5.01.2006

Interview

"Konzerne eignen sich die Welt an"

Der UN-Beauftragte Jean Ziegler über Hunger, Verschuldung und die Rolle der Welthandelsorganisation
Dokumentation eines Interviews in der 'Frankfurter Rundschau', 5.01.2006

Jean Ziegler, Schweizer Soziologe und UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, warnt vor einer Refeudalisierung der Welt. Multinationale Konzerne sind für ihn die neuen Kolonialherren, die die "Massenvernichtungswaffen" Hunger und Verschuldung einsetzen. Ihre willigen Helfer WTO und IWF sollten aufgelöst werden.

Frankfurter Rundschau:
Herr Professor Ziegler, in Ihrem neuen Buch 'Das Imperium der Schande' sprechen Sie von einer Refeudalisierung der Welt. Was meinen Sie damit?

Jean Ziegler:
In den vergangenen Jahrzehnten sind auf der Erde unglaubliche Reichtümer entstanden, der Welthandel hat sich in den letzten zwölf Jahren mehr als verdreifacht, das Welt-Bruttosozialprodukt fast verdoppelt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist der objektive Mangel besiegt und die Utopie des gemeinsamen Glückes wäre materiell möglich. Doch gerade jetzt findet eine brutale, massive Refeudalisierung statt. Die neuen Kolonialherren, die multinationalen Konzerne - ich nenne sie Kosmokraten - eignen sich die Reichtümer der Welt an. Diese neue Feudalherrschaft ist 1000-mal brutaler als die aristokratische zu Zeiten der Französischen Revolution.

Wie funktioniert diese Feudalherrschaft im 21. Jahrhundert?

Die Legitimationstheorie der Konzerne ist der Konsensus von Washington. Danach muß weltweit eine vollständige Liberalisierung stattfinden. Alle Güter und Dienstleistungen in jedem Lebensbereich müssen vollständig privatisiert werden, öffentliche Güter wie Wasser gibt es nicht. Auch die Gene der Menschen, Tiere und Pflanzen werden in Besitz genommen und patentiert. Alles wird dem Prinzip der Profitmaximierung unterworfen. Dabei setzen die Konzerne zwei Massenvernichtungswaffen ein, den Hunger und die Verschuldung. Das Resultat ist absolut fürchterlich. Die Zahl der Hungernden steigt in absoluten Zahlen immer weiter an. Im vergangenen Jahr sind nach dem Welternährungsbericht jeden Tag 100.000 Menschen an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen gestorben. Und dies, obwohl die Weltlandwirtschaft schon heute - ohne Gentechnik - problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte, also das doppelte der Weltbevölkerung, wie derselbe Bericht feststellt.
Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.

Was muß passieren, um diese mörderische Entwicklung zu stoppen?

Zuerst muß die theoretische Legitimation dieses Systems zerstört werden, der Konsensus von Washington, die Wahnidee von der Ökonomisierung der Natur. Dann muß es einen Aufstand des Gewissens geben gegen die kosmokratische Minderheit, die die Welt beherrscht. Denn die heutige kannibalische Weltordnung ist das Ende sämtlicher Werte der Aufklärung, das Ende der Grundwerte und der Menschenrechte. Entweder wird die strukturelle Gewalt der Konzerne gebrochen, oder die Demokratie ist vorbei und der Dschungel kommt. Es ist eine Existenzfrage.

Welche Rolle spielen die Welthandelsorganisation WTO und der Internationale Währungsfonds IWF in dieser Weltordnung?

Leider sind WTO und IWF die zwei entscheidenden Organisationen für die Nord-Süd-Beziehungen. Bei beiden wird der neoliberale Konsensus von Washington dogmatisch durchgesetzt. Beide sind willige Helfer der Kosmokraten, sie müssen aufgelöst werden. Denn jeden Tag sterben Menschen wegen ihrer Politik. Im Niger etwa stehen heute 3,6 Millionen Menschen am Abgrund. Der IWF hat die Bildung von Lebensmittelreserven letztes Jahr verhindert. Jetzt hat er verboten, daß Hirse gratis verteilt wird, weil dies marktverzerrend sei. Das ist mörderisch.

Wie beurteilen Sie das Ergebnis des WTO-Gipfels in Hongkong?

Es ist ein kosmetisches Minimalergebnis, das den ärmeren Ländern kaum nützt. In wichtigen Fragen, wie beim Baumwollstreit, gab es keine Einigung. Der in Hongkong beschlossene Abbau der Exportsubventionen im Agrarbereich kommt viel zu spät, erst 2013. Und die Produktionssubventionen in den USA und der EU bleiben bestehen. Damit kann die skandalöse Dumpingpolitik fortgesetzt werden: Lokale Märkte in Entwicklungsländern werden weiter durch subventionierte Billigprodukte aus der EU und den USA zerstört. So werden Sie etwa auf dem Markt in Dakar im Senegal auch in Zukunft europäisches Gemüse zu einem Bruchteil des einheimischen Preises kaufen können. Die Bauern dort haben keine Chance. Und auch die Zusage an die allerärmsten Länder, in Zukunft ohne Zollschranken in die Industrieländer exportieren zu können, hat einen entscheidenden Haken: Sie soll nur für 97 Prozent der Produkte gelten. Die für die einzelnen Entwicklungsländer entscheidenden Produkte können so gezielt ausgeschlossen werden. Zum Beispiel wird Japan weiterhin 750 Prozent Importzoll auf kambodschanischen Reis erheben können.

Wieso können die Industrieländer in der WTO immer wieder ihre Interessen durchsetzen?

Die WTO-Regeln sind unfair, es sind diskriminierende, intransparente Erpressungsmechanismen. Die EU, USA, Kanada, Australien und Japan, die 81 Prozent des Welthandels kontrollieren, diktieren den Verhandlungsprozeß. Die so genannte Konsensregel - alles muß einstimmig beschlossen werden - ist eine reine Lüge: Sie nützt den Reichen, die einen Konsens mit wirtschaftlichen Versprechungen oder Drohungen erzwingen können. Zudem haben viele ärmere Länder gar nicht die finanziellen Mittel, an den langwierigen Verhandlungen ständig teilzunehmen und sind schlecht informiert. Ich bin für Welthandelsregeln, aber nicht für diese. Stattdessen muß es gerechte Regeln geben: frei ausgehandelt, ohne Zwang, nach den Prinzipien von Fairness und Transparenz.

Sehen Sie auch positive Entwicklungen?

Ja, das Bewusßtsein weltweit steigt. Schon beim WTO-Gipfel in Cancún und jetzt in Hongkong hat eine neue, erfolgreiche Symbiose stattgefunden zwischen Zivilgesellschaft und den Delegationen der Entwicklungsländer. Die Zivilgesellschaft wird immer stärker in der Welt.

 

Interview: Ralf Willinger

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      'Eine mörderische Weltordnung' (21.10.05)

      'Hunger - tagtäglicher Mord
      der Reichen an den Armen (16.10.04)

      'Hunger - noch immer ein Thema' (31.03.04)

      'Dürre in der Sahel-Zone als Folge des Klimawandels?'
      (13.10.03)

      'Hunger' (30.07.03)

 

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