- eine existentielle Frage?
Der Zeitpunkt ist ungünstig für eine Grundsatzdiskussion - direkt vor Wahlen.
Ein Teil der Linken hat sich (mal wieder) dafür entschieden, bei Kommunalwahlen
oder zum Europaparlament anzutreten. Vor einigen Wochen, vor der Aufstellung der
Listen, wäre sicherlich noch mit mehr Gelassenheit und - vor allem - mehr Zeit
für eine solche Diskussion zu rechnen gewesen. Andererseits: Die Zeiten, in
denen Grundsatz- diskussionen in Glaubenskriege übergingen, scheinen endgültig
passé und sowohl Kommunalwahl als auch Europawahl wird gemeinhin kein solches
Gewicht beigemessen, daß unterschiedliche Auffassungen über die Frage "Wählen
oder nicht wählen?" zu erbitterter Feindschaft führen müßten.
Zudem treten linke oder originär grüne Listen in Baden-Württemberg eh nicht
flächendeckend an. Und in einem großen Teil des linken Spektrums gelten unter
den ersten fünf KandidatInnen der
PDS-Europawahl-Liste gerade mal Sahra Wagenknecht und Tobias Pflüger als
wählbar, während die Europawahl-Kandidaturen der DKP als chancenlos und die der
GRÜNEN nicht nur für Linke, sondern längst auch für UmweltschützerInnen und
Friedensbewegte als irrelevant betrachtet werden. Viele Linken gehen - nicht
zuletzt aus Resignation - inzwischen nicht mehr so verkrampft an dieses
Thema heran wie noch etwa bei der
vorletzten Bundestagswahl 1998, wo Aufrufe zum Wahlboykott nicht selten
mit einem indignierten bis gehässigen "Du Verräter!" quittiert wurden.
Die emotionale Betroffenheit ist doch merklich abgesunken, so daß die Debatte
vielleicht einmal mit kühlerem Kopf geführt werden kann.
Ich will versuchen, in diesem Artikel die seit Jahren allenfalls an
Stichworten aufgehängte Debatte um Parlamentarismus, Wahlboykott oder
Wahlbeteiligung auf eine einigermaßen objektive Basis zu stellen. Woran kann
mensch Erfolg oder Mißerfolg einer Parlamentsbeteiligung bemessen? Ein
Kriterium, das leider häufig verdrängt wird und das für Lenin noch das
Hauptargument darstellte, sollte der mutmaßliche oder tatsächliche Einfluß auf
die Politisierung der Bevölkerung oder Bewohner der Kommune sein. Denn es ist
das "Publikum" (res publica), auf das doch die Inszenierung auf der "politischen
Bühne" - soll diese nicht Selbstzweck sein - wirken soll. (Frei nach Marx könnte
mensch zugespitzt formulieren: "Dieses Kriterium aufzustellen, heißt, es zu
verneinen.") Unsere zweite Frage lautet, was denn in Parlamenten praktisch
erreicht werden kann. Rückblickend muß (selbst-)kritisch Bilanz gezogen werden,
was denn erreicht werden konnte.
Hier nun wird's schwierig, denn zwei häufig kunterbunt durcheinander gewirbelte
Maßstäbe sind nicht vermittelbar. Vorraussetzung beider Sichtweisen ist eine
grundsätzliche Übereinstimmung in der gesellschaftlichen Analyse, daß "der Zug"
in die falsche Richtung fährt: Daß die soziale Spaltung seit den 60er Jahren
zunimmt, das untere Drittel vom wachsenden gesellschaftlichen Wohlstand zunächst
abgekoppelt wurde und seit einigen Jahren nun zur Kompensation schrumpfender
Zuwächse der Konzerne und Reichen in zunehmendem Maße geplündert ("Sozialabbau")
wird. Daß trotz vordergründiger Schönheitsreparaturen und vereinzelter
Erfolgsmeldungen (Windkraft), die Umweltzerstörung insgesamt in beschleunigtem
Tempo zunimmt. Daß Kriege wieder hoffähig ("humanitäre Einsätze") gemacht
wurden, Rüstungsausgaben und -exporte wieder wachsen und nach einer
kurzfristigen Phase der Abrüstung zu Beginn der 90er Jahre auch das atomare
Wettrüsten alle Rekorde bricht.
Verneinen wir also die bürgerliche Sichtweise in der "besten aller möglichen
Welten" zu leben und sind uns einig in der politischen Hoffnung, die Richtung
der gegenwärtigen Politik umkehren zu können, gibt es nun dennoch zwei sehr
verschiedene (mehr oder weniger bewußt angewandter) Maßstäbe: Nach dem einen
werten wir eine politische Aktivität bereits als positiv, sobald sie das Tempo
der negativen Entwicklung zu bremsen vermag ("Sand im Getriebe"). Der andere
Maßstab legt gewissermaßen den "Nullpunkt" an eine andere Stelle. Erst dort, wo
eine Richtungsänderung erkämpft werden kann, darf von einem Erfolg geredet
werden. Konkret: Nicht eine Verminderung der Zunahme der Arbeitslosigkeit ist
ein Erfolg, sondern erst dann kann von Erfolg geredet werden, wenn sie sinkt.
Nicht gewissen Brosamen wie eine Ausbildungsplatzabgabe (so sie denn kommt) sind
bereits ein Erfolg, sondern erst wenn der Sozialabbau gestoppt UND eine
Beteiligung am wachsenden gesellschaftlichen Wohlstand erreicht werden kann.
Nicht etwa die Verhinderung eines AKW-Projekts ist bereits ein Erfolg, sondern
erst wenn der Anteil von Strom aus alternativen und erneuerbaren Energien den
Anteil von AKW-Strom übertrifft, kann von einem Erfolg geredet werden. Nicht die
Verhinderung einzelner Export-Vorhaben sind bereits Erfolge, sondern erst die
dauerhafte Reduzierung der deutschen Rüstungsexporte wäre ein Erfolg.
Auf die kommunale Ebene heruntergebrochen hieße das: Ist der Bau einer neuen
Straßenbahnlinie bereits ein Erfolg oder kann erst von Erfolg geredet werden,
wenn der Anteil des "Individualverkehrs" sinkt und gleichzeitig der des
öffentlichen Nahverkehrs wächst? Können einzelne positive Unterschutzstellungen
von FFH-Gebieten bereits als Erfolg gewertet werden oder erst ein Stop des
beispielsweise gerade um Freiburg herum überdurchschnittlich hohen
Flächenverbrauchs bei gleichzeitiger Renaturierung von Straßen und versiegelten
Flächen? Ohne den Druck einer "Bewegung" oder einem zumindest großen Teil der
BewohnerInnen ist der politische Gestaltungsspielraum innerhalb eines
Kommunalparlaments vergleichbar mit dem Spiel der Straßenbahn-Räder zwischen den
Schienen: Die Richtung steht fest, aber es kann um Bruchteile von Millimetern
hin- oder herruckeln.
Zurück zum "ideologischen Schlachtfeld". Ein Musterbeispiel dessen, was an
knalliger und nach den theoretischen Vorgaben von KommunikationstheoretikerInnen
mustergültiger Parlamentsarbeit möglich war, sind Ilka Schröder im
Europaparlament und Jutta Ditfurth (immer noch) im Frankfurter Römer ( - wer
weiß überhaupt davon?). Sie nutzen die Bühne optimal - doch was nutzt das, wenn
das Licht abgeschaltet wird? Voraussetzung, daß "das Parlament als Bühne"
(Lenin) genutzt werden kann, wäre, daß da ein Publikum ist, das etwas davon
mitbekommt. Und nichts anderes war je mit dem 80er-Jahre-Slogan "Das Spielbein
im Parlament - das Standbein in der Bewegung" gemeint. Bei Ilka Schröder kam
noch hinzu, daß ihre Argumente und Aktionen wenn überhaupt, dann meist
verfälscht, verzerrt und hämisch kommentiert die Öffentlichkeit erreichten.
Tatsächlich wurden Parlaments-Debatten aus dem Bundestag auf 'Phönix' oder NTV
vollständig übertragen und so hatte jede und jeder Gelegenheit (?), auch
Argumente kennenzulernen, die in 'Tagesschau' und 'Heute'-Nachrichten regelmäßig
zu kurz kommen. Doch aus einer Vielzahl von Gründen ist der Anteil der
ZuschauerInnen, die am TV-Gerät Parlaments-Debatten verfolgen äußerst gering.
Und: Solange die Menschen die Erfahrung machen, daß sie an den Entscheidungen,
die in Kommunalparlamenten und im Europaparlament gefällt werden, keinen Anteil
haben, interessieren sie sich nicht dafür, was dort abläuft.
Bei der Einschätzung, dem parlamentarischen Zirkus hilflos ausgeliefert zu sein
und über die Vergabe von Kreuzchen alle paar Jahre keinen spürbaren Einfluß
nehmen zu können, zählt allerdings weniger das abfragbare Wissen ("Welche
gesetzgeberischen Gestaltungs- möglichkeiten hat das Europa-Parlament?" / "Wachsen
oder schrumpfen diese durch die neue EU-Verfassung?" / "Welche realen
Gestaltungsmöglicheiten erhält das Europa-Parlament durch das Etat-Recht?") als
der mehr oder weniger bewußte Erfahrungsschatz, in dem abgespeichert ist, wo
sich denn konkret positive Veränderungen auf die persönlichen
Lebenszusammenhänge mit Gesetzen welcher Ebene auch immer verknüpfen ließen.
Umgekehrt: Erleben Menschen konkret, daß sie etwas beeinflussen und verändern
können, blüht das Gemeinwesen ("Kommune" und "Kommunismus" haben dieselbe
Wortwurzel) auf - wie ein Blick auf die Entwicklung der bayerischen Kommune
Schalkham beweist: Zunächst bei der Übernahme und Erneuerung der kommunalen
Wasserversorgung in Eigenregie und gegen die Schikanen der bayerischen
Landesregierung, dann durch gemeinsam organisierten Großeinkauf von
Solaranlagen. Dieses reale "bürgerschaftliche Engagement" führte dazu, daß
Schalkam in der deutschen "Solarbundesliga" den Spitzenplatz für thermische
Solaranlagen (mit weitem Abstand) belegt, obwohl es sich um eine der ärmsten
Gemeinden in Bayern handelt. Auch wenn die dortigen AktivistInnen in die
parlamentarische Arbeit eingebunden werden konnten - der Erfolg vor Ort steht
und fällt mit dem massenhaften Engagement der BewohnerInnen von Schalkham.
Ein Argument, das für die Beteiligung an Parlamenten spricht, besagt: Ohne eine
solche Teilnahme überließe die Linke den anderen Kräften völlig die Bühne. Auch
sei ohne Parlamentsbeteiligung eine bessere "Propagierung" der eigenen Ziele
nicht möglich. Um dies genauer zu untersuchen, muß realisiert werden, daß in
Zeiten, in denen die Massenmedien fast ausschließlich von der Wirtschaft und den
oberen Schichten der Gesellschaft bestimmt werden, ein gesellschaftskritischer
Diskurs wie er gerade im Umfeld von attac als zartes Pflänzchen zu bewundern
ist, weitgehend ausgeblendet wird. Auch das Beispiel aus der Anfangszeit der
Grünen, als Jutta Ditfurth in der "Elefantenrunde" am 26. Januar 1987 vor der
Bundestagswahl, bei der die Grünen 8,3 Prozent erreichten, alle anderen
Politiker inclusive Franz Josef Strauß in den Schatten stellte, ist leider nur
die Ausnahme, die die Regel bestätigt.
Ist die Alternative zur Wahlbeteiligung nur Resignation und Lethargie? Statt auf
der "politischen Bühne" die undankbare Rolle der Statisten zu übernehmen, gäbe
es ein anderes Feld, wohin die dann frei werdenden Kräfte gelenkt werden
könnten: Die Medien sind das Problem und deshalb müssen unabhängige Medien
geschaffen werden. Statt die Energien in Parlamenten und Gemeinderäten zu
vergeuden, wäre es weit erfolgversprechenden bei linken unabhängige Medien wie
'Junge Welt' oder 'Stattzeitung für Südbaden' oder 'Radio Dreyeckland'
mitzuarbeiten oder solche Medien selbst ins Leben zu rufen.
Ein weiteres Kriterium, das eine gewisse Zwitterstellung einnimmt, ist die
Möglichkeit und die Wirkung einer Finanzierung von Bewegungs-Projekten. Bereits
1991 schrieb Verena Krieger in "Was bleibt von den Grünen?" (S. 65 ff.) über die
Auswirkungen "finanzieller Zuwendungen", die stets mit schleichend zunehmender
Konformität einhergehen: "Sehr schnell wurde die Frauenbewegung damit
konfrontiert, was es bedeutete, von staatlichen Institutionen gefördert zu
werden und damit in deren Abhängigkeit zu geraten. Längst hängt feministische
Autonomie am staatlichen Tropf und hat sich stillschweigend mit den Prämissen,
die mit der öffentlichen Finanzierung zusammenhängen, abgefunden. (...) Die noch
sehr umstrittene erste rot-grüne Koalition in Hessen 1985 bezog einen großen
Teil ihrer Akzeptanz nicht nur in Teilen der (damals noch existierenden)
außerparlamentarischen Bewegungen, sondern auch innerhalb der grünen Partei
wesentlich aus der Tatsache, daß autonome FeministInnen in den
Koalitionsvereinbarungen Landesmittel für hessische Frauenprojekte aushandeln
konnten. (...) Nicht umsonst werden gerade Frauenhäuser nicht nur von
sozialdemokratischen, sondern auch von CDU-Stadtregierungen zunehmend
unterstützt, allerdings unter Bedingungen, die entwürdigend sind und eine
permanente Mangelwirtschaft erzeugen." Nicht nur die Bilanz feministischer
Projekte, auch die politische Entwicklung der einstmaligen Vielfalt von
Öko-Instituten zeigt, daß finanzielle Förderung letztlich finanzielle Steuerung
und Ruin bedeuten. Nicht zufällig fiel das Öko-Institut (Freiburg und Darmstadt)
der Anti-Endlager BI im schweizerischen Benken in den Rücken und hielt kritische
Ergebnisse einer eigenen Studie zur Frage der Gen-Koexistent zurück. Und über
die letztlich negative Wirkung finanzieller Alimentierung hinaus ist
festzustellen: Nahezu überall, wo außerparlamentarische Bewegungen eine
institutionelle "Vertretung" fanden, starben sie mehr oder weniger schnell ab.
Wenig bedacht wird auch das persönliche Risiko, dem diejenigen ausgesetzt
werden, die zumeist von ihrer "Basis", die sie in ein Parlament entsendet, nach
kurzer Zeit bereits mangels Interesse oder Ausdauer allein gelassen werden.
Allenfalls wird in der öffentlichen Diskussion gelegentlich die Gefahr der
Korruption im herkömmlichen Sinne angesprochen. Jutta Ditfurth schreibt hierzu:
"Mich wundert, daß die >>legale<< Form der Korruption in der Politik kein Thema
ist. Sie ist überall. Die rot-grüne Regierung führte 1999 Krieg gegen
Jugoslawien, ohne bestochen worden zu sein. Es ist überhaupt nicht nötig, die
rot-grüne Regierung durch illegale Zuwendungen zu bestechen. Die legale
Korruption, besonders auch die intellektuelle, der Reiz und die Befriedigung,
Teil einer besonderen Herrschaftselite zu sein - was sich auch in materiellen
und immateriellen Statussymbolen ausdrückt -, reicht in der Regel zur Einbindung
in die Interessen eines Mensch und Natur verachtenden Herrschaftssystems".
(Jutta Ditfurth, "Das waren die Grünen", 2000, S. 182) Hinzu kommt, daß von
Medien und Parteihierarchien eine unsichtbare Selektion ausgeübt wird: Die
"Anpassungsfähigen" werden mit Aufmerksamkeit belohnt, die "Unbelehrbaren" mit
Häme überzogen, diffamiert oder schlicht ignoriert. So steigt in der Regel immer
nur eine Auswahl der schwächsten und anfälligsten Menschen von der Basis der
Parteien in den Hierarchien nach oben.
Genau in der entgegengesetzten Richtung - von oben nach unten - verläuft die
Wirkung, die Funktion und damit Zweck heutiger "Demokratie" ausmacht: Es ist die
Vermittlung der - je nach aktueller sozialer Kräfteverteilung in der
Gesellschaft mehr oder weniger amalgamierten - Interessen der Wirtschaft und der
oberen Gesellschaftsschichten an die gesamte Bevölkerung. Diese werden auf diese
Weise demokratisch legitimiert und erscheinen als "allgemeiner Wille". Wie es
oft so verräterisch heißt, müsse "die Politik" der Bevölkerung nur richtig
"kommuniziert" werden. Geradezu kläglich wird heute immer wieder das "Primat der
Politik über die Wirtschaft" beschworen, ohne daß dies mehr so recht zu
überzeugen mag. Dennoch wird angesichts einer von Lobbys und
Sachverständigen- räten bestimmten Gesetzgebung im öffentlichen Diskurs an der
Illusion festgehalten, die Macht im Staate läge nach wie vor bei Bundes- oder
Landesregierungen.
Johannes Agnoli hat diese reale Funktion des Parlamentarismus als
Herrschaftsinstrument in seinem Klassiker "Transformation der Demokratie"
bereits 1967 präzise analysiert. Das Parlament, das in seiner historischen
Entstehung einmal bürgerliche Kontrollinstanz und Waffe gegen Fürstenwillkür
war, hat nicht einfach nur diese Funktion verloren, sondern, so Agnoli, in
fließendem Übergang die Funktion der Stabilisierung der kapitalistischen Ordnung
übernommen: "Nicht die gänzliche Abschaffung des Parlaments (macht) den neuen
Staat stark, sondern die Verlegung der Entscheidungsbefugnisse vom Parlament in
den engeren Kreis nicht öffentlich tagender >>Eliten<<." Auch wenn LobbyistInnen
in Ministerien und Abgeordnetenbüros aus und eingehen, darf nicht naiverweise
angenommen werden, diese würden Gesetzestexte Buchstabe für Buchstabe vorgeben.
Selbstverständlich findet ein Feilschen um Nuancen und um Vorteile im
Konkurrenzkampf der Konzerne statt. Doch die Gesamtrichtung der gesetzlichen
"Feinmechanik" wird aus den Vorstandsetagen über Lobbyisten und
pseudo-wissenschaftliche Sachverständige nach unten ins Kabinett durchgereicht,
von dort durch die Fraktionen in den Bundestag, in Landes- und
Kommunalparlamente und Stufe für Stufe über die Parteienhierarchien bis an deren
Basis weiter gegeben. Und nur in Ausnahmefällen treffen die Direktiven auf
nennenswerten Widerstand in diesem seit Jahrzehnten fein eingespielten Uhrwerk.
Und dennoch vermag das Parlament dem allem den Schein von Demokratie zu
verleihen. "Da es das verfassungsmäßig einzige Subjekt der Gesetzgebung ist,
überträgt es die Legitimation (aus freien Wahlen hervorgegangen zu sein) auf die
gewünschten Regelungen," so Johannes Agnoli. " Die >>legislative<<
Volksvertretung ist in Wirklichkeit ein Exekutivorgan, das (...) Richtlinien der
Politik von oben nach unten trägt. (...) Massen, die demokratischen Gefühlen
zuneigen, (sind) am besten durch ein Organ neutralisierbar, das ihnen die
Illusion einer Beteiligung an der staatlichen Macht vermittelt."
Auf der kommunalen Ebene zeigt sich diese Funktionsweise unserer
Schein-Demokratie darin, daß sich GemeinderätInnen nach Jahren parlamentarischer
Erfahrung unter der Hand damit rühmen, nun "endlich etwas erreichen" zu können,
nachdem sie "einen direkten Draht" zur Verwaltung gefunden hätten. Doch auch
kommunale Verwaltung und Bürgermeister funktionieren gegenüber der "Legislative"
lediglich als übergeordnetes, vermittelndes Machtinstrument, keineswegs als
Machtzentrum.
Und explizit urteilt Agnoli über die objektive Funktion der europäischen
Linksparteien: "Nicht daß die linke Opposition von ihrer Fundamentalrolle her
gesehen für die Massen funktional degeneriert, macht ihre Brauchbarkeit aus;
sondern: daß trotz Degeneration der Anspruch aufrechterhalten wird, eine Linke
zu sein, und nach wie vor Kräfte zu vertreten, die gesellschaftlich in
Opposition zu den etablierten Nutznießern der bestehenden Ordnung stehen. (...)
Systemkonform (>>staatstragend<<) und für die Assimilation interessant ist die
parlamentarische Linke nur, wenn es ihr gelingt, einziger (oder einzig
bedeutsamer) Kristallisationspunkt aller, selbst der fundamentalen Opposition
der Massen, zu sein." Die Linken innerhalb der "Linken" sind also die
eigentlichen "nützlichen Idioten", die für ein Linsengericht (oder auch nur
leere Versprechungen) der parlamentarischen Schein-Demokratie zu ihrer zwar
bröckelnden, aber noch längst nicht grundsätzlich angezweifelten Legitimation
verhelfen - einer Legitimation, die wesentlich darauf beruht, daß die Illusion
aufrechterhalten werden kann, die Parlamente repräsentierten das gesamte
politische Spektrum der Gesellschaft.
"Auch hier ist es keineswegs so, daß der Nutzen fürs System sich aus der totalen
Anpassung von seiten der parlamentarischen Linken ergäbe: im Gegenteil, eine
parlamentarische Linke, die überhaupt nicht mehr als links gelten würde, fände
ja gerade nicht ihre Bestimmung, Kristallisationspunkt für oppositionelle Massen
zu sein. Doch nur soweit sie dies sein kann, erfüllt sie ihre Funktion zur
Erhaltung des parlamentarischen Systems." Da innerhalb von SPD, Grünen und PDS
zumindest auf Bundesebene sämtliche Reste einer Linken bis auf mikroskopische
Spuren spätestens in den letzten fünf Jahren beseitigt wurden, ist es also
höchste Zeit für die Gründung einer neuen Linkspartei, um so die Illusion
aufrecht erhalten zu können.
Klaus Schramm