18.02.2001

Was ist eigentlich
Anarchismus?

Kaum eine andere Bewegung hat so viele Missverständnisse ernten und Niederlagen einstecken müssen wie die der AnarchistInnen. Was macht sie so staatsgefährlich?

Mit diesem Dreiteiler will ich eine Strömung vorstellen, an die viele Menschen anknüpfen, die sich mit alternativen Lebensformen beschäftigen; sei es in Kommunen, mittels Tauschbörsen, in FoodCoops, in Friedens- und Graswurzel- gruppen oder nur theoretisch.
Nach dem gescheiterten Projekt des marxistisch-leninistischen Sozialismus, dem verlockenden, jedoch zerstörerischen Kapitalismus und der Suche vieler Menschen nach anderen Gesellschaftsmodellen, ist der Ruf stärker geworden nach undogmatischen sozialen Ideen. Lenin geißelte den Anarchismus wegen seiner staatszersetzenden Ansätze als „Kinderkrankheit des Kommunismus“ und in den Ostblockstaaten wurde er verschwiegen. Im Westen erlebte er in der sozialen Umbrüchen von 1968 einen starken Aufwind. Bis heute ist er mehr oder weniger ein schlecht organisierter Bestandteil der neuen sozialen Bewegungen in Ost und West.
Innerhalb der GRÜNEN LIGA interessieren und organisieren sich Menschen für den Anarchismus. Selbst das Halbjahrestreffen beschäftigt sich dieses Jahr mit dem Thema „alternative Lebensformen“. Um die Diskussion darüber in unserem Netzwerk zu unterstützen, will ich mit drei aufeinanderfolgenden Beiträgen informieren, diskutieren und zum Nachdenken anregen.

1821 dichtete Goethe in den „Zahmen Xenien“:
„Warum mir aber in neuester Welt
Anarchie gar so gut gefällt ?
Ein jeder lebt nach seinem Sinn,
Das ist nun also auch mein Gewinn.
Ich lass einem jeden sein Bestreben,
Um auch nach meinem Sinne zu leben.“
Wenn es um chaotische Verhältnisse geht, schreiben die Medien gerne von „Anarchie“. Dabei hat Anarchie mit Chaos soviel zu tun wie der Frosch mit der Besenkammer. Anarchismus ist die höchste Stufe menschlicher Ordnung, so der Anarchist und Lyriker Erich Mühsam.
Begründet wurde der Anarchismus als Philosophie durch den englischen Theologen und Schriftsteller William Godwin (1756-1836). Beeinflusst durch die französische Revolution führte er gesellschaftliche Missstände auf die Verhältnisse von Eigentum, Unfreiheit und Unterdrückung zurück: „der Geist der Unterdrückung, der Geist der Unterwürfigkeit, der Geist des Betruges - dies sind die sofortigen Auswüchse unseres Eigentumsystems“ (aus: „Politische Gerechtigkeit“, London: 1793)
Ein weiterer früher Anarchist war Pierre Joseph Proudhon (1809-1864). Von ihm stammt der Ausspruch „Eigentum ist Diebstahl“ (gemeint ist hier der Grundbesitz). Er beeinflusste Karl Marx und verhalf ihm 1845 zu einer Kontaktstelle für internationale sozialistische Korrespondenz (Vorläufer der 1. internationale). In seine Fußstapfen traten Persönlichkeiten wie Bakunin, Kropotkin, Landauer, Goldmann, u.v.m. Der Anarchismus ist reich an Literatur und an engagierten ProtagonistInnen.

Anarchismus besagt soviel wie Abwesenheit von Herrschaft. Während die einen der Meinung sind, dass die Menschen nur mit Hilfe hierarchischer Strukturen miteinander auskommen können, setzt der Anarchismus an der Freundschaft, der gegenseitigen Hilfe und des Miteinanders an. Die sozial-darwinistische Ansicht, dass der Mensch nur im „survival of the fittest“ - also unter Konkurrenz- und Hierarchiebedingungen - überlebensfähig ist, wurde schon seinerzeit durch anarchistische Theoretiker wiederlegt: Kropotkin antwortete auf Darwin mit seinem Werk „Gegenseitige Hilfe in der Tier und Menschenwelt“, das u.a. jahrelange, einzigartige Tierstudien in Sibirien und im Ural zur Grundlage hat. Im Gegensatz zum Marx’schen Kommunismus, der den Weg zu einer befreiten Gesellschaft über den etappenweise „absterbenden“ Staat versuchte, strebt der Anarchismus Veränderungen direkt im Hier und Jetzt an: eine Mischung von „learning by doing“ und steter Gesellschafts- kritik. Das, was im Kleinen an freundschaftlichen Beziehungen existiert, ist ausbaufähig und kann als eine Grundlage für eine Gesellschaft ohne Hierarchie bzw. Herrschaft stehen. So wie die Menschen im engen vertrauten Rahmen unter gleichgestellten Bedingungen miteinander umgehen, so sollte es auch im größeren Kreis funktionieren; natürlich als dezentrale, lokale Gemeinschaft.

AnarchistInnen denken nicht national, d.h. in Größenordungen von 80 Millionen Menschen, einem Gebilde Namens Deutschland oder nach festgelegten kulturgeschichtlichen Regeln. Sie verstehen sich vielmehr als WeltenbürgerInnen, die Kultur, Herkunft, Alter, Geschlecht und Geschichte nicht als Hindernisse sehen, mit anderen Menschen Beziehungen einzugehen.
Über allem, was AnarchistInnen tun, stehen die gemeinsame Vereinbarung und das Bedürfnis nach einem hierarchielosen Miteinander.
Demzufolge lehnen AnarchistInnen die Strukturen jedes Staates ab. Innerhalb des Staates gegen ihn zu kämpfen und die eigenen verinnerlichten hierarchischen Strukturen zu überwinden ist das Hauptspannungsfeld des anarchistischen Ansatzes.

Seit dem Theologen Goldwin blickt der Anarchismus weltweit auf eine lange Entwicklung zurück, in Kommune-Projekten andere Lebensformen auszuprobieren. Geschichtlich gesehen haben AnarchistInnen immer den Kürzeren gezogen. Mit ihnen ließ sich einfach kein Staat machen. In den entscheidenden Kämpfen waren sie meist militärisch unterlegen, weil das „Kriegshandwerk“ bzw. der Militarismus dem Anarchismus im Grunde genommen wiederspricht. Von ihren Bündnis- partnerInnen (meist kommunistische SozialistInnen) wurden sie zu oft über den Tisch gezogen. Von den jeweiligen Machthabern sind sie schließendlich diffamiert und kriminalisiert worden.
Während viele der kommunistischen Köpfe (z.B. Marx und Lenin) ihr Leben im Büro verbrachten, entfalteten anarchistische DenkerInnen einen fast grenzenlosen Aktionismus. AnarchistInnen hielten Reden in den ersten Gewerkschaften, sie untertstützen in den USA Landarbeiter- bewegungen, gründeten weltweit Kommunen und probierten vieles aus, um das Miteinander-Leben für alle erträglicher zu gestalten. Doch wer versucht, sich „außerhalb“ gesellschaftlicher Zwänge zu bewegen, wird zwangsläufig mit den Machthabern konfrontiert. Immer wieder wurden anarchistische Bewegungen in militärische Auseinander- setzungen verwickelt. In der Ukraine haben sie mit der Machno-Bewegung 1917-21 erfolgreich gegen die zaristische Armee gekämpft, um den Bauern ihr Land wiederzugeben und wurden schließendlich von den leninistischen Truppen bekämpft (weil sie sich nicht der Staats-Doktrin unterordnen wollten), im spanischen Bürgerkrieg haben sie in der Gewerkschaft POUM und der CNT gekämpft und wurden von der kommunistischen Partei entwaffnet (nicht von Franco-Truppen!), im Nationalsozialismus waren es die AnarchistInnen, die gleich als Erste von der SA nach der Machtübernahme ermordet wurden..., um nur wenige Beispiele zu nennen.

Selbst der 1. Mai als Tag der Arbeiterbewegung ist auf die anarchistische Bewegung zurückzuführen: 1886 spitzten sich die Kämpfe um den 8-Stunden-Tag zu und es gab blutige Auseinandersetzungen am 1. Mai in Chicago, in deren Folge acht deutsche Anarchisten gehängt wurden. Die Chronologie der sozialen Kämpfe, in denen AnarchistInnen verstrickt waren, lässt sich bis heute kontinuierlich fortsetzen.
Die Auseinandersetzungen um die AnarchistInnen riefen zahlreiche bewaffnete Widerstände hervor und es geisterte vor allem Ende des 19. Jahrhunderts der Begriff „anarchistischer Terrorismus“ herum. Es gab Attentate auf Regierungsbeamten und Adelige, die u.a. von sich bekennenden AnarchistInnen ausgeführt wurden. Auf diese Zeit bezieht sich das bärtige „Bombenmännchen“, das heute in der jugendlichen Subkultur gerne zur Schau gestellt wird. Innerhalb der anarchistischen Zirkel entstanden zahlreiche Diskussionen über die eigene Gewaltanwendung. Bis heute sehen die meisten anarchistischen Gruppen Gewalt als letztes Mittel in einer Notwehrsituation, andere lehnen Gewaltanwendung ganz ab. Nur: wo verlaufen die Grenzen?

Heutzutage beziehen sich viele AnhängerInnen des Anarchismus auf die einschlägigen Theoretiker; eine bärtige Alte-Herren-Riege: Proudhon, Golwin, Bakunin, Kropotkin, Landauer, Stirner, Rocker, Mühsam, Durrutti oder Malatesta. Eigentlich wiederspricht der Personenkult der anarchistischen Idee vom freien Individuum, doch manche suchen sich trotzdem ihre Idole und stolpern in deren Widersprüche. Die meisten der o.g. Männer hatte ein ziemlich reaktionäres Frauenbild, das z.T. selbst in seiner Zeit von Frauenrechtler- innen kritisiert wurde. Proudhon beispielsweise hat ein Buch über die „Pornokratie“ verfasst, in dem er die Einmischung von Frauen in die Politik als „Hurerei“ brandmarkt. Kropotkin träumt in seinen Gesellschaftsentwürfen von der Entwicklung moderner Küchengeräte, um die Frauen von „ihren“ Arbeiten zu entlasten. In seiner Biografie findet sich kein einziger Satz über die Frau, mit der er sein halbes Leben lang verheiratet war und gelebt hatte. Mühsam schreibt gegen die Institution der Ehe und heiratet selbst. Bei Durrutti finden sich in seinen Briefen einige Anmerkungen, dass er sich zu Hause mit um das Kind und den Haushalt kümmert - aber schließlich habe daheim seine Frau die Hosen an. Derartige Widersprüche sind nur zum Teil in der Zeit zu sehen, in der sie stattfanden. Zum anderen Teil zeigen sie auf, dass die anarchistische „Theorie der alten Herren“ große Lücken besitzt.

Viele dieser Lücken wurden später von AnarchistInnen und kleinen Gruppen bei libertären Treffen aufgegriffen und diskutiert. Dazu und zu dem Thema, ob der Anarchismus überhaupt Antworten auf zeitgemäße Problemstellungen bieten kann, werde ich im zweiten Teil etwas schreiben.

 

Oliver C. Pfannenstiel
von der Redaktion des 'Alligator'
Zeitung der Grünen Liga: www.grueneliga.de

 

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