Seit Wochen wird von den Mainstream-Medien gemeldet, die linksextremistische Gewalt in Deutschland habe deutlich zugenommen. Die statistischen Grundlagen für diese Behauptung sind jedoch mehr als dürftig. Nun stellte Innenminister Thomas de Maizière am Montag den "Verfassungsschutzbericht 2009" vor, wonach rund 1.100 linksextreme und 890 rechtsextreme Gewalttaten registriert worden seien. Insgesamt wurden demnach 24.952 Straftaten mit politischem Hintergrund verübt. 18.750 von Neo-Nazis, 4.734 von Linken und 707 aus dem als "Ausländerkriminalität" bezeichneten Millieu. 761 weitere Straftaten deuteten aufgrund der Tatumstände auf einen "extremistischen Hintergrund" hin, hätten jedoch nicht genauer zugeordnet werden können. Die Zahl der von Linken verübten Straftaten sei dabei von 3.124 (2008) auf 4.734 um rund 52 Prozent gestiegen. De Maizière kündigte an, der Linksextremismus werde nunmehr zu einem Schwerpunkt der Arbeit des "Verfassungsschutzes".
Laut de Maizière haben die Gewalttaten von Linksextremen um 59 Prozent zugenommen, während die von Rechtsextremen um 14,5 Prozent zurückgingen. Immerhin erklärte er, daß es mit Blick auf die rechte Gewalt "keinen Grund für eine Entwarnung" gebe. Doch auf welche statistischen Grundlagen beruht die Behauptung, die linksextremistische Gewalt in Deutschland habe deutlich zugenommen?
Die Fraktion der Linkspartei im Bundestag forderte von der Bundesregierung Auskunft. Die nun vorliegenden statistischen Daten können jedoch den behaupteten Anstieg linksextremistische Gewalt nicht belegen. Zu Tage kam eine Vielzahl unterschiedlicher Statistiken, die nicht kombinierbar sind. Vorgelegt wurde zum einen eine Statistik "Politisch motivierte Kriminalität" (PMK). Sie erfaßt den ersten Anfangsverdacht einer politisch motivierten Straftat, und zwar unabhängig davon, ob sich der Verdacht später erhärtet oder nicht, -selbst dann, wenn die Ermittlungen unmittelbar darauf eingestellt werden. Die "Polizeiliche Kriminalstatistik" (PKS) wiederum verzeichnet sämtliche, also auch "unpolitische", Straftaten - aber erst nach Abschluß der Ermittlungen und nur, wenn die Akten tatsächlich an die Staatsanwaltschaft oder die Gerichte gehen. Angaben über Verurteilungen oder Strafbefehle sind darin nicht enthalten. Diese Angaben enthält eine weitere Datensammlung, die "Strafverfolgungsstatistik" des Statistischen Bundesamtes. Hierin werden die Verurteilungen nach dem Zeitpunkt des gerichtlichen Verfahrensabschlusses aufführt. Diese Statistiken könnte man theoretisch nebeneinander legen, um zu sinnvollen Aussagen zu kommen - aber nur, wenn sie auf gleichen Kriterien basieren würden, was aber nicht der Fall ist.
So gibt es bei der PKS keine einheitlichen Erfassungskriterien der Bundesländer etwa zu Widerstandshandlungen gegen Polizeibeamte. Erst ab dem Berichtsjahr 2010 sollen Erkenntnisse zu Tatumständen, Tatmitteln, Einsatzsituationen, Anlässen, Tatfolgen und Tatverdächtigen vereinheitlicht werden. Außerdem erfassen die polizeilichen Statistiken nur denjenigen Straftatbestand, der nach dem Gesetz die höchste Strafandrohung aufweist, auch wenn später vor Gericht möglicherweise einE AngeklagteR statt für Körperverletzung nur wegen Widerstandes bestraft wird.
Als Beweis für die angeblich rapide ansteigende linke Gewalt müssen immer wieder brennende PkW insbesondere in Berlin und Hamburg herhalten. Doch selbst die Polizei nennt verschiedenste Motive bei PkW-Brandstiftungen: Versicherungsbetrug, Eifersucht, Trunkenheit. In diesem Jahr brannten in Berlin 97 PkW. Nur in 16 Fällen gehen die Sicherheitsbehörden von "politisch motivierten" Straftaten aus. 2008 wurden bundesweit 120 und 2009 232 KfZ-Brandstiftungen als "politisch motiviert" gewertet, davon die Mehrzahl als "linksmotiviert". Wie die Länderpolizeien zu diesen Einstufungen kommen, ist unklar, denn Bekennerschreiben gibt es kaum, und statistisch erfaßt werden diese gar nicht.
Eine seriöse Analyse müßte zudem die "politische motivierten" Autobrandstiftungen, wie sie in der PMK erfaßt werden, mit der Gesamtzahl vergleichen, also auch mit den "unpolitischen" Taten. Doch das geht nicht, weil die PKS nur die Gesamtheit der Brandstiftungen aufzählt, dabei aber nicht nach Immobilien oder Autos unterscheidet.
Im Jahr 2008 wurden bundesweit gerade einmal sieben und im folgenden Jahr 17 Tatverdächtige von KfZ-Brandstiftungen mit "linkem" Hintergrund ermittelt. Das sagt die PMK-Statistik, die aber keine Aussagen zu Verurteilungen enthält. Diese gäbe es in der Strafverfolgungsstatistik, die aber wiederum nicht nach den Zielen der Brandstiftung differenziert. "Valide Informationen zur Zahl der »Verurteilungen von Autobrandstiftern« liegen daher nicht vor," muß die Bundesregierung zugeben. Dies gilt für "politische" wie für "unpolitische" Autobrandstiftungen gleichermaßen.
So fand die als "Feuer-Chaotin" (Berliner Zeitung) vorverurteilte 21jährige Alexandra R. Eingang in die Statistik der Tatverdächtigen, obwohl sie nach fünfmonatiger Untersuchungshaft im Dezember 2009 in Berlin erstinstanzlich vom Vorwurf der Autobrandstiftung freigesprochen wurde. Ähnlich erging es anderen Verdächtigen, die nach mehrmonatiger Untersuchungshaft freigesprochen wurden. Die Staatsanwaltschaft steht unter hohem, zweifellos politisch motiviertem, Handlungsdruck. Dennoch wurde 2009 und in der ersten Hälfte 2010 zumindest in Berlin keine einzige Person wegen politisch links motivierter Autobrandstiftung verurteilt.
Ende Mai 2010 legte der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer, eine Studie zur Gewalt gegen Polizisten vor, mit der die Unionsseite ebenfalls ihre repressiven Forderungen begründen will. Allerdings hat die Studie gravierende Mängel, die Pfeiffer auch selbst benennt. So beruht sie auf der Auswertung eines Online-Fragebogens, der lediglich subjektive Selbstauskünfte abfragte. Beteiligt haben sich 21.000 PolizistInnen, darunter überwiegend junge, im "Einsatz auf der Straße" stehende. Die Zahl von BeamtInnen, die nach Angriffen mindestens eine Woche dienstunfähig gewesen sei, habe zwischen 2005 und 2009 um mindestens 60 Prozent zugenommen. Allerdings handelt es sich hier um einen Anstieg auf niedrigem Niveau von 203 auf 325 Fälle. Die Hauptbetroffenen von Gewalt sind nicht die gut ausgerüsteten BeamtInnen der auch bei Demonstrationen eingesetzten Sondereinheiten, sondern normale StreifenpolizistInnen. Der Großteil dieser Angriffe ereignet sich laut Studie bei Festnahmen. Demonstrationen machen rund acht Prozent aus, drei Viertel davon wiederum gehen angeblich auf das Konto linker DemonstrantInnen.
Zwar zeigt auch die PMK-Statistik einen Anstieg von Körperverletzungen an PolizeibeamtInnen von 212 auf 440. Eingeschlossen sind darin Widerstandshandlungen, wenn diese geeignet waren, BeamtInnen zu verletzen, etwa bei der Abwehr einer Festnahme. Eine tatsächliche Verletzung von BeamtInnen muß dabei allerdings nicht vorliegen. Daneben verzeichnet die Bundesregierung für das Jahr 2009 gerade einmal 259 Widerstandshandlungen gegen VollzugsbeamtInnen, die sie Linken zurechnet. Angesichts von insgesamt 25.401 laut PKS angezeigten Verstößen, zeigt dies keine besondere Gefährlichkeit der linken Szene. Ohnehin ist es gängige Praxis, daß die Polizei schon bei passiver Resistenz Anzeigen wegen Widerstands stellt. Was völlig fehlt, ist eine genauere Aufschlüsselung der Widerstandshandlungen: Ob sie bei Festnahmen erfolgten, oder im Zusammenhang mit Protesten gegen Aufmärsche von Neo-Nazis. Denn wenn AntifaschistInnen mit passivem Widerstand Aufmärsche von Neo-Nazis blockieren und sich der polizeilichen Räumung widersetzen, schlägt sich dies in der Statistik zu Lasten der Linken nieder. Von Widerstandshandlungen, die durch gewalttätige PolizistInnen erst provoziert werden, weiß die Statistik ohnehin nichts.
Ulla Jelpke, Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, zieht daher den Schluß: "Statistiken über einen Anstieg linker Gewalt sind sehr differenziert zu betrachten." Das von den Mainstream-Medien aufgebaute Gespenst des "Steine schmeißenden Autonomen" diene lediglich als Buhmann. "Denn vor allem wollen die Staatsorgane gerüstet sein angesichts einer zunehmenden sozialen Polarisierung, wenn die Folgen der Wirtschaftskrise allgemein spürbar werden," so Jelpke. Sie vermutet, daß die Herrschenden über das "nötige gesetzliche Abschreckungsinstrumentarium" verfügen wollen, wenn sich Hartz-IV-EmpfängerInnen gegen Zwangsumzüge oder Arbeitspflicht wehren, Gewerkschafter gegen Massenentlassungen protestieren oder wenn es zu sozialen Unruhen kommen sollte.
Die Mainstream-Medien von FAZ bis taz leisteten dabei in den vergangenen Wochen ihren Beitrag. So wurde durchgängig von der Demo gegen Sozialabbau am 12. Juni in Berlin berichtet, eine Splitterbombe sei von DemonstrantInnen auf die Polizei geworfen worden. Woher der Sprengkörper, der am Rande des Demo-Zuges explodierte, stammte, ist jedoch trotz mehrerer Video-Aufnahmen vom Geschehen bis heute ungeklärt. (Siehe unseren Artikel vom 13.06.10)
REGENBOGEN NACHRICHTEN
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
Proteste gegen Sozialabbau
"Wir sind alle GriechInnen" (13.06.10)
Ausgepreßt
Sozialabbau schwarz-gelb (7.06.10)
Nachwuchs ohne Zukunfts-Chance
Immer mehr Kinder kommen unter die Räder (1.06.10)
DGB-Chef Sommer: Nicht Jahr eins, sondern Jahr drei der Krise
Generalstreik bleibt Tabu (1.05.10)
Kosten des Gesundheitssystems wachsen
Nur Pharma-Konzerne profitieren (7.04.10)
Kein Aprilscherz:
BRD-Verschuldung bei 1690 Milliarden Euro (1.04.10)
BA-Chef Alt plant weiteren Sozialabbau:
Erhöhter Druck durch Wohnkostenpauschale (25.03.10)
Rente wird gekürzt
"Nullrunde" heißt Minus (16.03.10)
Offizielle Parteispenden über 20 Millionen Euro
Rund 14 Millionen Euro für "C"-Parteien (16.02.10)
Hartz-IV-Regelsätze verfassungswidrig
Herbe Niederlage für "Schwarz-Rot-Gelb-Grün" (9.02.10)
DIW-Studie zum Vermögen in Deutschland
Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter (19.01.10)
Hartz-IV-Bescheide
36 Prozent aller Widersprüche erfolgreich (12.01.10)
Bilanz von fünf Jahren Hartz IV
Repression als "Arbeitsmarkt-Reform" (19.12.09)
'stern'-Umfrage:
Deutsche halten Hartz IV für zu niedrig (28.10.09)
Bei Obdachlosen wird gekürzt
Caritas schlägt Alarm (16.10.09)
Aufschwung? Abschwung? Schwund
bei den Reallöhne seit vielen Jahren (14.08.09)
Nur in der Telefon-Zelle kommt das Zahlen vor dem Wählen
Was nach der Bundestagswahl an weiterem Sozialabbau droht
(23.07.09)
BRD ruiniert
86 Milliarden Euro Neu-Schulden nicht rückzahlbar (19.06.09)
Zehntausende protestieren gegen den G-20-Gipfel
Motto von unfreiwilliger Komik (29.03.09)