Was spricht dagegen, die Enteignung von Millionen
Menschen einzutauschen gegen eine Umverteilung
des Zugriffs auf jene Vielmillionendepots, die ihre
Inhaber nicht einmal selbst erarbeitet haben?
"Eigentum verpflichtet. Es soll zugleich dem Wohle der
Allgemeinheit dienen", postuliert die Verfassung der
Bundesrepublik Deutschland. Wer aber ist "die Allgemeinheit",
deren Wohl es dient, wenn DaimlerChrysler und Deutsche Bank
Milliarden an Dividenden unter ihre Aktionäre verteilen, aber
keinen Euro an Steuern mehr zahlen? Wessen Wohl wird
befördert, wenn BMW seine Entscheidungsfreiheit, in
Tschechien oder in Leipzig zu produzieren, zum Erpressen
öffentlicher Milliardensubventionen und zu Lohndumping nutzt,
wenn Siemens noch in Jahren bester Gewinne Tausende
Mitarbeiter vor die Unternehmenstür setzt? Wessen Wohl
dient ein Europa, in dem eine Handvoll Wirtschaftsgiganten
diktieren und die übergroße Mehrheit mit Einbußen und
Existenzängsten zahlt? Wessen Wohl dient eine Welt, in der
grausamste Armut neben blasiertem, übersättigtem Reichtum
grassiert?
Die Diktatur der Global Player gründet auf ihren
Eigentumsrechten; sie steht und sie fällt mit ihnen. Jede
schützende Regelung, die der Willkür ihrer
Verwertungsinteressen Einhalt gebietet, jedes Sozialgesetz,
das die Folgen zügelloser Profitgier mildert, jeder Zipfel
öffentlichen Eigentums, das Schutzzonen schafft - ob
kommunale Wasserversorger oder öffentliche Sparkassen, ob
gesetzliche Sozialversicherungen oder verstaatlichte Ölfelder
-, jedes Element gesellschaftlicher Kontrolle muß verteidigt
werden, um jedes lohnt es zu kämpfen. Aber das reicht nicht.
Aus Abwehrschlachten werden allzu leicht bloße
Rückzugsgefechte, deren Träger auf immer schmalerem Terrain
einem mit jedem Teilsieg machtvolleren Gegner bald
chancenlos gegenüberstehen. Die globale Barbarei wurzelt
nicht allein im Vordringen der Global Player in all jene
Lebensbereiche, die sich ihrem unkontrollierten Zugriff bisher
noch entziehen. Sie wurzelt vor allem in ihrer Herrschaft über
jene, in denen sie groß geworden sind und die ihre Macht
begründen, die ständige Ausweitung ihrer Zugriffsrechte zu
erzwingen.
Machtkartell der Giganten
Für private Großbanken spricht nicht mehr als für privatisierte
Krankenhäuser, für private Ölmultis nicht mehr als für private
Wasserversorger. Die zentralen Bereiche der industriellen
Produktion und die Macht über die Finanzierungsbedingungen
von Investitionen gehören ebensowenig in private Hände wie
die Naturreichtümer und Bodenschätze dieser Erde oder die
Gewährleistung von Mobilität, Kommunikation, Bildung,
Alterssicherung oder Gesundheitsfürsorge. Das Machtkartell
der Giganten ist auflösbar, wenn Eigentum wieder dem Wohle
der Allgemeinheit dienstbar gemacht wird, indem all diese
Bereiche dem Zugriff privaten Kapitals und damit der Logik
maximaler Renditen entzogen werden.
Öffentliches Eigentum kennt viele Facetten. Es reicht von der
öffentlich-rechtlichen Eigentumsform bis zu
Aktiengesellschaften, an denen öffentliche Körperschaften
Mehrheitsanteile halten. Solche Körperschaften können
Kommunen oder Bundesländer sein, Nationalstaaten und
überstaatliche Organisationen von der Art der EU. Je nach
Betriebsgröße, Versorgungsradius und volkswirtschaftlichem
Gewicht eines Unternehmens mag die eine oder andere
Variante sinnvoller sein. Aber ob Kommune oder Bundesstaat:
Der entscheidende Unterschied eines öffentlich kontrollierten
gegenüber einem privaten Unternehmen besteht darin, daß
die letzte Entscheidung bei demokratisch legitimierten Gremien
liegt, in denen die Stimmrechte nicht nach Vermögen und
Besitz gestaffelt sind. Gewählte Repräsentanten vom
Bürgermeister und Kommunalparlament bis zum
Staatspräsidenten müssen sich vor ihren Wählern
verantworten; Parteien können abgewählt werden,
Parlamentsentscheidungen stehen zur öffentlichen Debatte.
Natürlich ist öffentliches Eigentum nur dann ein Garant
gemeinwohlbestimmter Entscheidungen, wenn die
Gemeinschaft ausreichende Mittel zur Kontrolle des
öffentlichen Eigentümer hat. Um mehr direkte Demokratie und
um mehr Einfluß auf die staatlichen Gremien aller Ebenen kann
und muß daher gerungen, einmal erreichtes Recht immer von
Neuem verteidigt werden. Aber dieses Feld steht der
gesellschaftlichen Auseinandersetzung offen.
Geld ist Stimmrecht
Der Vorstand eines Unternehmens dagegen ist per se nur
dessen Eigentümern verpflichtet; »Geld ist Stimmrecht«, heißt
das Prinzip, auf dem seine Entscheidungen beruhen. Das mag
unproblematisch sein, solange ein Unternehmen nur
betriebsinterne Fragen entscheidet und dabei die
Rahmenbedingungen akzeptieren muß, die die öffentliche Hand
ihm setzt. Erwächst dagegen aufgrund von Größe und Gewicht
eines Wirtschaftskonzerns aus betriebswirtschaftlicher
Entscheidungsbefugnis gesellschaftliche Macht, dann kehrt
dieses Verhältnis sich um: Dann setzen private Eigentümer im
Interesse ihrer Rendite die entscheidenden Daten des
öffentlichen Lebens, und der übergroßen Mehrheit der
Menschen, einschließlich ihrer gewählten Repräsentanten,
bleibt nur die Unterwerfung. Wo dies geschieht, ist privates
Eigentum weder mit den Ansprüchen einer sozialen noch einer
demokratischen Gesellschaft vereinbar.
Über die Frage der konkreten Betriebsführung ist mit der
Eigentumsfrage nicht entschieden. Öffentliche und
Staatsunternehmen können nach den gleichen Prinzipien
wirtschaften wie private. Wo sie es tun, stehen sie mit Blick auf
betriebswirtschaftliche Kriterien wie Effizienz und Rentabilität
ihren privaten Konkurrenten meist nicht nach. Weshalb auch
sollte es anders sein? (…)
Ein Staatskonzern, der mit gleichen Instrumenten auf gleiche
Ziele hinwirkt, wird die gleichen Ergebnisse erzielen. Das ist
kein Kunststück, und Beispiele zeigen, daß es geht. Die vom
Staat gegründeten und geleiteten Stahlwerke in Korea und
Taiwan sind die effizientesten der Welt. Der französische
Staatskonzern Electricité de France befindet sich mit einer
Bruttomarge von 30 Prozent auf gleichem Level mit den
privaten Energieriesen Eon und RWE und geht nicht minder
aggressiv als diese auf internationale Einkaufstour. Den
französischen Strommarkt bestimmt er nach wie vor fast allein.
Unbeschadet dessen gehören die französischen Strompreise
zu den niedrigsten in Europa. Gaz de France, ebenfalls noch in
Staatsbesitz, ist in 33 Ländern vertreten und hat 2001 bei
14,4 Milliarden Euro Umsatz einen Nettogewinn von 891
Millionen realisiert. Beide Unternehmen unterscheiden sich in
Geschäftspolitik und Auftreten nicht von privaten Global
Playern. Der einzige Unterschied besteht darin, daß der
Gewinn in die Staatkasse fließt und daher für Bildung und
soziale Leistungen zumindest zur Verfügung stehen könnte,
statt im dunklen Kontensystem des Geldadels zu
verschwinden, aus dem kaum ein Rinnsal an Steuern an die
Gemeinschaft zurückkehrt. (…)
Die vielbeschworene "Ineffizienz" öffentlicher Unternehmen ist
in der Regel nicht die Folge mangelnder Fähigkeit, sondern
bewußt anders gesetzter Ziele. Subventionierte Kurzstrecken
im Nah- und Fernverkehr mögen unrentabel sein. Um die
Blechlawine auf Straßen und Autobahnen zu begrenzen, waren
sie sinnvoll und wären auch heute bitter nötig.
Krankenbeiträge, die mit der Lohnhöhe steigen, aber gleiche
Leistungsansprüche begründen, sind betriebswirtschaftlich
absurd. Aber nur sie gewährleisten, daß Gesundheit keine
Frage des Geldbeutels wird. Billige Sozialtickets der Bahn oder
günstige Sondertarife der Telekom für Rentner und
Wenigverdiener rechnen sich nicht. Für die Betroffenen
eröffnen sie oft die einzige Chance zu Mobilität und
Kommunikation. Betriebswirtschaftliche "Effizienz" allerdings
verlangt das Gegenteil, sie verlangt Rabatte und
Vergünstigungen für den Zahlungskräftigsten und nicht für den
Zahlungsschwachen, denn ersterer bringt den Umsatz,
während letzterer nur stört. Nicht der Bedarf, sondern die Zahl
der gefüllten Brieftaschen definiert die Größe eines
kapitalistischen Marktes. Nur wer zahlen kann, der darf eben
auch trinken, eine Schule besuchen, ein Leiden medizinisch
versorgt überstehen. Das ist die Konsequenz
betriebswirtschaftlicher Rentabilitätskriterien, und wer sie zum
Maß aller Dinge erklärt, der sollte sich auch zu den
gesellschaftlichen Folgewirkungen bekennen.
Sicher, es gibt Gegenbeispiele tatsächlich schlecht geführter,
maroder Unternehmen im Staatsbesitz, die bekannten
Vorzeigeexempel für Korruption, Schlendrian und
Verschwendung, Mißwirtschaft und persönliche Bereicherung.
Aber ist das ein Privileg staatlich geführter Unternehmen?
Kommen nicht auf jeden trostlos dümpelnden Staatskonzern
mindestens zehn privatwirtschaftliche, für die das gleiche gilt?
Unzählige Verstaatlichungen der kapitalistischen Geschichte
wurden allein deshalb nötig, weil in den Bankrott
gewirtschaftete Privatunternehmen zu groß, zu wichtig und zu
volkswirtschaftlich bedeutsam waren, als daß Regierungen sie
unbeschadet untergehen lassen konnten. Jüngste Beispiele in
der langen Reihe privater Desaster sind die japanische Long
Term Credit Bank und die Nippon Credit Bank, die 1998/99
verstaatlicht wurden, weil ihr Konkurs das japanische
Finanzsystems mit in den Kollaps gerissen hätte. Japan
sanierte die Banken mit Steuergeldern in dreistelliger
Milliardenhöhe und gab sie anschließend dem privaten Sektor
zurück. (…) Kurz: Trägheit, Bürokratismus, Fehlkalkulation und
Unwirtschaftlichkeit bis zur Pleite sind eine Malaise, die in
privaten Unternehmen mindestens ebenso oft vorkommt wie in
öffentlichen.
Internationale Expansion
Und wie steht es um die internationale Expansion der
Giganten, die Quintessenz der kapitalistischen Globalisierung?
Ohne Zweifel sind internationaler Austausch von Waren und
Dienstleistungen und internationale Arbeitsteilung, so sie auf
Gleichberechtigung und nicht auf Ausbeutung beruhen,
ökonomisch sinnvoll und steigern den verfügbaren Reichtum.
Auch gibt es technologisch bedingte Betriebsgrößen, die nicht
ohne Produktivitätsverlust unterschritten werden können.
Weder Telefon- oder Schienennetze noch Anlagen zur
Produktion von Automobilen sind mit der Kapitalbasis eines
Mittelstandsbetriebes zu warten, geschweige denn auf je
modernstem Stand zu betreiben. Dennoch: Es gibt keinen
ökonomisch plausiblen Grund dafür, über ein Drittel des
globalen Handels innerhalb der Strukturen von einhundert
allmächtigen Wirtschaftsriesen abzuwickeln. Ob BMW in Europa
eine oder zehn Betriebsstätten gehören, erhöht die
Wirtschaftlichkeit der Produktion in keiner Weise. Daß DaimlerChrysler
in den USA, in Lateinamerika und Südafrika Filialen betreibt,
ebensowenig. (…)
Ein Großteil der konzerninternen Transaktionen hat ohnehin
nichts mehr mit der Bewegung realer Güter und Dienste zu
tun, nichts mit komparativen Vorteilen internationaler
Arbeitsteilung. Sie dienen der bloßen Manipulation von
Computerzahlen, sei es für globales Steuerdumping mit sozial
verheerenden Folgen, sei es für eine rein spekulative
Finanzakrobatik, die die imaginären Gewinne erhöht. Wieviel
Phantasie und Geist, welche Anstrengungen von Kreativität
und Gedanken werden nutzlos verschleudert, wenn sich das
Aufgabenfeld ganzer Abteilungen im virtuosen Spiel mit
sinnlosen Buchungsvorgängen erschöpft!
Gleiches gilt für die Glücksspieler und Pokerer auf dem
Roulette-Tisch der internationalen Finanzwelt. 1,2 Billionen
Dollar wechseln auf den globalen Devisenmärkten täglich den
Besitzer, annähernd die Hälfte davon wird von den sieben
größten Banken der Welt bewegt. Kaum eine dieser
gewaltigen Transaktionen hat einen realwirtschaftlichen Wert
oder auch nur Hintergrund. (…)
Die Global Player sind kein ökonomischer Fortschritt, sondern
ein wert- und zukunftsloser Seitenzweig der ökonomischen
Evolution, den es wieder zurückzunehmen gilt.
Gleichberechtigter freier Handel und internationale
Arbeitsteilung ohne Ausbeutung sind nur über die Entflechtung
dieser Wirtschaftsungetüme zu erreichen. (…)
Die 500 Mächtigsten Europas
Die Entflechtung und Sozialisierung der Giganten ist ein
Thema, das auch hier wieder auf die Tagesordnung gehört.
Dabei geht es nicht um jene Hunderttausende mittelständische
Firmen, die weit entfernt sind, auch nur eine Kommune,
geschweige denn ganze Staaten zu erpressen, Firmen, deren
Interessen bei Gesetzen und Verträgen bisher so wenig
gefragt sind wie die der Beschäftigten und die selbst immer
häufiger zum Opfer der Krise werden. Ebensowenig geht es
darum, jene Millionen Kleinaktionäre, die mit demagogischen
Versprechen aufs Aktienparkett gelockt wurden und oft schon
genug verloren, am Ende gar noch um den Rest ihrer
Ersparnisse zu bringen.
Nein, es geht um die noble Gesellschaft der 500
Wirtschaftsmächtigen in Europa, die am oberen Ende mit BP,
DaimlerChrysler, Royal Dutch und Totalfina Elf mit je
dreistelligen Milliardenumsätzen beginnt und mit
Medienkonzernen und Handelsketten von über zwei Milliarden
Euro Umsatz endet, eine Gesellschaft, nahezu geschlossen
und über Jahrzehnte kaum verändert, beherrscht von den
europäischen Rüstungs-, Finanz- und Automobilgiganten sowie
den großen Mitspielern im globalen Energiegeschäft. Und
hinter dem schwer durchschaubaren Dickicht ihrer
wirtschaftlichen Bande, dem enggewebten Netz an
Verflechtungen, in dem ein Konzern Anteile an anderen hält
und über deren Aktienpakete wieder dritte beeinflußt, die
ihrerseits an ihm selbst beteiligt sein können, hinter diesem
Gewirr der Einwirkungen und versteckten Hierarchien steht
eine exklusive Gruppe privater Eigentümer. Das ist der
Machtclub, dem das heutige Europa gehört.
Die Crème de la Crème dieser Runde repräsentieren die
europäischen Namen auf der jährlich veröffentlichten Liste des
Magazins Forbes; unter der Rubrik der "Ultra High Net Worth
Individuals" sind sie im Weltwohlstandsbericht der
Investmentbank 'Merrill Lynch' nahezu vollständig versammelt.
3.700 Deutsche zählen dazu, europaweit sind es wenige
Zehntausend. Wer diesem erlesenen Kreis angehört, hat nicht
in schweren Arbeitsjahren Enthaltsamkeit geübt, sondern zum
großen Teil einfach die richtigen Eltern gehabt. Die Leistung
dieser Elite aller "Leistungsträger" besteht mehrheitlich in der
Auswahl der richtigen Vermögensverwaltungsgesellschaft oder
in geglückter eigener Spekulation. Die alten Clans dominieren
bis heute, großgeworden über einhundert Jahre im Stahl-,
Finanz-, Rüstungs- und Automobilgeschäft. Vertreter dieser
Kaste besetzen die ausschlaggebenden Machtpositionen in
den höchsten Gremien der europäischen Wirtschaft, kaum eine
Entscheidung in Politik und Wirtschaft wird an ihnen vorbei
gefällt.
Und ebenso, wie die Grenze zwischen mittelständischem
Betrieb und wirtschaftsmächtigem Konzern aller liberalistischen
Mythen zum Trotz nicht fließend ist, sondern auf etablierten
Märkten von unten nach oben unüberwindlich, ist die soziale
Schicht der Mittelklasse durch einen undurchlässigen Wall von
der Glimmer- und Glamourwelt dieser Geldaristokratie
getrennt. (…)
Ja, Sozialisierung bedeutet Umverteilung von Vermögen und
Einkommensansprüchen. Aber sind nicht Umverteilungen, ja
Enteignungen auch heute an der Tagesordnung? Werden nicht
Tag für Tag unter dem Druck rüder Renditewünsche Millionen
Menschen ihrer Arbeitsplätze, ihrer Ersparnisse, ihrer
Altersvorsorge, ihrer sozialen Sicherheit und oft genug ihres
Lebenswillens beraubt? Was spricht dagegen, diese
Enteignung von Millionen einzutauschen gegen eine
Umverteilung des Zugriffs auf jene Vielmillionendepots, die ihre
Inhaber nicht einmal selbst erarbeitet haben? Aktienanteile
von Kleinaktionären jedenfalls, heute Spielball und
Manövriermasse der Großen, könnten fortbestehen oder durch
Umwandlung in festverzinste Staatsanleihen gesichert
werden.
Würden die 500 größten europäischen Wirtschaftskonzerne
entflochten und ihre Betriebs- und Vertriebsstätten, ihre
Anlagen und ihre Infrastruktur mehrheitlich ins Eigentum jener
Länder übergeben, auf deren Territorium sie stehen, bekäme
Europa nach innen und außen ein neues Gesicht. Denn dann
endlich würden all die Veränderungen möglich, deren
Umsetzung bis heute am Widerstand der Konzernlobby
scheitert: Eine europäische Einheit, die für einheitliche
Lebensverhältnisse steht und nicht für die Einheitlichkeit
profitoptimaler Verwertungsbedingungen. Eine europäische
Steuerunion, die die nationalen Steuersysteme so reformiert,
daß sie sozialen Ausgleich begünstigen, statt Ungleichheit zu
verstärken. Eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik, die
nicht der Vorbereitung imperialer Kriege dient, sondern sich für
Abrüstung, Gleichberechtigung und Entwicklung verantwortlich
sieht. Eine gemeinsame europäische Verfassung, die mehr ist
als ein scheindemokratisches Placebo oder gar - wie die jetzt
offerierte - ein Hebel der Entmündigung. Eine europäische
Sozialunion, die in allen Ländern hohe Standards fixiert und
soziale Rechte verbindlich festschreibt, vom Recht auf Arbeit
über Arbeitszeitverkürzung bis zu Mindestlöhnen, die ein
menschenwürdiges Leben garantieren, und einer gesetzlichen
Sicherung für Krankheit und Alter, die soziale Existenzangst zu
einem vergessenen Gefühl werden läßt. Dann endlich könnte
nicht nur in Proklamationen und Sonntagsreden, sondern in
der Realität aus dem alten, hochgerüsteten, kriegerischen
Kontinent ein neuer, sozialer und friedlicher werden, ein
freundlicher, lebens- und liebenswerter.
Wer das umsetzen soll?
Ja, wird das wirtschaftliche Leben in Europa und auf diesem
Planeten etwa von den Kapitalmächtigen, wird es nicht allein
von jenen Millionen und Abermillionen Menschen
aufrechterhalten, die sich heute noch weitgehend
widerstandslos zu Rädchen in einem Getriebe erniedrigen
lassen, das zu ihrem Schaden läuft und viele von ihnen
irgendwann ins Abseits schleudert! Nichts geht gegen und
ohne sie, nichts ginge mehr, wenn diese Menschen sich
querstellen, wenn sie ihr Menschenrecht auf ein würdiges,
sozial gesichertes Leben ohne Angst einfordern würden!
Sahra Wagenknecht
Vielen Dank an Sahra für die Überlassung dieses Textes als Diskussionsbeitrag
Es handelt sich um Passagen aus ihrem neuen Buch
'Kapitalismus im Koma. Eine sozialistische Diagnose'.
160 Seiten, Paperback,
edition ost, Berlin 2003. 12,90 Euro