16.04.2006

Anti-Atom-Protest in Frankreich

30.000 demonstrierten in Cherbourg

Der Widerstand der französischen Anti-Atom-Bewegung hat seit der Ankündigung1, daß in Frankreich ein neuer Atomreaktor gebaut werden soll, einen unerwarteten Aufschwung genommen. Die OrganisatorInnen des Netzwerks 'Réseau Sortir du Nucléaire' hatten mit höchstens 10.000 DemonstrantInnen in Cherbourg gerechnet. Nach unabhängigen Zählungen haben am gestrigen Samstag über 30.000 Menschen gegen die Neubaupläne für einen neuen Reaktor bei Flamanville und die französische Atompolitik protestiert.

RednerInnen warnten vor dem Bau einer "neuen Generation" von Reaktoren, die ebenso wenig gegenüber terroristischen Flugzeug-Attacken gewappnet seien wie die alten Reaktoren, deren Abschaltung gefordert wurde. Der neue Reaktor vom Typ EPR (Europäischer Druckwasserreaktor) nach Plänen von Areva unter Beteiligung von Siemens soll bis 2012 als Erweiterung des AKW Flamanville unweit von Cherbourg am Ärmelkanal in Betrieb gehen. "Mit der neuen Reaktorgeneration will sich der französische Areva-Konzern nur eine Geschäftsvitrine schaffen, um den EPR besser in der Welt verkaufen zu können", sagte der Koordinator der Gruppe "EPR - Nein danke - weder hier noch anderswo", Didier Anger. Seit 1992 entwickeln Arena und Siemens den Reaktor, der nach und nach die 58 Reaktoren in den 19 französischen AKWs ersetzen soll. Nach der finnischen Baustelle in Olkiluoto, 250 Kilometer nordwestlich von Helsinki, wäre es der zweite EPR-Reaktor, dessen Bau in Europa nach über einem Jahrzehnt Pause begonnen würde.

Das 'Réseau Sortir du Nucléaire'hatte für das Osterwochenende AtomkraftgegnerInnen aus 20 Ländern nach Cherbourg eingeladen. Außer der Demonstration waren Diskussionsforen, Theateraufführungen sowie Konzerte und Filmprojektionen geboten. Nicht zufällig war Flamanville von den Betreibern ausgewählt worden. Mit der Plutoniumfabrik La Hague, dem Atommüllzwischenager der Andra in Nachbarschaft, dem AKW Flamanville oder dem Hafen für atomgetriebene U-Boote in Cherbourg hängt die Region am Tropf der Atomwirtschaft.

Bernard Cazeneuve, Bürgermeister von Cherbourg, war vorsorglich verreist. Die französische Tageszeitung 'Le Monde' spottet, ihm sei zweierlei entgangen. Einmal der massive Protest, der auch - so die Überraschung - in der Region verankert ist. Zum anderen, daß seine Partei, die Pseudo-Sozialisten, sich unter dem Eindruck des Massenprotests von den Neubauplänen distanzierte. "Der EPR ist überflüssig und gefährlich", hatte der Sprecher der französischen "sozialistischen" Partei, Julien Dray, verkündet.

Die große Resonanz auf den Demo-Aufruf vom 'Réseau Sortir du Nucléaire' muß auch im Zusammenhang mit den wochenlangen Streiks und Demonstrationen von StudentInnen und GewerkschafterInnen gegen eine Gesetzesänderung gesehen werden. Mit dieser "Reform" sollte der Kündigungsschutz für BerufsanfängerInnen beschnitten werden.

Eine Vielzahl begemalter Blechbüchsen, die als "radioaktiver Abfall" gekennzeichnet waren und vor der EdF-Zentrale abgelegt wurden, verdeutlichten eines der wichtigsten Argumente gegen die Fortsetzung des nuklearen Abenteuers in Frankreich und Europa: die Endlager-Problematik.

Zwei Tage zuvor, am 13.April, hatte die französische Nationalversammlung in erster Lesung ein Gesetzentwurf angenommen, der den Betrieb einer unterirdischen Atommülllagerstätte ab dem Jahr 2025 vorsieht. Im Jahr 2015 soll die Standortentscheidung fallen. Laut Entwurf sei eine Alternativen zur direkten Einlagerung die sogenannte Transmutation, die eine Verkürzung der Strahlung des radioaktiven Mülls durch Neutronenbeschuß,und eine verlängerte Langzeitlagerung der Abfälle in oberirdischen Depots von heute 50 bis 100 Jahren auf 100 bis 300 Jahre. Ob Transmutation jemals großtechnisch realisiert werden kann, bezweifeln allerdings selbst viele der PhysikerInnen, die ansonsten der "freiedlichen Nutzung der Kernenergie" wohlgesonnen sind. Die Transmutations-Forschung ist über Laborversuche nicht hinausgekommen.

So läuft wohl alles darauf hinaus, den radioaktiven Müll oberirdisch zu lagern, bis das "Labor" im lothringischen Bure eines Tages als Endlagerstätte auserwählt wird. Es ist zu hoffen, daß der Widerstand vor Ort ähnlich stark sein wird wie in Cherbourg.

 

Ute Daniels

 

Anmerkungen

1 Siehe hierzu auch unseren Beitrag:

      'EdF beschließt neuen Reaktor-Standort' (21.06.04)

 

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