen wurde der
Lehrbetrieb inzwischen auf öffentliche Plätze verlagert, um die Einwohner auf den Sinn
universitärer Bildung aufmerksam zu machen. In Braunschweig vertrieben Studenten den
niedersächsischen Bildungsminister Stratmann während einer Rede in der Universität. In Marburg
blockierten Studenten den Verkehr in der Innenstadt. Auch in Bayern lösen sich die Protestaktionen
regelrecht ab.
Derartig an Qualität gewonnen hat der Protest erst in den vergangenen Wochen. Zwar gab es
bereits zuvor Aktionen, wie etwa eine Mahnwache der Potsdamer Studenten nahe des zentral
gelegenen „Platz der Einheit“, doch waren dies eher vereinzelte Bemerkungen, statt eines
kollektiven Aufschreis. Hintergrund sind die derben Einschnitte, die inzwischen die Substanz des
deutschen Hochschulwesens sowohl in Lehre, wie auch in Forschung treffen. So kursiert an der
Freien Universität derzeit eine „Giftliste“ mit den konkreten Zahlen des Streichkonzerts. So werden
die einzelnen Institute um teilweise die Hälfte ihrer Lehrstühle erleichtert, völlige Ausnahmen gibt
es kaum. Die Geschichtswissenschaft, Herzstück universitärer Bildung von Anbeginn der
Universitätsgeschichte überhaupt, soll mittelfristig abgewickelt werden. Die Politologie, vormals
die Beste in Deutschland, wird auf rund zehn Lehrstühle „gesundgeschrumpft“. Soziologie wird es
nur noch im Hauptstudium geben, was ein Ausbluten des Fachbereichs unumgänglich macht.
FU-Präsident Dieter Lenzen ist dies offenbar nicht unangenehm. Im Gegensatz zu seinem Kollegen
von der TU, der sich mit den Streikenden solidarisierte, freut sich der FU-Mann über die nun
gegebene „Planungssicherheit“.
Kein Berliner Phänomen, wie die bundesweiten Proteste zeigen. In Hessen wird gegenwärtig über
Studiengebühren in Höhe von rund 700 Euro mehr als nur ernsthaft diskutiert. Sachsen-Anhalt will
im Hochschulsektor zehn Prozent einsparen. In Niedersachsen sinkt der Etat der Universitäten um
rund 40 Millionen Euro, obwohl die Zahl der Studienanfänger um 15 Prozent steigen wird. In
Berlin erreicht derzeit nur noch jeder zweite Anfänger den Abschluß, die Zustände an den
Hochschulen provozieren eine Abbrecherquote von 50 Prozent.
Doch all dies juckt die Politik wenig. Zwar äußerte sich der Berliner PDS-Chef Stefan Liebig am
Mittwoch im Regionalfernsehen solidarisch und schob die Schuld für die Kürzungen auf die SPD
ab. Die Tatsache, daß sein Parteifreund Flierl der PDS fast einen Skandal präsentiert hätte und
massiv von einem Räumungsbefehl seines Büros abgehalten werden mußte, überging er glatt. Die
Vorstellung, daß eine knüppelnde Polizei Räume der offiziell mit den Studenten solidarischen
PDS „säubert“, wäre zumindest pikant. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD)
schloß eine Rücknahme der Kürzungen von 75 Millionen Euro jedoch aus. Er verwies auf denen
„Konsens“ mit der Uni-Präsidenten in diesem Fall. Dabei vergaß Wowereit, der in der Hauptstadt
mehr ob seiner Besuche von Promi-Parties, als wegen konstruktiver Politik Schlagzeilen macht,
jedoch zu erwähnen, daß die Studiengebühren von „Langzeitstudenten“ bereits im Haushalt des
Senats verplant sind. Doppelzüngiger, so viele Beobachter, kann eine Politik nicht argumentieren.
Um die Studienzeiten zu verkürzen, werden Gebühren eingeführt, andererseits jedoch die
Strafgelder bereits ausgegeben und auf sie gesetzt. Etwa zur Finanzierung von Renten für
kriminelle Manager aus dem Bankenskandal, oder einen Großflughafen, an dem trotz fehlender
Notwendigkeit eisern festgehalten wird.
Ein nicht minder so großer Skandal sind die politischen Absichten, die mit den Kürzungen
verbunden werden. Sie stehen im Zusammenhang mit dem 1998 initiierten „Bologna-Plan“, dessen
Urheber u.a. Deutschland ist. Nach dieser Vorstellung, die von der Kultusministerkonferenz der
Länder ausdrücklich gebilligt wurde, sollen die Universitäten als Kultur- und Bildungsgut
aufhören zu existieren. Lehre wird offen als Zuarbeit nach den jeweiligen Wünschen des Kapitals
beschrieben. Schnelle, verwertungsorientierte Ausbildung in EU-weit angeglichenen
Master-Studiengängen ist gewünscht. Durch ein Erfassungssystem soll die Möglichkeit der
umfassenden Bildung, des persönlichen Studium Generale, aber auch nur des kurzzeitigen
Interesses und der Spezialisierung, unmöglich gemacht werden. Schmalspurausbildungen mit
streng verschulten Charakter sind die gewollte Folge.
Allerdings müssen sich die Studenten vorwerfen, dies weitgehend hingenommen zu haben. So war
die „Giftliste“ der Berliner FU bereist seit Jahren in der Diskussion. Und beschlossen wurden die
Kürzungen bundesweit schon im vergangenen Semester – das im Sommer lag und sich für eine
breite Protestkultur besser geeignet hätte. Zudem meinte der Berliner „Tagesspiegel“ am
Donnerstag, daß den Studenten bei den aktuellen Protesten jede politische Forderung fehlt. Es
ginge ihnen um die Durchsetzung ihrer individuellen Interesse, frohlockte das Blatt, daß jeden
Widerstand gegen den Neoliberalismus in seinem Sinne umzudeuten pflegt. Doch in einem Sinne
die Zeitung Recht. Die aktuellen Proteste haben den Charakter einer studentischen
Massenbewegung angenommen und sind aus den partikularen Ecken herausgetreten.
Martin Müller-Mertens
Nachveröffentlichung aus rbi-aktuell.de