EDF setzt französische Reaktor-Aufsichtsbehörde IRSN unter Druck
Dem französischen 'Netzwerk für Atom-Ausstieg' (Réseau Sortir du nucléaire) wurde ein internes Dokument der EDF
zugespielt. Dieses Dokument vom Dezember 2002 beweist: Dem Betreiber der 21 französischen AKWs mit insgesamt
58 Reaktoren, EDF (Électricité de France), ist es wichtiger, Druck auf die IRSN auszuüben, als die von dieser Behörde
aufgezeigten Mängel in der Auslegung gegen Erdbeben umgehend zu beseitigen. Die Gefahr bei Erdbeben durch
das AKW Fessenheim war erst im Februar dieses Jahres erneut wachgerüttelt worden
(siehe Artikel v. 25.02.03).
In Frankreich schlägt die Erschütterung der Glaubwürdigkeit der EDF in der Frage der Erdbebensicherheit französischer
AKWs hohe Wellen und in der gestrigen Ausgabe der großen französischen Tageszeitung 'Le Figaro' 1
ist von einer
schweren Krise die Rede. Der 'Figaro' resümiert, daß die Experten der IRSN, die eine erneute Untersuchung über die
Widerstandsfähigkeit der französichen AKWs gegen Erdstöße vorgenommen hatten und dabei neueste
Forschungsergebnisse der Seismologie in Rechnung stellten, einen Bedarf an "sehr wichtigen Arbeiten" zur Einhaltung
der gesetzlichen Normen feststellten. Eine Analyse, der die Experten der EDF widersprachen.
Der 'Figaro' zitiert im genannten Artikel aus dem internen EDF-Papier: "Wir wissen von einer herannahenden
Bedrohung" - doch mit dieser Bedrohung ist nicht die Gefährlichkeit der AKWs bei Erdbeben gemeint, sondern die
Aussicht, teure Arbeiten vornehmen zu müssen. Und im EDF-Dokument heißt es weiter: "Unter den Experten muß
strategisch mobilisiert werden, um die Gegenposition zu stärken (...) Auf hoher Ebene müssen Gespräche gegen die
Sicherheitsbehörde geführt werden. Sind Lobby-Aktionen oder ein Konter-Angriff (andere Experten) möglich ?" Man
müsse einen Ausweg aus der "Bedrohung" finden, heißt es weiter in dem Dokument. "Besonders bedroht scheinen
die Reaktoren von Bugey und von Fessenheim zu sein." Doch auch hier ist mit "Bedrohung" (menace) nicht die
mangelhafte Auslegung der AKWs gegen Erdbeben gemeint, sondern die Kosten, die bei einer Beseitigung der
Mängel pro Reaktor zwischen 200 und 400 Millionen Euro liegen würden.
Obwohl die französische Reaktor-Aufsichtsbehörde IRSN zur Transparenz verpflichtet ist, verlief die Debatte mit der
EDF in den letzten Monaten hinter verschlossenen Türen. Paradoxerweise, so der 'Figaro', verlief sie im Geheimen,
obwohl zwei ganz verschiedene Auffassungen von Transparenz und von der Unabhängigkeit von Experten aufeinander
trafen. Erst auf den durch die Veröffentlichung des skandalösen Dokuments entstandenen Druck hin, entschloß sich
die Behörde letzten Donnerstag einen vom 2. Juni datierten Brief an die EDF zu veröffentlichen. In diesem sechseitigen
"sehr technischen" Schreiben, so der 'Figaro', wurde der EDF in mehreren Punkten zu verstehen gegeben, entweder
die Berechnungen zu erneuern oder die Anweisungen der IRSN zu akzeptieren.
Der bislang monolithische Block der französischen Atom-Gemeinde, entstanden durch die gegenseitige Verflechtung
der staatlichen Elektrizitäts-Konzerns EDF mit den eng an den zentralistischen Staat angebundenen polytechnischen
Hochschulen, deren Absolventen fast ausschließlich eine Karriere in staatlichen oder halbstaatlichen Einrichtungen
möglich war, scheint sich aufzulösen. Dies kündigte sich bereits durch eine Reihe von Ereignissen an: Die
Veröffentlichung einer Karte radioaktiver Niederschläge in Frankreich, die von der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl
herrührten (laut den offiziellen Verlautbarungen von 1986 hatten die radioaktiven Wolken von Tschernobyl damals
an der deutsch-französischen Grenze halt gemacht), die Zensur eines Artikels in einem Blatt der Aufsichtsbehörde,
in dem es um die Differenzen in Bezug auf die Widerstandsfähigkeit französischer AKWs gegangen war und die
Intervention des Kabinetts gegen Ministerin Bachelot, die sich ebenfalls auf die Erdbebengefährdung bezog.
Hinzu kam, daß eine neue "Tschernobyl-Affaire" (Le Figaro) die französische Atom-Gemeinde in zwei Lager spaltete. Diese
Affaire begann am 24. April 2002. An diesem Tag organisierte die IRSN aus Anlaß des bevorstehenden 17-ten Jahrestags
der Katastrophe von Tschernobyl eine Pressekonferenz, bei der sie eine neue Karte von Frankreich mit der radioaktiven
Verseuchung durch Cäsium 137 aus Tschernobyl präsentierten wollte. Das wurde zunächst mit Nichtbeachtung oder
Kommentaren, daß es sich dabei um nichts Neues handle, aus weiten Kreisen der Atom-Gemeinde beantwortet. Doch
die Affaire verschärfte sich derart, daß eine Vielzahl von Personen sich nur noch anonym dazu äußern wollte. Von oben
hieß es, die Veranstaltung sei "nicht opportun".
Die lebhafteste Reaktion kam zweifellos von Medizin-Professor Aurengo. In einem Schreiben an die Umwelt- und
Gesundheitsministerin, wandte er sich gegen die Präsentation der Karte: "Ich bin konsterniert, daß solche Resultate,
die methodisch fragwürdig und sehr wahrscheinlich falsch sind, ohne jegliche wissenschaftliche Überprüfung im
Namen eines offiziellen Organs verbreitet werden konnten..." Einige Tage später erhob er gegenüber dem 'Figaro'
schwere Vorwürfe: "Man darf die Leute nicht einfach von irgend etwas erzählen lassen. (...) Diese Karten bringen die
IRSN in schweren Mißkredit." Ihm zufolge stehen die von den AutorInnen der Karte benutzten Modelle in flagrantem
Widerspruch mit den Messungen, die zur Zeit des Unfalls im Gelände vorgenommen worden waren."
Im Jahr zuvor war Prof. Aurengo selbst von der Regierung Jospin beauftragt worden, eine Kartographie der Kontaminierung
des französischen Bodens zu erstellen. Die Zielsetzung: Der nicht enden wollenden Polemik über den tatsächlichen
radioaktiven Eintrag aus Tschernobyl auf den französischen Boden ein Ende zu bereiten. Die Mission des Aurengo-Teams
wurde von der Regierung Raffarin bestätigt.
Hätte Professor Aurengo es besser machen können ? Nichts ist weniger wahrscheinlich. Er wußte, daß die seinerzeit
ausgeführten Messungen sehr zahlreich und nicht klassifiziert waren. Eine Expertengruppe würde mehrere Monate
Vollzeitarbeit benötigen, um sie zu sammeln und zu aufzuarbeiten, räumt er ein. Von seiner Mission überzeugt, wirft
Prof. Aurengo den Experten von der IRSN vor, sich nicht mit ihm in Verbindung gesetzt zu haben, bevor sie ihre
Ergebnisse veröffentlichten. Diese jedoch verweisen darauf, daß sie dieselben Methoden angewandt hätten, die
auch von ihren anerkannten britischen Kollegen zuvor angewandt worden seien.
Im Oktober 2002 war durchgesickert, daß bei 34 der französischen Reaktoren, insbesondere denen der 900-MW- und
der 1300-MW-Klasse, erhebliche Mängel in der Auslegung gegen Erdbeben festgestellt worden waren. Insbesondere war
der EDF bekannt, daß bei diesen Reaktor-Typen sicherheitsrelevante Ventile im Falle eines Erdbebens in ihrer
Funktionsfähigkeit gefährdet seien. All dies erregte jedoch erst durch Veröffentlichungen des französischen
'Netzwerks für Atom-Ausstieg' und das aktuellen Erdbeben in Italien öffentliche Aufmerksamkeit.
Bekannt wurde dann auch, daß die Mängel bereits im November 2000 beim Reaktor 1 in Cattenom entdeckt worden
waren. Anschließende interne Untersuchungen ergaben zunächst, daß fünf weitere Reaktoren, Cattenom 3,
Flamanville 2, Saint-Alban 2 sowie Golfech 1 und 2 ebenfalls betroffen sind.
Ende Oktober 2002 wurde dann bekannt, daß bei weiteren sieben Reaktoren die Kühlung ebenso wie die Notkühlung im
Falle eines starken Erdbebens nicht gewährleistet sei. Auch diese Mängel seien bereits im Jahr 2000 entdeckt
worden - in den AKWs Bugey und Fessenheim. Auf Weisung der Aufsichtsbehörde habe die EDF daraufhin weiter
Reaktoren überprüft. Ebenfalls im Oktober 2002 wurde dann bekannt, daß diese Mängel ebenfalls bei Reaktoren in
den AKWs Chinon, Blayais, Tricastin, Dampierre und Saint-Laurent festgestellt worden seien.
Das 'Netzwerk Atom-Ausstieg' warf der französischen Aufsichtsbehörde vor, diese Informationen im Oktober zunächst
nur versteckt unter eine Fülle unbedeutender Informationen im Internet veröffentlicht zu haben. Wie das vorliegende
Dokument belegt, wurde von Seiten der EDF in den letzten Monaten alles daran gesetzt, die "Bedrohung" abzuwenden.
Im Falle des 1977 errichteten AKW Fessenheim war 24 Jahre lang von der EDF behauptet worden, das AKW sei
erdbebensicher. 2001 mußten dann Verstärkungen der Auslegung nachgeholt werden, nachdem gravierende Mängel in
der Widerstandsfähigkeit der Anlage gegen Erdbeben nicht mehr zu leugnen waren. Die Aussagen von Seiten der
AKW-GegnerInnen, daß auch damit grundlegende Mängel nicht beseitigt seien und eine Gefahr bei größeren Erdbeben
weiterhin bestehe, haben sich mittlerweile bestätigt.
Klaus Schramm
Anmerkung:
1 "Nucléaire : la transparence muselée" (Atomenergie - Transparenz mit Maulkorb)
Le Figaro - 10 juin 2003 - Yves Miserey et Fabrice Nodé-Langlois