Diskussionsbeitrag (2) von Paul Tiefenbach
23.12.2000
Lieber Klaus,
ich könnte das Meiste in Deinem Beitrag unterschreiben und sehe die Dinge im
Großen und Ganzen wie Du. Auch die Tatsache, daß ich mich auf Michels statt
auf Agnoli konzentriert habe, ist nicht als Ablehnung von Agnoli zu
sehen. Er konzentriert sich aber mehr auf die Ergebnisse des
Veränderungsprozesses, auf die objektiven Funktionen von Parlament und
Parteien. Bei Michels geht es mehr um das "Wie": Wie spielt sich der Prozess
im Detail ab, dessen Ergebnis Agnoli benennt und kritisiert.
Da Debatte ja von unterschiedlichen Meinungen lebt, will ich im Folgenden
auf einige Punkte eingehen, bei denen ich anderer Meinung bin als Du.
1. Eigentlich ist das Kapital schuld
Du schreibst:
Um es klar zu benennen: Die Wirtschaft, die großen Konzerne, werden jede
nur denkbare Möglichkeit und als letztes Mittel neben allen Formen der
legalen Bestechung auch "finanzielle Zuwendungen" und "Landschaftspflege"
nutzen, um die Länderparlamente und den Bundestag als Herrschaftsmittel
in ihrer Hand zu behalten.
Es wurde ja schon Michels seinerzeit von Lukács vorgehalten, daß er
gewissermaßen das Kapital bei seiner Analyse außen vor lasse. Ich denke zwar
auch, daß die großen Konzerne und ihre Verbände die stärkste Einflußgruppe
in Deutschland bilden und kaum etwas gegen ihre zentralen Interessen
durchgesetzt werden kann. Ich glaube aber, daß dies bei der Veränderung der
Grünen keine Rolle gespielt hat. Es gab in der Anfangsphase der Grünen so
gut wie keine Verbindungen mit der Wirtschaft. "Landschaftspflege" oder
offene Bestechung sind mir schlechterdings nicht bekannt. Selbst wenn man
auf die Medienkonzerne abhebt (die "Springer- Presse" usw.), so ist sicher
richtig, daß diese die Realpolitisierung begrüßt haben, sie unterschieden
sich damit aber nicht von kapitalfernen Medien wie TAZ oder Kommune oder den
öffentlich-rechtlichen Medien. Natürlich hat die Wirtschaft das
"Vernünftigwerden" der Grünen gern gesehen und es mag hier oder da
Freundlichkeiten gegeben haben. Die "inneren Kräfte" für die Veränderung
reichten aber völlig aus, Einfluß der Konzerne war gar nicht nötig. Erst in
den letzten Jahren, mit dem Aufstieg zur Regierungspartei, ist es zu
finanziellen Wohltaten wie Sponsoring von Parteitagen oder Übernahme
verdienter Funktionäre auf Managerposten gekommen.
Für mich ist das ein Beispiel dafür, daß der politische Sektor durchaus sein
Eigenleben führt. Ich wehre mich dagegen, alles und jedes auf "das Kapital"
zurückzuführen, weil diese Auffassung dazu verleitet, bestehende
Handlungs- möglichkeiten zu vernachlässigen. Es gibt viele Bereiche
staatlichen Handelns, die Managern, Aktionären und Wirtschaftsfunktionären
weitgehend egal sind, weil sie ihre Interessen nur am Rande tangieren. Über
sie wird im staatlichen Bereich ziemlich autonom entschieden.
2. Volksentscheide, eine abwegige Idee?
Ich vermute, daß die ablehnende Haltung zu Volksentscheiden bei vielen
Linken auch mit dieser Gläubigkeit an die Allgegenwart des Kapitals zu tun
hat. In einer Diskussion mit dem der Marxistischen Gruppe nahestehenden
Professor Huisken reagierte dieser auf die Forderung nach stärkeren
Mitbestimmungsrechten für Bürger wie z.B. Volksentscheiden bzw. (die
kommunalpolitische Variante) "Bürgerentscheiden" mit völligem Unverständnis.
Wozu den Staat reformieren, wo er doch ohnehin nur der geschäftsführende
Ausschuß des Kapitals ist? Als wenn die Manager von Daimler-Benz als größtem
Bremer Arbeitgeber Zeit und Lust hätte, sich um Dinge zu kümmern wie den
Ausbau des Bremer Straßenbahnnetzes, das Lehrer/Schülerverhältnis oder die
Gestaltung der Innenstadt als Einkaufszentrum. Sie haben - ärgerlich genug -
durchgesetzt, daß das Land ihnen einen Autobahnzubringer für 600 Mio. DM
baut. Was sonst so im Rathaus passiert, juckt sie wenig.
Du argumentierst aber in Deinem Text anders, nämlich so:
daß in der Linken gelegentlich über Volksabstimmungen als "basisdemokratisches
Korrektiv" zum nicht grundsätzlich in Frage gestellten
Parlamentarismus diskutiert wurde, sehe ich dagegen eher als abwegige
Debatten an...
Volksentscheide, die ja eine mehrmonatige öffentliche Diskussion
voraussetzen, sollten nur über kontroverse Fragen von größerem Interesse
stattfinden, beispielsweise über den Atomausstieg, über die veränderte Rolle
der Bundeswehr, über die Privatisierung der Altervorsorge usw. In den USA
fanden parallel zu den Präsidentschaftswahlen in den verschiedenen
Bundesstaaten zusammengenommen ca. 200 Volksentscheide statt. Das ist m.E.
eine Überforderung der Abstimmenden und verhindert, daß man sich ein
qualifiziertes Urteil bilden kann. Es muß ein Gremium geben, daß die
zahllosen Entscheidungen minderer politischer Bedeutung trifft und hier
fällt mir - bei aller Kritik am Parlamentarismus - nichts besseres ein als
das Parlament. Möglichst ein reformiertes Parlament, z.B. mit
Amtszeitbegrenzung für die Abgeordneten, ohne 5%-Hürde usw. Das oft als
Alternative vorgebrachte "Rätesystem" ist m.W. noch nirgendwo konzeptionell
entwickelt worden. Es gibt lediglich einige vage Andeutungen von Marx, die
auf ein reichlich bürokratisches Verfahren verweisen.
3. Gegengesellschaft als Alternative?
Ich hatte ja in meinem ersten Beitrag Volksentscheide bzw. Bürgerentscheide
als Möglichkeit für Initiativen gesehen, ihre Einflußlosigkeit zu überwinden
und Fragen, die ihnen wichtig sind, in die öffentliche Debatte zu bringen
und letztlich zur Abstimmung zu stellen. Du schlägst jetzt einen anderen Weg
vor: die Initiativen sollten sich nicht auf politische Aufklärung
beschränken, sondern selbst gewissermaßen im Schoße der alten Gesellschaft
die neue aufbauen. Tauschringe, freie Schulen usw. werden als erste Schritte
genannt.
Ich finde solche Ansätze sympathisch und erkenne darin keinen Gegensatz zur
Forderung nach Volksentscheiden. Die Vorstellung allerdings, man könnte auf
diesem Weg nach und nach zu einer völlig neuen Gesellschaft kommen, so wie
der Kapitalismus von innen heraus den Feudalismus zersetzt hat, ist mir zu
abstrakt. Ich sehe das skeptisch, da es ja bereits zweimal Versuche gab,
eine Alternativgesellschaft aus den Nischen der bestehenden heraus
aufzubauen, nämlich ca. um 1900 und dann noch einmal im Anschluß an die 68er
Studentenrevolte. Beide Bewegungen sind nach einigen Jahrzehnten recht
spurlos in der traditionellen Gesellschaft aufgegangen. Von der letzten
Alternativbewegung sind hier in Bremen eigentlich nur eine Reihe von
Fahrradläden, Buchläden und eine Stadtzeitung übrig geblieben, die sich den
"Stern" als Vorbild gewählt hat. Richtig, der BUND betreibt mit EU-Geldern
einen Biobauernhof. Die Forderung nach der Einführung von Volksentscheiden
hat für mich den Vorzug, viel konkreter zu sein. Es gibt ausgearbeitete
Konzepte, eine breite Unterstützung in der Bevölkerung und erste Risse im
Ablehnungsblock der Parteien.
Paul
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