27.05.2005

Artikel

Verfassungtrick als Fallgrube

Als Reaktion auf die verlorene Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am letzten Sonntag kündigte Bundeskanzler Gerhard Schröder noch am selben Tag vorgezogene Neuwahlen auf Bundesebene an. Schröder und Müntefering wollen es ganz schlau anstellen und die für Herbst 05 anvisierten Neuwahlen mit einer fingierten Vertrauensfrage an den Bundestag erzwingen. Vorbild ist ihnen - wie in ihrer "Sozial"-Politik - auch hierin Helmut Kohl. Dieser bewies seinen Repekt gegenüber der "fdGO" gleich zu Beginn der 16 Jahre währenden "schwarzen" Herrschaft mit einem ähnlich manipulativen Manöver.

1982 hatte Helmut Kohl nach dem Regierungswechsel, der durch den Koalitionsbruch des "gelben" Außenministers Hans-Dietrich Genscher und des "gelben" Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (infolge der Flick-Parteispenden-Affäre vorbestraft) eingeleitet wurde, mit Hilfe einer fingierten Vertrauensfrage Neuwahlen erzwungen. Nach offensichtlicher Absprache hatten die "schwarzen" Abgeordneten auf die "Vertrauensfrage" von Kohl mit Nein gestimmt.

Kohl konnte sich allerdings sicher sein, daß seine Truppen mitspielen würden. Der "rote" Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte durch die unter ihm begonnene neoliberale Wirtschaftspolitik und seine Vasallentreue zur USA im Konflikt um den "NATO-Doppelbeschluß" das durch seinen Vorgänger Willy Brandt gewonnene Vertrauen breiter Schichten der deutschen Bevölkerung in die Sozialdemokratie verspielt. Kohl wußte sich im Aufwind und eine Stärkung der "schwarzen" Fraktion im Bundestag bei der erzwungenen Bundestagswahl erschien aufgrund von Umfragen als sicher. So mußten die "schwarzen" Bundestagsabgeordneten nicht um ihre Pfründe bangen.

Anders die Situation für den heutigen "roten" Kanzler Gerhard Schröder: Angesichts sinkender Umfragewerte muß eine erhebliche Zahl "roter" und "grüner" Bundestagsabgeordneter fürchten, nicht erneut in den Bundestag gewählt zu werden. Teile der "roten" und der "grünen" Fraktion haben offenbar bereits intern zu erkennen gegeben, daß sie am 1. Juli nicht mit Nein stimmen und damit den Weg zu Neuwahlen nicht frei zu machen gedenken. Perfider Weise berufen sie sich gerade darauf, "vollstes Vertrauen" in Schröder zu setzen. Treudoof erklärte beispielsweise der Landesgruppenchef Hans-Peter Kemper bei einer Sitzung der nordrhein-westfälischen "roten" Bundestagsabgeordneten: "Gerhard Schröder ist ein guter Kanzler. Es gibt keinen Grund, ihm das Vertrauen zu entziehen."

Auch der rechtspolitische Sprecher der "grünen" Bundestags-Fraktion, Jerzy Montag, äußerte heute Zweifel an der Darstellung Schröders und Münteferings, die "rot-grüne" Bundesregierung habe keine Mehrheit mehr, und der Bundestag müsse über den Weg einer gescheiterten Vertrauensfrage aufgelöst werden. Die "Grünen" seien koalitionstreu: "Wir stehen zur rot-grünen Koalition. An uns liegt es nicht", sagte Montag im Deutschlandfunk. Er warnte vor einer "künstlichen Abstimmung mit einem künstlich negativen Ergebnis".

Es ist also nicht auszuschließen, daß der geplante Coup am 1. Juli zum Flop wird. Berliner Auguren halten dies allerdings für eher unwahrscheinlich. Es handele sich dabei nur um "Theaterdonner", der mit dem Ziel inszeniert werde, Zugeständnisse von Schröder und Müntefering zu erpressen. Sinken allerdings die Umfragewerte für "Rot" noch tiefer - erstmals hat inzwischen K-Kandidatin Merkel den "roten" Bundeskanzler im direkten Vergleich überholt - könnten allzuviele HinterbänklerInnen das Fracksausen bekommen. Dies könnte zu der paradoxen Situation führen, daß Schröder am 1. Juli von einer Gruppe blamiert wird, indem sie ihm das Vertrauen ausspricht. So könnte sich der Verfassungstrick für Schröder letzlich als Fallgrube erweisen.

Und es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb der geplante Coup mißlingen könnte. In früheren, weniger heuchlerischen Zeiten, erklärten beispielsweise Lehrkräfte noch bei offensichtlichen Ungerechtigkeiten ganz ungeniert: "Wenn zwei dasselbe tun, ist es noch lange nicht dasselbe." So kann es keinesfalls als ausgemacht angesehen werden, daß das Bundesverfassungsgericht ebenso wie 1983, als es der "Verkohlung" des Grundgesetzes seinen Segen gab, auch diesmal dem Coup zustimmen wird.

So wurden gleich zu Beginn dieser Woche etliche Verfassungs- ExpertInnen in den Mainstream-Medien zitiert, die in ihrer Mehrheit Bedenken anmeldeten. Staatsrechtsprofessor Rainer Wahl äußerte in einem Interview, Neuwahlen dürften verfassungsgemäß nur nach einer "echten Vertrauensfrage" ausgerufen werden. Schröder müsse - im Gegensatz zu Kohl - die Abstimmung "wirklich gewinnen wollen". Zugleich wies Wahl auf ein vom Bundesverfassungsgesetz 1983 aufgestelltes Kriterium hin: Der Kanzler müsse darlegen, daß er mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen nicht weiterregieren könne. Doch ebenso wie sich offensichtlich Kohl Ende 1982 auf eine "schwarz-gelbe" Mehrheit im Bundestag stützen konnte, ebenso offensichtlich ist die "rot-grüne" Mehrheit im heutigen Bundestag gewährleistet. Die für "Rot-Grün" unkomfortable Situation im Bundesrat spielt für die verfassungsrechtliche Beurteilung keine Rolle.

Staatsrechter Wahl räumt ein, daß das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung von 1983 die Maßstäbe "recht großzügig zugunsten des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl angewendet" habe. Doch zugleich gibt er damit zu erkennen, daß heute durchaus eine andere Entscheidung getroffen werden könne. Interessanter Weise wurde dieses Interview von zwei Zeitungen in verschiedenen Fassungen veröffentlicht - und nur in der einen ist folgender Hinweis Wahls enthalten: "Jeder einzelne Abgeordnete kann hier das Bundesverfassungsgericht anrufen. Die Abgeordneten sind auf vier Jahre gewählt und ihre Amtszeit darf nur auf dem Wege vorzeitig beendet werden, den das Grundgesetz erlaubt." Wahl hatte 1983 einen CDU-Abgeordneten vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten - und verloren.

 

Christian Semmler

 

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