2.01.2008

30.000 klagen gegen
Vorratsdatenspeicherung

Sensibilität wächst wie zu Zeiten
des Volkszählungsboykotts 1987

Stasi 2.0 Seit gestern ist die Speicherung von Telekommunikationsdaten für sechs Monate auf Vorrat und ohne jeden Verdacht vorgeschrieben. Telefon- und Internetunternehmen müssen die Information, wer mit wem telefoniert oder per eMail oder SMS kommuniziert hat, für den polizeilichen Zugriff bereithalten. Bei Handy-Gesprächen und SMS soll auch der jeweilige Standort der NutzerInnen festgehalten werden.

Über 30.000 Klagen gingen gegen dieses Gesetz heute beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein. Das ist die größte derartige Klage in der Geschichte der Bundesrepublik. Die 160 Seiten umfassende Klageschrift enthält auch den Antrag, die nun gesetzlich erlaubte Datenspeicherung durch eine Einstweilige Anordnung sofort zu unterbinden.

Nachdem bereits unter "Rot-Grün" - und nicht erst seit 2001 - die Überwachung der deutschen Telefone Jahr für Jahr neue Rekorde brach, ist die jetzige Entwicklung nicht etwa "ganz neuer Qualität" wie manche Bundestags-PolitikerInnen aus Oppositionsparteien nun entdecken. Doch die zentrale Sammlung von Daten gänzlich Unverdächtiger erhöht das Risiko drastisch, daß ein totalitärer Überwachungsstaat quasi über Nacht an die Macht kommen kann, dessen Überwachungs- und Manipulationsfähigkeit jene von Stasi oder Gestapo bei weitem in den Schatten stellen könnte.

Doch auch bereits gegenwärtig sind die Konsequenzen der neuen Gesetzeslage drastisch. Die elektronische Kommunikation verliert nicht nur abstrakt ihren grundgesetzlich garantierten Schutz, sondern ganz konkret: JournalistInnen droht der Abbruch Informantenkontakten, Beratungsangeboten wie der Telefonseelsorge droht die Abnahme von Anrufen und eMails von Menschen in Not. Heimliche Affären, vertrauliche Gespräche mit der Konkurrenzfirma, persönliche Neigungen - all das können die Sicherheitsbehörden künftig auf einfachen Gerichtsbeschluß aus den Daten herauslesen. RegierungskritikerInnen müßten das Ende unkomplizierter Kommunikation befürchten und Internet-NutzerInnen Ermittlungen wegen des Besuchs vermeintlich verdächtiger Internet-Seiten. Aus der großen Menge sensibler Daten können in Zukunft auch Informationen über die persönlichen Neigungen oder Krankheiten von Menschen abgeschöpft werden. Vertrauliche Kommunikation wird bei dieser Gesetzeslage künftig nur noch bei persönlichen Treffen möglich sein.

Das Bundesjustizministerium zeigte sich wegen der Verfassungsbeschwerde gelassen. "Wir machen nur Gesetze, von denen wir überzeugt sind, daß sie verfassungsgemäß sind", sagte ein Sprecher. Er verwies darauf, daß Bundespräsident Horst Köhler das Gesetz ausgefertigt und keine Bedenken angemeldet habe. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht müsse nun abgewartet werden.

Doch die Bundesregierung hat nicht einmal ansatzweise nachgewiesen, daß ein derart tiefer Eingriff in die Bürgerfreiheiten in einem angemessenen Verhältnis zu möglichen Erfolgen im Terrorkampf steht. Dabei wird es gerade wegen der Totalerfassung der Bevölkerung schwierig sein, die wenigen wirklich Gefährlichen in den Datenfluten zu erkennen.

Auf der Weltkarte der Menschenrechts-Organisation 'Privacy International', die sich gegen staatliche Überwachung und Eingriffe in die Privatsphäre einsetzt, erscheint Deutschland nunmehr in gelber Farbe. Gelb bedeutet: Der Schutz der Bürgerrechte hat sich hierzulande weiter verschlechtert. In ihrem zum Jahresende veröffentlichten Kontrollbericht stuft die Organisation Deutschland hinter Rumänien, Slowenien und Ungarn ein. Allerdings werden die meisten europäischen Länder noch schlechter bewertet. Am unteren Ende der Skala liegen die USA, Rußland, Großbritannien und China.

Als sich 2007 der Boykott der Volkszählung von 1987 jährte, meinten noch etliche JournalistInnen den damaligen Protest mit Häme kommentieren und als Hysterie abqualifizieren zu können. Doch spätestens seit der Demo am 22. September in Berlin, an der überraschend viele Menschen teilnahmen, scheint die Sensibilität für die Brisanz des Datenschutzes wieder zu wachsen.

 

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Anmerkungen

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