30.05.2004

Wählen oder nicht wählen

- eine existentielle Frage?

Der Zeitpunkt ist ungünstig für eine Grundsatzdiskussion - direkt vor Wahlen. Ein Teil der Linken hat sich (mal wieder) dafür entschieden, bei Kommunalwahlen oder zum Europaparlament anzutreten. Vor einigen Wochen, vor der Aufstellung der Listen, wäre sicherlich noch mit mehr Gelassenheit und - vor allem - mehr Zeit für eine solche Diskussion zu rechnen gewesen. Andererseits: Die Zeiten, in denen Grundsatz- diskussionen in Glaubenskriege übergingen, scheinen endgültig passé und sowohl Kommunalwahl als auch Europawahl wird gemeinhin kein solches Gewicht beigemessen, daß unterschiedliche Auffassungen über die Frage "Wählen oder nicht wählen?" zu erbitterter Feindschaft führen müßten.

Zudem treten linke oder originär grüne Listen in Baden-Württemberg eh nicht flächendeckend an. Und in einem großen Teil des linken Spektrums gelten unter den ersten fünf KandidatInnen der PDS-Europawahl-Liste gerade mal Sahra Wagenknecht und Tobias Pflüger als wählbar, während die Europawahl-Kandidaturen der DKP als chancenlos und die der GRÜNEN nicht nur für Linke, sondern längst auch für UmweltschützerInnen und Friedensbewegte als irrelevant betrachtet werden. Viele Linken gehen - nicht zuletzt aus Resignation - inzwischen nicht mehr so verkrampft an dieses Thema heran wie noch etwa bei der vorletzten Bundestagswahl 1998, wo Aufrufe zum Wahlboykott nicht selten mit einem indignierten bis gehässigen "Du Verräter!" quittiert wurden. Die emotionale Betroffenheit ist doch merklich abgesunken, so daß die Debatte vielleicht einmal mit kühlerem Kopf geführt werden kann.

Ich will versuchen, in diesem Artikel die seit Jahren allenfalls an Stichworten aufgehängte Debatte um Parlamentarismus, Wahlboykott oder Wahlbeteiligung auf eine einigermaßen objektive Basis zu stellen. Woran kann mensch Erfolg oder Mißerfolg einer Parlamentsbeteiligung bemessen? Ein Kriterium, das leider häufig verdrängt wird und das für Lenin noch das Hauptargument darstellte, sollte der mutmaßliche oder tatsächliche Einfluß auf die Politisierung der Bevölkerung oder Bewohner der Kommune sein. Denn es ist das "Publikum" (res publica), auf das doch die Inszenierung auf der "politischen Bühne" - soll diese nicht Selbstzweck sein - wirken soll. (Frei nach Marx könnte mensch zugespitzt formulieren: "Dieses Kriterium aufzustellen, heißt, es zu verneinen.") Unsere zweite Frage lautet, was denn in Parlamenten praktisch erreicht werden kann. Rückblickend muß (selbst-)kritisch Bilanz gezogen werden, was denn erreicht werden konnte.

Hier nun wird's schwierig, denn zwei häufig kunterbunt durcheinander gewirbelte Maßstäbe sind nicht vermittelbar. Vorraussetzung beider Sichtweisen ist eine grundsätzliche Übereinstimmung in der gesellschaftlichen Analyse, daß "der Zug" in die falsche Richtung fährt: Daß die soziale Spaltung seit den 60er Jahren zunimmt, das untere Drittel vom wachsenden gesellschaftlichen Wohlstand zunächst abgekoppelt wurde und seit einigen Jahren nun zur Kompensation schrumpfender Zuwächse der Konzerne und Reichen in zunehmendem Maße geplündert ("Sozialabbau") wird. Daß trotz vordergründiger Schönheitsreparaturen und vereinzelter Erfolgsmeldungen (Windkraft), die Umweltzerstörung insgesamt in beschleunigtem Tempo zunimmt. Daß Kriege wieder hoffähig ("humanitäre Einsätze") gemacht wurden, Rüstungsausgaben und -exporte wieder wachsen und nach einer kurzfristigen Phase der Abrüstung zu Beginn der 90er Jahre auch das atomare Wettrüsten alle Rekorde bricht.

Verneinen wir also die bürgerliche Sichtweise in der "besten aller möglichen Welten" zu leben und sind uns einig in der politischen Hoffnung, die Richtung der gegenwärtigen Politik umkehren zu können, gibt es nun dennoch zwei sehr verschiedene (mehr oder weniger bewußt angewandter) Maßstäbe: Nach dem einen werten wir eine politische Aktivität bereits als positiv, sobald sie das Tempo der negativen Entwicklung zu bremsen vermag ("Sand im Getriebe"). Der andere Maßstab legt gewissermaßen den "Nullpunkt" an eine andere Stelle. Erst dort, wo eine Richtungsänderung erkämpft werden kann, darf von einem Erfolg geredet werden. Konkret: Nicht eine Verminderung der Zunahme der Arbeitslosigkeit ist ein Erfolg, sondern erst dann kann von Erfolg geredet werden, wenn sie sinkt. Nicht gewissen Brosamen wie eine Ausbildungsplatzabgabe (so sie denn kommt) sind bereits ein Erfolg, sondern erst wenn der Sozialabbau gestoppt UND eine Beteiligung am wachsenden gesellschaftlichen Wohlstand erreicht werden kann. Nicht etwa die Verhinderung eines AKW-Projekts ist bereits ein Erfolg, sondern erst wenn der Anteil von Strom aus alternativen und erneuerbaren Energien den Anteil von AKW-Strom übertrifft, kann von einem Erfolg geredet werden. Nicht die Verhinderung einzelner Export-Vorhaben sind bereits Erfolge, sondern erst die dauerhafte Reduzierung der deutschen Rüstungsexporte wäre ein Erfolg.

Auf die kommunale Ebene heruntergebrochen hieße das: Ist der Bau einer neuen Straßenbahnlinie bereits ein Erfolg oder kann erst von Erfolg geredet werden, wenn der Anteil des "Individualverkehrs" sinkt und gleichzeitig der des öffentlichen Nahverkehrs wächst? Können einzelne positive Unterschutzstellungen von FFH-Gebieten bereits als Erfolg gewertet werden oder erst ein Stop des beispielsweise gerade um Freiburg herum überdurchschnittlich hohen Flächenverbrauchs bei gleichzeitiger Renaturierung von Straßen und versiegelten Flächen? Ohne den Druck einer "Bewegung" oder einem zumindest großen Teil der BewohnerInnen ist der politische Gestaltungsspielraum innerhalb eines Kommunalparlaments vergleichbar mit dem Spiel der Straßenbahn-Räder zwischen den Schienen: Die Richtung steht fest, aber es kann um Bruchteile von Millimetern hin- oder herruckeln.

Zurück zum "ideologischen Schlachtfeld". Ein Musterbeispiel dessen, was an knalliger und nach den theoretischen Vorgaben von KommunikationstheoretikerInnen mustergültiger Parlamentsarbeit möglich war, sind Ilka Schröder im Europaparlament und Jutta Ditfurth (immer noch) im Frankfurter Römer ( - wer weiß überhaupt davon?). Sie nutzen die Bühne optimal - doch was nutzt das, wenn das Licht abgeschaltet wird? Voraussetzung, daß "das Parlament als Bühne" (Lenin) genutzt werden kann, wäre, daß da ein Publikum ist, das etwas davon mitbekommt. Und nichts anderes war je mit dem 80er-Jahre-Slogan "Das Spielbein im Parlament - das Standbein in der Bewegung" gemeint. Bei Ilka Schröder kam noch hinzu, daß ihre Argumente und Aktionen wenn überhaupt, dann meist verfälscht, verzerrt und hämisch kommentiert die Öffentlichkeit erreichten. Tatsächlich wurden Parlaments-Debatten aus dem Bundestag auf 'Phönix' oder NTV vollständig übertragen und so hatte jede und jeder Gelegenheit (?), auch Argumente kennenzulernen, die in 'Tagesschau' und 'Heute'-Nachrichten regelmäßig zu kurz kommen. Doch aus einer Vielzahl von Gründen ist der Anteil der ZuschauerInnen, die am TV-Gerät Parlaments-Debatten verfolgen äußerst gering. Und: Solange die Menschen die Erfahrung machen, daß sie an den Entscheidungen, die in Kommunalparlamenten und im Europaparlament gefällt werden, keinen Anteil haben, interessieren sie sich nicht dafür, was dort abläuft.

Bei der Einschätzung, dem parlamentarischen Zirkus hilflos ausgeliefert zu sein und über die Vergabe von Kreuzchen alle paar Jahre keinen spürbaren Einfluß nehmen zu können, zählt allerdings weniger das abfragbare Wissen ("Welche gesetzgeberischen Gestaltungs- möglichkeiten hat das Europa-Parlament?" / "Wachsen oder schrumpfen diese durch die neue EU-Verfassung?" / "Welche realen Gestaltungsmöglicheiten erhält das Europa-Parlament durch das Etat-Recht?") als der mehr oder weniger bewußte Erfahrungsschatz, in dem abgespeichert ist, wo sich denn konkret positive Veränderungen auf die persönlichen Lebenszusammenhänge mit Gesetzen welcher Ebene auch immer verknüpfen ließen. Umgekehrt: Erleben Menschen konkret, daß sie etwas beeinflussen und verändern können, blüht das Gemeinwesen ("Kommune" und "Kommunismus" haben dieselbe Wortwurzel) auf - wie ein Blick auf die Entwicklung der bayerischen Kommune Schalkham beweist: Zunächst bei der Übernahme und Erneuerung der kommunalen Wasserversorgung in Eigenregie und gegen die Schikanen der bayerischen Landesregierung, dann durch gemeinsam organisierten Großeinkauf von Solaranlagen. Dieses reale "bürgerschaftliche Engagement" führte dazu, daß Schalkam in der deutschen "Solarbundesliga" den Spitzenplatz für thermische Solaranlagen (mit weitem Abstand) belegt, obwohl es sich um eine der ärmsten Gemeinden in Bayern handelt. Auch wenn die dortigen AktivistInnen in die parlamentarische Arbeit eingebunden werden konnten - der Erfolg vor Ort steht und fällt mit dem massenhaften Engagement der BewohnerInnen von Schalkham.

Ein Argument, das für die Beteiligung an Parlamenten spricht, besagt: Ohne eine solche Teilnahme überließe die Linke den anderen Kräften völlig die Bühne. Auch sei ohne Parlamentsbeteiligung eine bessere "Propagierung" der eigenen Ziele nicht möglich. Um dies genauer zu untersuchen, muß realisiert werden, daß in Zeiten, in denen die Massenmedien fast ausschließlich von der Wirtschaft und den oberen Schichten der Gesellschaft bestimmt werden, ein gesellschaftskritischer Diskurs wie er gerade im Umfeld von attac als zartes Pflänzchen zu bewundern ist, weitgehend ausgeblendet wird. Auch das Beispiel aus der Anfangszeit der Grünen, als Jutta Ditfurth in der "Elefantenrunde" am 26. Januar 1987 vor der Bundestagswahl, bei der die Grünen 8,3 Prozent erreichten, alle anderen Politiker inclusive Franz Josef Strauß in den Schatten stellte, ist leider nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Ist die Alternative zur Wahlbeteiligung nur Resignation und Lethargie? Statt auf der "politischen Bühne" die undankbare Rolle der Statisten zu übernehmen, gäbe es ein anderes Feld, wohin die dann frei werdenden Kräfte gelenkt werden könnten: Die Medien sind das Problem und deshalb müssen unabhängige Medien geschaffen werden. Statt die Energien in Parlamenten und Gemeinderäten zu vergeuden, wäre es weit erfolgversprechenden bei linken unabhängige Medien wie 'Junge Welt' oder 'Stattzeitung für Südbaden' oder 'Radio Dreyeckland' mitzuarbeiten oder solche Medien selbst ins Leben zu rufen.

Ein weiteres Kriterium, das eine gewisse Zwitterstellung einnimmt, ist die Möglichkeit und die Wirkung einer Finanzierung von Bewegungs-Projekten. Bereits 1991 schrieb Verena Krieger in "Was bleibt von den Grünen?" (S. 65 ff.) über die Auswirkungen "finanzieller Zuwendungen", die stets mit schleichend zunehmender Konformität einhergehen: "Sehr schnell wurde die Frauenbewegung damit konfrontiert, was es bedeutete, von staatlichen Institutionen gefördert zu werden und damit in deren Abhängigkeit zu geraten. Längst hängt feministische Autonomie am staatlichen Tropf und hat sich stillschweigend mit den Prämissen, die mit der öffentlichen Finanzierung zusammenhängen, abgefunden. (...) Die noch sehr umstrittene erste rot-grüne Koalition in Hessen 1985 bezog einen großen Teil ihrer Akzeptanz nicht nur in Teilen der (damals noch existierenden) außerparlamentarischen Bewegungen, sondern auch innerhalb der grünen Partei wesentlich aus der Tatsache, daß autonome FeministInnen in den Koalitionsvereinbarungen Landesmittel für hessische Frauenprojekte aushandeln konnten. (...) Nicht umsonst werden gerade Frauenhäuser nicht nur von sozialdemokratischen, sondern auch von CDU-Stadtregierungen zunehmend unterstützt, allerdings unter Bedingungen, die entwürdigend sind und eine permanente Mangelwirtschaft erzeugen." Nicht nur die Bilanz feministischer Projekte, auch die politische Entwicklung der einstmaligen Vielfalt von Öko-Instituten zeigt, daß finanzielle Förderung letztlich finanzielle Steuerung und Ruin bedeuten. Nicht zufällig fiel das Öko-Institut (Freiburg und Darmstadt) der Anti-Endlager BI im schweizerischen Benken in den Rücken und hielt kritische Ergebnisse einer eigenen Studie zur Frage der Gen-Koexistent zurück. Und über die letztlich negative Wirkung finanzieller Alimentierung hinaus ist festzustellen: Nahezu überall, wo außerparlamentarische Bewegungen eine institutionelle "Vertretung" fanden, starben sie mehr oder weniger schnell ab.

Wenig bedacht wird auch das persönliche Risiko, dem diejenigen ausgesetzt werden, die zumeist von ihrer "Basis", die sie in ein Parlament entsendet, nach kurzer Zeit bereits mangels Interesse oder Ausdauer allein gelassen werden. Allenfalls wird in der öffentlichen Diskussion gelegentlich die Gefahr der Korruption im herkömmlichen Sinne angesprochen. Jutta Ditfurth schreibt hierzu: "Mich wundert, daß die >>legale<< Form der Korruption in der Politik kein Thema ist. Sie ist überall. Die rot-grüne Regierung führte 1999 Krieg gegen Jugoslawien, ohne bestochen worden zu sein. Es ist überhaupt nicht nötig, die rot-grüne Regierung durch illegale Zuwendungen zu bestechen. Die legale Korruption, besonders auch die intellektuelle, der Reiz und die Befriedigung, Teil einer besonderen Herrschaftselite zu sein - was sich auch in materiellen und immateriellen Statussymbolen ausdrückt -, reicht in der Regel zur Einbindung in die Interessen eines Mensch und Natur verachtenden Herrschaftssystems". (Jutta Ditfurth, "Das waren die Grünen", 2000, S. 182) Hinzu kommt, daß von Medien und Parteihierarchien eine unsichtbare Selektion ausgeübt wird: Die "Anpassungsfähigen" werden mit Aufmerksamkeit belohnt, die "Unbelehrbaren" mit Häme überzogen, diffamiert oder schlicht ignoriert. So steigt in der Regel immer nur eine Auswahl der schwächsten und anfälligsten Menschen von der Basis der Parteien in den Hierarchien nach oben.

Genau in der entgegengesetzten Richtung - von oben nach unten - verläuft die Wirkung, die Funktion und damit Zweck heutiger "Demokratie" ausmacht: Es ist die Vermittlung der - je nach aktueller sozialer Kräfteverteilung in der Gesellschaft mehr oder weniger amalgamierten - Interessen der Wirtschaft und der oberen Gesellschaftsschichten an die gesamte Bevölkerung. Diese werden auf diese Weise demokratisch legitimiert und erscheinen als "allgemeiner Wille". Wie es oft so verräterisch heißt, müsse "die Politik" der Bevölkerung nur richtig "kommuniziert" werden. Geradezu kläglich wird heute immer wieder das "Primat der Politik über die Wirtschaft" beschworen, ohne daß dies mehr so recht zu überzeugen mag. Dennoch wird angesichts einer von Lobbys und Sachverständigen- räten bestimmten Gesetzgebung im öffentlichen Diskurs an der Illusion festgehalten, die Macht im Staate läge nach wie vor bei Bundes- oder Landesregierungen.

Johannes Agnoli hat diese reale Funktion des Parlamentarismus als Herrschaftsinstrument in seinem Klassiker "Transformation der Demokratie" bereits 1967 präzise analysiert. Das Parlament, das in seiner historischen Entstehung einmal bürgerliche Kontrollinstanz und Waffe gegen Fürstenwillkür war, hat nicht einfach nur diese Funktion verloren, sondern, so Agnoli, in fließendem Übergang die Funktion der Stabilisierung der kapitalistischen Ordnung übernommen: "Nicht die gänzliche Abschaffung des Parlaments (macht) den neuen Staat stark, sondern die Verlegung der Entscheidungsbefugnisse vom Parlament in den engeren Kreis nicht öffentlich tagender >>Eliten<<." Auch wenn LobbyistInnen in Ministerien und Abgeordnetenbüros aus und eingehen, darf nicht naiverweise angenommen werden, diese würden Gesetzestexte Buchstabe für Buchstabe vorgeben. Selbstverständlich findet ein Feilschen um Nuancen und um Vorteile im Konkurrenzkampf der Konzerne statt. Doch die Gesamtrichtung der gesetzlichen "Feinmechanik" wird aus den Vorstandsetagen über Lobbyisten und pseudo-wissenschaftliche Sachverständige nach unten ins Kabinett durchgereicht, von dort durch die Fraktionen in den Bundestag, in Landes- und Kommunalparlamente und Stufe für Stufe über die Parteienhierarchien bis an deren Basis weiter gegeben. Und nur in Ausnahmefällen treffen die Direktiven auf nennenswerten Widerstand in diesem seit Jahrzehnten fein eingespielten Uhrwerk.

Und dennoch vermag das Parlament dem allem den Schein von Demokratie zu verleihen. "Da es das verfassungsmäßig einzige Subjekt der Gesetzgebung ist, überträgt es die Legitimation (aus freien Wahlen hervorgegangen zu sein) auf die gewünschten Regelungen," so Johannes Agnoli. " Die >>legislative<< Volksvertretung ist in Wirklichkeit ein Exekutivorgan, das (...) Richtlinien der Politik von oben nach unten trägt. (...) Massen, die demokratischen Gefühlen zuneigen, (sind) am besten durch ein Organ neutralisierbar, das ihnen die Illusion einer Beteiligung an der staatlichen Macht vermittelt."

Auf der kommunalen Ebene zeigt sich diese Funktionsweise unserer Schein-Demokratie darin, daß sich GemeinderätInnen nach Jahren parlamentarischer Erfahrung unter der Hand damit rühmen, nun "endlich etwas erreichen" zu können, nachdem sie "einen direkten Draht" zur Verwaltung gefunden hätten. Doch auch kommunale Verwaltung und Bürgermeister funktionieren gegenüber der "Legislative" lediglich als übergeordnetes, vermittelndes Machtinstrument, keineswegs als Machtzentrum.

Und explizit urteilt Agnoli über die objektive Funktion der europäischen Linksparteien: "Nicht daß die linke Opposition von ihrer Fundamentalrolle her gesehen für die Massen funktional degeneriert, macht ihre Brauchbarkeit aus; sondern: daß trotz Degeneration der Anspruch aufrechterhalten wird, eine Linke zu sein, und nach wie vor Kräfte zu vertreten, die gesellschaftlich in Opposition zu den etablierten Nutznießern der bestehenden Ordnung stehen. (...) Systemkonform (>>staatstragend<<) und für die Assimilation interessant ist die parlamentarische Linke nur, wenn es ihr gelingt, einziger (oder einzig bedeutsamer) Kristallisationspunkt aller, selbst der fundamentalen Opposition der Massen, zu sein." Die Linken innerhalb der "Linken" sind also die eigentlichen "nützlichen Idioten", die für ein Linsengericht (oder auch nur leere Versprechungen) der parlamentarischen Schein-Demokratie zu ihrer zwar bröckelnden, aber noch längst nicht grundsätzlich angezweifelten Legitimation verhelfen - einer Legitimation, die wesentlich darauf beruht, daß die Illusion aufrechterhalten werden kann, die Parlamente repräsentierten das gesamte politische Spektrum der Gesellschaft.

"Auch hier ist es keineswegs so, daß der Nutzen fürs System sich aus der totalen Anpassung von seiten der parlamentarischen Linken ergäbe: im Gegenteil, eine parlamentarische Linke, die überhaupt nicht mehr als links gelten würde, fände ja gerade nicht ihre Bestimmung, Kristallisationspunkt für oppositionelle Massen zu sein. Doch nur soweit sie dies sein kann, erfüllt sie ihre Funktion zur Erhaltung des parlamentarischen Systems." Da innerhalb von SPD, Grünen und PDS zumindest auf Bundesebene sämtliche Reste einer Linken bis auf mikroskopische Spuren spätestens in den letzten fünf Jahren beseitigt wurden, ist es also höchste Zeit für die Gründung einer neuen Linkspartei, um so die Illusion aufrecht erhalten zu können.

 

Klaus Schramm

 

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