6.09.2009

Drei Generationen
Anti-AKW-Bewegung

55.000 in Berlin:
"Mal richtig abschalten!"

Sarah Seide, 19 Jahre, ist aus dem Wendland zur Demo nach Berlin gekommen. Sie sei schon "seit mehreren Jahren im Widerstand aktiv" und erklärt: "Mein Vater war schon vor 30 Jahren in Hannover dabei. Wir Bauern sind ruiniert, wenn Gorleben ein Endlager wird." Und auch Marianne Fritzen, 85 Jahre, Mitbegründerin der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow Dannenberg, ist wieder dabei und verkauft Bücher an einem Stand an die DemonstrantInnen.

Kurz nach zwei Uhr stehen bereits über 400 Trecker und Themenwagen am Brandenburger Tor dreireihig auf der der Straße des 17. Juni bis zur Siegessäule. 55.000 TeilnehmerInnen starten derweil unter dem Motto "Mal richtig abschalten!" am Berliner Hauptbahnhof und ziehen auf der Demo-Route zum Brandenburger Tor.

Anti-AKW-Demo Berlin 2009

Die Mehrzahl ist weder mit einem "rot-grünen" Atom-Ausstieg am Sankt-Nimmerleins-Tag noch mit "schwarz-gelben" Laufzeitverlängerungen, wie sie bereits seit über fünf Jahren praktiziert werden, einverstanden. "Der Trog bleibt der gleiche, nur die Schweine wechseln" ist auf einem der Motiv-Wagen zu lesen, den die LandwirtInnen aus dem Wendland mit ihren Treckern nach Berlin mitgebracht haben.

Anti-AKW-Demo Berlin 2009

Daher war auch klar, daß auf der Kundgebung keine VertreterInnen von Parteien reden dürfen. Gerade vor der Bundestagswahl will sich die Anti-AKW-Bewegung nicht instrumentalisieren lassen. Kerstin Rudeck von der BI Umweltschutz Lüchow Dannenberg begrüßt am Brandenburger Tor über 55.000 TeilnehmerInnen. Fritz Pothmer, 25 Jahre, von der Bäuerlichen Notgemeinschaft sagt in seinem Redebeitrag, daß er zusammen mit seinem Vater Heinrich gekommen ist, der beim ersten Treck vom Wendland nach Hannover im Jahr 1979 eine Rede gehalten hat. "In meiner Familie bin ich in der dritten Generation im Widerstand. Seit 500 Jahren lebt meine Familie auf dem Hof im Wendland. Eigentlich sind die Trecker, mit denen wir heute hier sind, nicht zum Demonstrieren gebaut und werden auf den Höfen und Äckern dringend gebraucht - gerade jetzt in der Kartoffelernte. Aber wir können nicht anders. Der politische Irrsinn zwingt uns dazu!" Die 55.000 TeilnahmerInnen am Brandenburger Tor stehen aus der Sicht Pothmers für zwei Drittel der Deutschen, die den Ausstieg wollen. "Merkel ist eine Erfüllungsgehilfin der Atomlobby und die CDU eine sogenannte Volkspartei, die an einer Dinosaurier-Technologie festhält."

Pothmer weist in seiner Rede darauf hin, daß der größte Teil der Kosten, die die Nutzung der Atomenergie verursacht, erst noch auf uns zukommen: "Diese Kosten, die mehr als 90 Prozent ausmachen, sollen Gorleben und zukünftigen Generationen aufgebürdet werden. Im Keller des Bundeskanzleramtes ist der atomare Müll sicherer aufgehoben als in Asse oder Goleben."

Als Zweiter spricht Ingo Hummel von der IG Metall aus Salzgitter, wo sich in unmittelbarer Nähe des "Versuchs-Endlagers" Asse II auch Schacht Konrad und das ehemalige DDR-Endlager Morsleben befinden. Hummel bringt einen Motor mit, der nun auf die Reise ins Wendland geht. Dieser Motor sei ein Zeichen der Verbundenheit im Kampf gegen die Atompolitik. Auch die IG Metall sei ein Motor beim Kampf gegen Schacht Konrad. Wenige Tage zuvor hatte ein Konvoi von Wendland-Treckern auf dem Weg nach Berlin einen Abstecher nach Salzgitter gemacht und einen Findling aus Gorleben mitgebracht.

2006 hatten rund 5000 IG-MetallerInnen vor den Werkstoren gegen Schacht Konrad protestiert. Die Zeiten der Spannungen zwischen Anti-AKW-Bewegung und Gewerkschaften scheinen zumindest an der Basis der Vergangenheit anzugehören. Nicht wenige GewerkschafterInnen waren noch vor ein oder zwei Jahrzehnten auf Sprüche hereingefallen, daß ein Atom-Ausstieg Arbeitsplätze gefährde. In Berlin erklärt Ingo Hummel nun, daß sich auch GewerkschafterInnen davor fürchten, daß ein Transport-Unfall mit Atommüll in der Region Salzgitter nicht nur den Verlust von 15.000 Arbeitsplätzen zur Folge haben kann. So wird es auch als Zeichen der Verbundenheit gewertet, daß IG-Metall-Chef Berthold Huber von einer Demo in Frankfurt am Main per Übertragung ein Grußwort nach Berlin sendet.

Radikaler ist da allerdings der Redebeitrag eines älteren Herrn aus der Umwelt-Bewegung. Hubert Weiger, Bundesvorsitzender des Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) stellt einen Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise und dem Irrsinn der Atomtechnologie her: "Die Maximierung kurzfristiger Gewinne geht zu Lasten zukünftiger Generationen." Ebenso deutlich weist er darauf hin, daß die Nutzung der Atomenergie zur Stromgewinnung ebenso wenig friedlich ist wie die Atombombe. In beiden Fällen sei dies eine Kriegserklärung an die Schöpfung: "Zukünfige Generationen werden so zu Opfern des Luxus." Einen Grund zur Freude sieht Weiger aber auch. Mit Blick auf die Menschenmenge stellt er fest, daß die Anti-AKW-Bewegung wieder jung geworden ist. Im Gegensatz zu den Azubis der RWE, die vor wenigen Tagen für die Atomlobby in Biblis demonstrierten, seien die jungen Menschen hier freiwillig gekommen.

Zwischendurch spielen die Bands 'Ohrboten' und 'Jupiter Jones', die mit von Punk und Hip-Hop beeinflußtem Rock besonders die jüngeren ZuhörerInnen erfreuen.

Lauri Myllyvirta, ein Vertreter der Anti-AKW-Bewegung in Finnland, berichtet von der Pleite, die Areva und Siemens derzeit mit dem Bau eines Atomkraftwerks vom Typ EPR in Olkiluoto erleben. Ein Projekt nationalen Stolzes habe sich zu einer nationalen Schande gewandelt. Der Bau des AKW, das laut Planung längst fertiggestellt und im Juli 2009 Strom ins Netz einspeisen sollte, ist drei Jahre im Verzug und überschreitet die veranschlagten Baukosten bereits um mehrere Milliarden Euro. Laut Umfragen ist mittlerweile auch in Finnland eine Mehrheit gegen Atomenergie. Und Myllyvirta erklärt der immer wieder verkündeten "Renaissance der Atomenergie", die mit dem Bau in Finnland manifest werden sollte, eine Absage: "Statt dessen geht weltweit alle 33 Minuten eine neue Windkraftanlage in Betrieb."

Für die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg erklärt Pröbstin Friederike von Kirchbach, daß die Atomenergie "mit dem biblischen Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren, nicht zu vereinbaren" sei. Als einziger Redner tritt Hermann Albers, Vizepräsident des Bundesverbands Erneuerbare Energie, mit Anzug und Krawatte auf: "Längere Laufzeiten blockieren den Ausbau der Erneuerbaren Energien." Albers erklärt, daß "Atomenergie die Stromnetze verstopft und den Vorrang der erneuerbaren Energien bei der Netzeinspeisung gefährdt." Die Atomenergie stelle auf diese Weise künftige Milliardeninvestitionen des deutschen Mittelstands infrage. "Ein harmonisches Miteinander der Technologien ist ein Märchen der großen Energiekonzerne."

Als die Trecker und Motivwagen am Ende der Demo in einem Defilee am Brandenburger Tor verbeifahren, ernten sie einen für mehr als eine Stunde ununterbrochenen Beifall. Ob groß ob klein, alle werden begeistert gefeiert und antworten mit Winken und anhaltendem Hupen.

Anti-AKW-Demo Berlin 2009

Anti-AKW-Demo Berlin 2009

In einer Medien-Mitteilung zum Abschluß der Demo erklärt die BI Umweltschutz Lüchow Danneberg: "Vielen Menschen wird klar, die Atomkraft behindert den forcierten Ausbau der Erneuerbaren Energien. Und die Katastrophenmeldungen aus der Asse und Morsleben graben sich ins Gedächtnis ein, es gibt weltweit kein sicheres Endlager. Die Wahrheit zu Gorleben setzt sich nach 30 Jahren beharrlicher Arbeit der Umweltbewegung endlich durch, dieser Standort ist geologisch unmöglich und politisch verbrannt."

Es sei zwar klasse, daß sich SPD, Grüne und Linke zum Atom-Ausstieg und Gorleben positionieren. "Doch nach der Wahl ist vor der Wahl. Wir messen die Politiker nicht an ihren Wahlversprechen, sondern an ihren Taten. Egal, welche Partei am 27. September die Wahl gewinnt, mit uns als außerparlamentarischer Kraft muß man rechnen. Wir werden keine faulen Atomkompromisse hinnehmen, wir fordern den sofortigen Rückbau des Bergwerks in Gorleben."

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel

      Über 100 Trecker bereits auf dem Weg
      nach Berlin zur Demo am 5. September (31.08.09)

      Anti-Atom-Demo
      in Berlin am 5. September: "Mal richtig abschalten" (30.03.09)

 

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