21.12.2000

Artikel von Richard Norton-Taylor

Atom-U-Boot
stand kurz vor der Kernschmelze

GUARDIAN, Samstag, 28. Oktober 2000

HMS Tireless: Wie ein "kleinerer Defekt" beinahe eine Katastrophe auslöste

Erst jetzt, mehr als fünf Monate nachdem das Verteidigungs- ministerium den Bewohnern Gibraltars versichert hatte, daß es sich nur um einen "kleineren Defekt" handelte, werden das volle Ausmaß und die dramatischen Konsequenzen offenbar. Das U-Boot HMS Tireless, das seit Mai am Fels von Gibraltar festsitzt, stand kurz vor einer Katastrophe, sein Atomreaktor "ganz kurz vor einem Unglück", erfuhr der Guardian aus sicheren Quellen.

Der Riss, weit ernster als zuerst vermutet, soll sich an einer kritischen Verbindungsstelle der Rohren im Kühlsystem des Wasserdruckreaktors befinden, die nicht isoliert werden kann. Die Marine erkennt nun, daß es sich nicht einfach um übliche Abnutzungserscheinungen handelt, sondern um einen potentiell katastrophalen Konstruktionsfehler. Gefragt, ob das Problem, das nun vermutlich ein "konstruktionsbedingtes" Problem ist, vorauszusehen war, geben die Quellen aus der Marine ausweichende Antworten. Gebetsmühlenhaft betonen sie, daß die Sicherheit "höchste Priorität" genieße.

Es besteht kein Zweifel, dass die Marine das Thema der Sicherheit äußerst ernst nimmt. Quellen aus dem Verteidigungs- und Nuklearbereich sind nicht beunruhigt wegen der Maßnahmen, die ergriffen wurden, nachdem das Leck in der Tireless schließlich diagnostiziert wurde - nämlich der Rückruf der gesamten britischen Flotte von Angriffs-U-Booten. Sie sind statt dessen besorgt darüber, warum das ursprüngliche Leck, Symptom eines, wie sich nun herausgestellt hat, weit verheerenderen Problems, nicht früher entdeckt wurde.

"Die Risse könnten sich an keiner schlimmeren Stelle befinden. Sie ist kritisch für die Sicherheit," wurde dem Guardian mitgeteilt. Quellen zufolge war der Reaktor der Tireless kurz vor dem Versagen - mit anderen Worten: kurz vor der Kernschmelze.

Die kritische Verbindungsstelle der Rohre, wo der Schweißfehler schließlich entdeckt wurde, war nicht mehr inspiziert worden, seit die ersten U-Boote der Swiftsure Klasse mit diesem Reaktordesign in den frühen 70er Jahren gebaut wurden, wie aus sicheren Quellen zu erfahren war. Man fügte hinzu: "Es handelt sich um einen sehr schweren Fehler des Inspektionsüberwachungssystems der Marine. Es ist ziemlich bemerkenswert."

Das Problem wird dadurch verschärft, daß die "Konstruktions- autorität" nicht beim Hersteller Rolls-Royce, sondern beim Verteidigungsminister liegt. Das heißt, das Verteidigungs- ministerium überwacht die U-Boote, die Hersteller sind für Fehler nicht verantwortlich.

Marine-Ingenieure sollen sich erstaunt darüber gezeigt haben, daß das bei der Tireless aufgetretene Problem so ernst war. Ebenso alarmierend ist, wie aus Quellen der Marine verlautet, daß die Risse in den Rohren des Reaktor-Kühlsystems nur entdeckt worden seien, weil eine neue Technologie angewandt wurde, mit der man noch keine Erfahrung hatte.

Aber der Marine fehlt es nicht an Erfahrung mit Problemen bei den Atomreaktoren ihrer U-Boote. Atombomben-U-Boote der Polaris-Klasse wiesen Reaktorprobleme auf, die, wie sich herausstellte, dieselben waren wie die, die die ältere Flotte von Hunter-Killer-U-Booten aktionsunfähig machten: rissige Rohrleitungen im primären Kühlsystem.

Bereits 1991 offenbarte Reg Farmer, ein Mitglied des Sicherheitsausschusses des Verteidigungsministeriums, das für die atombetriebenen Kriegsschiffe zuständig ist, daß Risse an der Basis von Dampfgeneratoren in den Atomreaktoren entdeckt worden waren. Er äußerte sich damals gegenüber dem Fernsehsender Thames Television, nachdem das Verteidigungsministerium sich hartnäckig geweigert hatte, Fragen von Parlamentariern zu beantworten mit der Begründung, daß sie "sensible militärische Bereiche" berührten.

Diese Woche teilte das Verteidigungsministerium mit, es könne nicht offenlegen, was mit dem Tireless-Reaktor nicht in Ordnung sei, "ohne zuerst die Amerikaner zu konsultieren" - der Reaktor basiert auf amerikanischen Konstruktionsplänen. Im Juli erklärte John Spellar, Minister der Streitkräfte, Mitgliedern des Parlaments: "Bei den Reparaturarbeiten an der HMS Tireless handelt es sich um eine Standardreparatur, nachdem Kühlwasser im Reaktorbereich ausgelaufen war." Die Arbeiten, fügte er hinzu, würden "im Herbst" abgeschlossen sein.

Wegen der Empfindlichkeit der öffentlichen Meinung auf Gibraltar werden die Reparaturen an der Tireless wohl nicht beginnen, bevor die Arbeit an einem ihrer Schwesterschiffe in Großbritannien abgeschlossen ist. Die Bewohner Gibraltars müssen sich eventuell auf die Aussicht einrichten, daß eine bewegungsunfähige Tireless ein Jahr lang vor ihrem Felsen liegt.

"Die Stimmung in Spanien, in den Städten nahe Gibraltar, ist dahingehend, daß das U-Boot zurück nach Großbritannien geschleppt werden soll", meinte gestern Michael Castiel, der Anwalt, der oppositionelle Gruppen in Gibraltar vertritt.

Für das Verteidigungsministerium mag das ein kleines lokales Problem sein verglichen damit, daß die Marine für mindestens fünf Monate auf ihre gesamte U-Boot-Schlagkraft verzichten muß. Es wäre unangemessen, den "Schmerz und die Trauer" darüber zu verleugnen, war von einer unserer Quellen aus der Marine zu hören.

Der Rückruf überschneidet sich zeitlich mit dem Verkauf von Großbritanniens verbliebenen konventionell angetriebenen U-Booten an Kanada, eine Entscheidung, die die Tory-Regierung gefällt hatte.

 

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