Versagte eine Komponente »Made in Germany«?
Am Mittwoch, 26. Juli*, geriet das schwedischen Atomkraftwerk (AKW) Forsmark offenbar nach einer Verkettung von Pannen in eine kritische Situation. Laut Experten entging Europa nur knapp einem GAU.
Nach bisher vorliegenden Informationen führte ein Kurzschluß bei Arbeiten außerhalb des AKW Forsmark am 26. Juli kurz vor 14 Uhr zu einer Trennung des Kraftwerks vom Stromnetz. Automatisch erfolgte die Schnellabschaltung. Eine Überspannung hatte jedoch bereits die Batterien der Notstrom-Diesel beschädigt. Unmittelbar darauf versagte die AKW-eigene Stromversorgung. Zwei von vier automatisch zu startenden Dieselaggregaten sprangen nicht an. Erst nachdem zwei der vier baugleichen Notstrom-Aggregate manuell gestartet werden konnten, gelang es der Betriebsmannschaft, den Reaktor nach 23 Minuten wieder unter Kontrolle zu bekommen. Das AKW Forsmark war nur 7 Minuten vom GAU entfernt.
Lars-Olov Höglund, der als langjähriger Chef der Konstruktions- abteilung des schwedischen Vattenfall-Konzerns für deren Atomkraftwerk in Forsmark zuständig war und den Reaktor in- und auswendig kennt, kommentierte: "Es war ein reiner Zufall, daß es zu keiner Kernschmelze kam. (...) Wäre der Reaktor nur sieben Minuten länger nicht unter Kontrolle gewesen (...) Das ist die gefährlichste Geschichte seit Harrisburg und Tschernobyl". Diese Äußerungen wurden jedoch erst 8 Tage nach der Beinahe-Katastrophe in der Stockholmer Tageszeitung Svenska Dagbladet (2.08.) veröffentlicht. Zuvor war die Öffentlichkeit weder von Vattenfall noch von den schwedischen Medien unterrichtet worden. Ein Skandal im Skandal.
Die dramatische Situation im AKW Forsmark vor einer Woche wird durch einen weiteren Fakt beleuchtet: Der Stromausfall führte zu einem Blackout der Steuerungs-Computer. Die Betriebsmannschaft mußte zeitweise "blind" agieren. Sie verlor schließlich völlig den Überblick, weil zahlreiche Informationen der Meßgeräte über den Zustand des Systems im Kontrollraum nicht abrufbar waren. So hatte sie für die nötigen Eingriffe keine sicheren Informationen und konnte deren Auswirkungen nicht verfolgen.
Gestern hieß es nun, die schwedische Atomkraftbehörde "Statens Kärnkraftinspektion" (SKI) nähme die Tatsache, daß die Sicherheitssysteme im AKW Forsmark nicht funktionierten "sehr ernst". Eine Woche nach der Beinahe-Katastrophe wird nun, nachdem sie publik wurde, eine "umfassende Untersuchung" angeordnet. Ingvar Berglund, Forsmark-Sicherheitschef, findet den Konstruktionsfehler von Komponenten, über die sich ungehindert eine Kurzschlusskette fortsetzt, "nicht akzeptabel": "Ich hatte davon vorher erst einmal gehört, das war bei einem russischen Reaktor."
Laut Berglund stellte sich erst nach dem 26. Juli heraus, daß die Herstellerfirma AEG, die die untauglichen Notstrom-Aggregate Anfang der Neunzigerjahre geliefert hatte, diese Konstruktionsschwäche durchaus kannte. AEG habe es aber nicht für notwendig erachtet, diese Information weiterzugeben. Im Widerspruch dazu meldete am Mittwoch die Tageszeitung Upsala Nya Tidning, AEG habe Vattenfall informiert, nachdem es einen Zwischenfall in einem deutschen AKW1 gegeben hatte.
Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW verweist darauf, daß bereits vor Jahren - so 1994 und am 8. Februar 2004 - nach einem Notstrom-Fall im deutschen AKW Biblis die Unzuverlässigkeit der AEG-Notstrom-Aggregate publik geworden war. Auch Heinz Smital von Greenpeace bestätigt die Einschätzung, daß das AKW Forsmark am 26. Juli außer Kontrolle war. Erst nach einem manuellen Eingreifen habe die Betriebsmannschaft das Kraftwerk wieder in den Griff bekommen.
Nicht nur schwedische, sondern auch finnische AKW sind mit Notstrom-Aggregaten »Made in Germany« ausgestattet. Berglund äußerte die Besorgnis, daß es sich um ein "weltweites" Problem handele. Darüber sei mittlerweile auch die Internationale Atomenergieagentur IAEO2 informiert worden.
Das schwedische SKI hat die "Panne" vom 26. Juli jetzt in Übereinstimmung mit Vattenfall auf der siebenstufigen Störfall-Skala INES als vom Niveau 2 bewertet. Sowohl AKW-Betreiber als auch SKI weisen die Einschätzung des Forsmark-Konstrukteurs, der Reaktor habe vor einer Kernschmelze gestanden, als "übertrieben" zurück. Ole Reistad, Abteilungsleiter der Strahlenschutzbehörde im Nachbarland Norwegen, nimmt die "Panne" allerdings deutlich ernster. Das AKW Forsmark habe "nahe vor einer Katastrophe" und vor dem Wegfall der letzten Sicherheitsbarriere gestanden, sagte Reistad: "So etwas hätte nie passieren dürfen."
Auf Grund des öffentlichen Drucks wurden in Schweden nun vier weitere AKWs abgeschaltet. Der deutsche Atom-Minister Gabriel scheint entsprechende Schritte jedoch nicht für nötig zu erachten. Am 8. Februar 2004 hatte ebenfalls ein Kurzschluß Block B des AKW Biblis stillgelegt. IPPNW erinnert in einer aktuellen Stellungnahme daran, daß es auch in Biblis zur Trennung vom Stromnetz gekommen war und die Notstrom-Versorgung über das kraftwerkseigenen Aggregat versagte. Eine weitere Parallele zeigt sich darin, daß auch im AKW Biblis mehrere Komponenten der Kraftwerkssteuerung versagten und manuelle Eingriffe erforderlich waren, um die Situation zu retten.
Zudem erwiesen sich die Notstrom-Dieselaggregate nicht nur im AKW Biblis, sondern auch in anderen deutschen AKWs als unzuverlässig. So kam in Biblis B zuletzt am 25. Oktober 2005 zu einer Kühlwasserleckage am Motorölwärmetauscher eines Notstrom-Dieselmotors. Im Jahr 2004 versagten die Notstromdiesel drei Mal und im Jahr 2003 zwei Mal. Greenpeace verweist auf einen Fall im deutschen AKW Isar-2 am 3. März 2004. Dort war es zu einer kurzfristigen Unterbrechung der Notstromversorgung gekommen.
Nach Einschätzung von IPPNW berührt dies ein "ganz grundlegendes Problem" in allen AKWs: "Die Steuerung von Atomkraftwerken kann jederzeit durch Kurzschlüsse beziehungsweise Überspannungen aus dem Ruder laufen und zum Super-GAU führen". Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) warnte schon 1992 in einer Arbeit für das Bundesumweltministerium eindringlich vor diesen Überspannungen. IPPNW: "Aber in Deutschland ignoriert man sicherheitstechnische Schwachstellen, die man nicht lösen kann schlichtweg nach dem Motto: Augen zu und durch. Bis es mal zu spät ist."
Siegmar Gabriel ist als Chef des Bundesumweltministeriums zugleich für die Bundesatomaufsicht zuständig. Dies schließt die Verantwortung für vorhersehbare Katastrophen-Abläufe nach dem Muster der Beinahe-Katastrophe vom 26. Juli ein. Gabriel ist gegenüber den Länderministern weisungsbefugt. Bisher allerdings versandte das Berliner Atom-Ministerium lediglich eine dürre Pressemitteilung (3.08. 17.21 Uhr). Darin heißt es, es würden derzeit Konsequenzen aus dem "Störfall im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark" geprüft und geklärt, "ob die zugrunde liegenden sicherheitstechnischen Mängel auch in deutschen Atomkraftwerken vorliegen können".
Bei den vier deutschen Energieversorgern und AKW-Betreibern E.on, EnBW, Vattenfall und RWE herrscht zur Zeit völlige Funkstille. Es dürfte allerdings nicht allzu lange dauern, bis die Propaganda-Abteilungen der Atom-Mafia neuen Finten aus dem Hut zaubern. Allzu fadenscheinig erschiene es dieser Tage, weiterhin den "leider viel zu langsamen" deutschen "Atomausstieg" damit schmackhaft machen zu wollen, indem sie von ganz rechts mit einem "Ausstieg aus dem Ausstieg" drohen lassen.
Klaus Schramm
Anmerkungen
* Nachträgliche Korrektur:
Erst geraume Zeit später wurde bekannt, daß die kritische
Situation
im AKW Forsmark bereits am 25. Juli eingetreten war.
1 Siehe auch unseren Artikel
Wieder mal Panne im AKW Biblis
(22.04.04)
2 Siehe auch unseren Artikel
Friedensnobelpreis an die IAEO
- die Lobby der Atom-Mafia (7.10.05)