Hallo Jürgen!
Wir kennen uns nun ja schon seit einem Vierteljahrhundert und daher auch unsere Standpunkte, denen wir beide
weitestgehend treu geblieben sind - was unsere Distanz, bei aller Freundschaft, nun leider nicht verringert hat. Wenn
ich jetzt hier auf Deinen Text zum Motto der diesjährigen Rosa-Luxemburg-Konferenz, »Revolution verteidigen«, mit
einigen Argumenten eingehe, dann deshalb, weil ich den Eindruck habe, daß Deine Bewertung der UdSSR in Bewegung
gekommen ist. Das macht es interessanter, weil bekanntlich ein Boxer, der sich bewegt, weniger leicht zu treffen ist...
Zugleich mindert es das Risiko, daß die Diskussion auf einen reinen Show-Kampf hinauslaufen könnte, bei dem als
Ergebnis die Punktegleichheit von vornherein feststeht. Und zudem ist Dir sicherlich ebenso wie mir bewußt, daß weder
"Linientreue" noch "Abweichlertum" Werte an sich sind, sondern daß es darauf ankommt, ob die Treue dem besseren
oder schlechteren Standpunkt gilt und der Wandel eine Annäherung an eine bessere oder schlechtere Position zur Folge hat.
Weshalb ich die Bewertung der UdSSR unverändert für äußerst wichtig erachte, hat immer noch zwei Gründe: Durch die
verbrecherischen Regimes von Lenin über Stalin und Chruschow bis zum Untergang des Ostblocks und deren Anmaßung,
sich auf die Ideen von Marx und Engels zu berufen, wurde der einmal mit so viel Hoffnungen und Enthusiasmus verknüpfte
Begriff >Sozialismus< gründlich diskreditiert. Er wird wohl nie mehr zu gebrauchen sein. Versuche, die UdSSR zu verteidigen,
tragen gerade dazu bei, daß dieser Begriff für alle Zeit mit diesen Diktaturen assoziiert wird. Und schlimmer noch als das,
halte ich die Wirkung für die Zukunft. Jede Perspektive auf eine gerechte Gesellschaft wird verstellt, wenn das gescheiterte
Gesellschaftsmodell der UdSSR als Alternative zum Kapitalismus angesehen wird. Denn es ist nicht zufällig gescheitert und
wird bei einem erneuten Versuch wiederum zwangsläufig scheitern: Eine Gesellschaft, die auf einer verstaatlichten Wirtschaft
basiert, daher ohne Machtelite nicht auskommt und nicht demokratisch sein kann, ist ebenso wenig zukunftsfähig wie der
Kapitalismus. Nur eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel und zugleich eine Demokratisierung der Gesellschaft -
was sich gegenseitig bedingt - kann eine Perspektive sein.
In Deinem Text erscheint als einzige verbliebene Begründung für eine positive Bewertung der UdSSR deren - vielleicht -
entscheidender Beitrag zum Sieg über den Faschismus. Die Argumente
- Verbesserung der sozialen Lage für eine Mehrheit der Bevölkerung
und
- stattliche Kontrolle einiger Schlüsselindustrien
führst Du nur im Zusammenhang mit Venezuela an.
Sorry, aber das ist doch Quark! Wenn ein Verbrecher einen anderen - den mit Abstand schlimmsten - beseitigt, muß
ich doch noch lange nicht Ersteren zu meinem Anführer machen. Und selbst wenn der damalige Papst Hitler so exorziert
hätte, daß der sich umgebracht hätte und der gesamte Faschismus in sich zusammengefallen wäre, würde ich nicht
wieder an Gott glauben... Oh Jesses, Maria und Joseph!
Daß Chávez bislang die venezolanische Ölförderung dem Zugriff der US-Konzerne zu entziehen verstand, erfreut auch mein
Herz. Ob diesem Politiker aber tatsächlich zu trauen ist und ob sich die Lage für die Mehrheit der VenezolanerInnen
kurzfristig oder gar langfristig tatsächlich verbessert, erscheint mir längst nicht ausgemacht. Ich war auch vor einem Jahr
bei Brasiliens Lula skeptisch und heute müssen viele zugeben, daß sie sich in ihm getäuscht haben und es sich bei seiner
Regierung um eine Operetten-Inszenierung handelt wie die von "Rot-Grün" in Deutschland. Seit Jahren wird vieles als
"Links" vermarktet, was sich dann in der Realität als rechter herausstellt als die traditionelle Rechte.
Und ob Chávez durch eine Revolution an die Macht kam oder wie auch immer spielt für mich bei dieser Bewertung keine
Rolle. Du selbst stellst ja Salvador Allende in die Reihe Deiner Helden, obwohl auch dieser durch Wahlen an die Macht
kam. Der einzige, übrigens, dessen Politik ich als positiv anerkennen kann. Und der Einzige, dessen Politik eine Rosa
Luxemburg als einen Ansatz in Richtung auf Sozialismus anerkannt hätte. Denn auch für sie war Sozialismus ohne
Demokratie undenkbar (das passende Zitat kann ich Dir auch raussuchen - in meiner Gesamtausgabe der Werke von
Rosa Luxemburg lese ich immer wieder gerne. Aber ich behalte mehr den Gesamtzusammenhang im Kopf als einzelne
Stellen...)
Auch wenn Du mir hierin vielleicht inzwischen zustimmst, seien die beiden oben genannten Argumente in Hinsicht auf die
UdSSR kurz abgehandelt:
1. Eine Verstaatlichung der Produktionsmittel hat keinerlei Vorteil für die Mehrheit der Bevölkerung, wenn sie danach nicht
wirklich darüber entscheiden kann, was produziert wird, wie es produziert wird und in welchem Umfang es produziert wird.
2. Eine Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse ist zweitrangig, wenn sie mit einer Versklavung der Menschen
erkauft wird.
Deshalb ist auch für mich der Fall Kuba sonnenklar. Ich erhebe zwar nicht den Alleinvertretungsanspruch auf die
Regenbogenfahne, werde eine solche aber niemals zu Ehren von Fidel Castro und seiner Gang schwenken. Doch Spaß
beiseite: Es ist doch wohl ein bißchen zu vollmundig, davon zu schwadronieren, wir könnten irgendein Land - so wir dessen
Entwicklung positiv bewerten - effektiv verteidigen. Im allgemeinen wird es sich um Solidaritätsadressen handeln.
Geldsammlungen sind schon viel seltener. Und gar Brigaden aufzustellen wie zu Zeiten der Nicaragua-Solidarität - ob
militant oder gewaltfrei - erscheint mir heute recht wenig erfolgversprechend... Oder wie stellt Du Dir konkret eine
Verteidigung des Iran durch deutsche Linke vor, falls dieses Land vielleicht doch noch von der US-Regierung mit Krieg
überzogen wird?
Überhaupt habe ich heute wie vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren heftige Probleme, mich mit Staaten oder
Regierungen solidarisch zu fühlen. Statt dessen kann ich mich und konnte ich mich durchaus mit den Menschen in
Jugoslawien solidarisieren, ohne mich für einen Milosevic aussprechen zu müssen. Ich kann und konnte gegen den
Kosovo-Krieg und gegen den Irak-Krieg Anfang letzten Jahres protestieren und demonstrieren, ohne mich mit Milosevic
oder Saddam Hussein solidarisieren zu müssen. Die Denunzierung der weltweiten Friedensdemonstrationen als
Sympathiebeweise für Saddam Hussein oder für den Terror oder für Massenvernichtungswaffen hat schließlich
nicht funktioniert. Und wie das Beispiel Vietnam zeigt, konnte eine Friedensbewegung mit langem Atem zwar nicht
Vietnam verteidigen, aber immerhin das Ende des Krieges erzwingen.
Aus der Zeit des Vietnamkriegs stammt auch die Dominotheorie: Fällt ein Land in Asien - Vietnam - an den
"Kommunismus", so fällt dann zwangsläufig ein Land nach dem anderen wie Dominosteine. So irre diese Theorie
war und so wenig sie mit den realen Interessen der US-Regierung zu tun hatte - sie hatte zumindest eine reale
Grundlage: Die Länder, um die es sich drehte, gehörten samt und sonders zum Einflußbereich des Kapitalismus.
Wenn Du nun Deine Dominotheorie auf Länder wie den Iran, Nordkorea und China aufbaust, fehlt jede positive
Gemeinsamkeit. Die einzige Gemeinsamkeit ist eine formal negative: Diese Länder - genauer deren Regierungen - entziehen
sich (noch) dem Einfluß der US-Regierung. Muß ich einen solchen Grund konstruieren, um gegen eine US-Aggression zu
sein? Dann begebe ich mich doch auf dasselbe Niveau wie das der Idioten, die meinten, den Irak-Krieg befürworten zu
müssen, weil es nach einer Beseitigung von Saddam Hussein den IrakerInnen zweifelsohne besser gehen müsse als
zuvor. Ich meine hingegen immer noch, daß Krieg durch nichts zu rechtfertigen ist.
Dann Dein Beispiel aus der Zeit der Annexion Österreichs mit dem Aufruf der KPÖ zur Verteidigung des Dollfuß-Regimes.
Du imaginierst Dich da in die Rolle des weltpolitischen Schachspielers, der seine linken Truppen hierhin oder dahin
verschiebt. Mit der Verteidigung Österreichs war schon die KPÖ überfordert. Sie konnte auch zusammen mit Dollfuß
dem deutschen Einmarsch nichts Nennenswertes entgegensetzen. Und diese Konstruktion benötigst Du wiederum, um
zu begründen, daß eher mit dem Slogan von der "Verteidigung des Völkerrechts" als von der "Verteidigung der Revolution"
sich sozialdemokratische oder bürgerliche Leute für ein Engagement gegen die anstehenden Kriege bewegen ließen. Die
Schwierigkeiten liegen aber wohl eher auf Deiner Seite, der Du mit Deiner zweckrationalen, utilitaristischen Einstellung
gegenüber dem Krieg erst einen besonderen Grund benötigst, um Dich zu einem Engagement gegen einen Krieg
bewegen zu lassen.
Die Menschen, die Anfang 2003 gegen den Irak-Krieg protestierten und die Du als "sozialdemokratisch" oder als
"bürgerlich" abqualifizierst, haben zwar sicherlich noch 1998 mehrheitlich "Rot-Grün" gewählt. Sie haben sich täuschen
lassen und glaubten vermutlich mehrheitlich noch an eine Alternative im Kapitalismus. Sie haben sicherlich auch
mehrheitlich noch 1999 die Lügen, die ihnen vor dem Kosovo-Krieg aufgetischt wurden, geglaubt und diesen Krieg trotz
starker grundsätzlicher Bedenken toleriert. Aber sie benötigen für ihre grundsätzliche Ablehnung von Krieg nicht erst
spezifische Pro- oder Kontra-Argumente. Es ist zu einfach, sich über diese grundsätzliche Ablehnung von Krieg lustig
zu machen mit der Behauptung, mit dieser Ablehnung könne es wohl nicht weit her sein, wenn sie sich durch solch billigen Lügen
wie Hufeisenplan und zweitem Auschwitz einfach ausschalten ließe. Auch wurde von etlichen Berufszynikern behauptet,
eine Mehrheit der Deutschen habe sich gewissermaßen augenzwinkernd gerne vor dem Kosovo-Krieg belügen lassen.
In diesem Fall kommt die Einschätzung der US-Regierung der Realität näher, wenn sie auch überspitzt formuliert wurde:
Bei den Europärern und speziell den Deutschen handle es sich um unverbesserliche Pazifisten.
Die Linke hat - zumindest zur Zeit - nicht die Stärke, für Solidaritätsaktionen oder auch nur für Friedensdemos zu
mobilisieren. Die nächsten Kriege stehen jedoch bereits auf dem US-amerikanischen Terminkalender. Wenn sich
dann eine immer größere Zahl an Menschen in Europa und den USA an Friedensdemos beteiligen wird - wie ich mal zu
prophezeien wage - kann dies kaum der Linken zu Gute geschrieben werden. Der Grund wird darin zu suchen sein,
daß sich immer mehr Menschen nicht länger belügen lassen. Und diese Menschen werden für linke Positionen offene
Ohren haben. Allerdings nicht für Gesellschaftsentwürfe, die bereits als gescheitert auf der Müllhalde der Geschichte
gelandet sind.
Ciao
Klaus