1.03.2001

Was ist eigentlich
Anarchismus?
Teil 2

Diese Folge beginnt mit einem LeserInnenbrief und beschäftigt sich u.a. mit anarchistischem Wirtschaften

Sehr geehrter Herr Pfannenstiel,

ich habe mit Interesse Ihren Artikel „Was ist eigentlich Anarchismus?“ (Alligator 11/2000) gelesen. Ich glaube auch, dass alternative Lebensformen zu wünschen sind, bin allerdings skeptisch, dass Anarchismus eine brauchbare Alternative sei. Wenn ein „jeder nach seinem Sinn lebt“, dann ist leider Tür und Tor zum Missbrauch geöffnet. Zum Beispiel, jeder fährt über eine rote Ampel, wenn es ihm Spass macht, egal, ob andere dabei gefährdet sind oder nicht. Deswegen sind gewisse Spielregeln notwendig. Auch wollen die meisten Menschen vor willkürlichem Ausschmiss aus der Wohnung oder einem von ihnen mühsam bearbeiteten Kleinbetrieb geschützt werden. Deswegen wird Besitz so vehement verteidigt. Im kleinen ist es legitim. Und die meisten Menschen gehen leider nicht so rücksichtsvoll miteinander um, wie eine Gesellschaft ganz ohne Hierarchie es verlangt.

Auch bei komplizierteren Projekten geht nichts voran, wenn nicht ab und zu eine Entscheidung getroffen wird, auch wenn nicht alle Feuer und Flamme dafür sind. Bisher hat der traditionelle Anarchismus keine Lösung für diese Fälle geboten. Deswegen finde ich die Wahl des Wortes für den Begriff „alternative Lebensformen“ etwas unglücklich. Es bleibt dann die schwierige Frage, welches Ausmass die Autorität annimmt. Hierfür habe ich auch keine Antwort.

Bezüglich der Verknüpfung mit der Wirtschaft empfehle ich das Buch „When Corporations Rule the World“ von David Korten (Buchbesprechung im Alligator 5/1996).

Dr. Edith Borie
Karlsruhe, 10.12.2000

Sehr geehrte Frau Dr. Borie,

vielen Dank für Ihr Interesse an meinem Artikel. Sie haben in Ihrem Leserbrief einige wichtige Fragen aufgeworfen, die sich in der Kürze leider nur knapp beantworten lassen. Mit meiner Trilogie zum Thema Anarchismus geht es mir eben auch darum, dieses Thema zur Diskussion zu stellen. Was ich nicht liefern will und kann, sind vorgefertigte Antworten bezüglich konkreter alternativer Lebensentwürfe. In meiner Eigenschaft als Politologe bin ich gegenüber jeglichen Ansätzen sehr kritisch eingestellt, die den Menschen alles auf einmal versprechen. Ich denke, viele Wege führen nach Rom. Einer davon mag der Anarchismus sein. Unser jetziges Gesellschaftssystem hat sich für mich als unbrauchbar erwiesen; es wird uns in spätestens 60-100 Jahren (laut aktuellen Aussagen von Steven Hawking) in eine soziale und ökologische Katastrophe führen, die schon längst ihre Anfänge hinter sich hat. Wir haben innerhalb von knapp 200 Jahren Industriegesellschaft das geschafft, was vor uns die Menschheit nicht in 10.000 Jahren vollzogen hat: keine andere Gesellschaftsform hat den Planeten und damit sich selbst dermaßen zerstört. Es ist erforderlich, nach alternativen Wegen zu suchen, seien sie noch so beschwerlich.

Die Organisierung von Macht und Wirtschaft sind zentrale Aspekte, die verändert werden müssen. Das hat sich der Anarchismus zur Aufgabe gemacht. Deshalb erachte ich es für wichtig, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Ob bzw. an welchen Stellen er sich als „brauchbar“ im Sinne einer sozial gerechten, ökologisch verträglichen Gesellschaft erweist, kann letztendlich nur die Praxis zeigen. Der Anarchismus kann zweifelsohne als „alternative Lebensform“ gesehen werden, da er historisch in unterschiedlichen Regionen – meist in gesellschaftlichen Umbruchphasen – „ausprobiert“ wurde, sei es in der Pariser Commune, in „befreiten Gebieten“ während des spanischen Bürgerkrieges (1934-36), in der deutschen Räterepublik 1919, in der Ukraine zwischen 1918 und 1921 (Machno-Bewegung), in Kronstadt 1919 oder in den unzähligen Kommuneprojekten, die bis heute weltweit existierten und immer noch bestehen. In diesen aufgrund militärischer Interventionen teilweise kurzlebigen Phasen haben die Menschen viel herumexperimentiert. Letztendlich drehte es sich um die Fragen der gesellschaftlichen Machtverteilung, der Mitbestimmung, Güterverteilung und auch der Ethik. Ihre Aussage, dass „jeder nach seinem Sinne lebt“, d.h. egoistische Motive verfolgt, um u.U. anderen damit zu schaden, konnte ich bisher der anarchistischen Literatur oder den libertären Projekten nicht entnehmen.

Ebensowenig, dass der Anarchismus eine verbindliche Organisierung von gesellschaftlich notwendiger Arbeit ablehnen würde. Egoistisches, aneignendes Verhalten liegt dem Anarchismus zufolge nicht in der Natur des Menschen, sondern ist ein logisches Resultat unserer Sozialisation. Es ist weiterhin ein weit verbreitetes Missverständnis, das Wort Anarchie mit „Chaos“ oder „Gesetzlosigkeit“ zu übersetzen. Es heißt wörtlich „Abwesenheit von Herrschaft“. Dass dieser Zustand durchaus eine gesellschaftliche Ordnung und verbindliche Struktur beinhalten kann, ist ein zentraler Aspekt der anarchistischen Theorie.
Der Dichter und Anarchist Erich Mühsam schreibt in diesem Zusammenhang:
„Wo Zentralismus, also die Regelung der Dinge nach obrigkeitlichen Anweisungen, waltet, unterliegen die Gesichtspunkte des gesellschaftlichen Handelns den wechselnden Nutzzwecken der Macht (...). Das Ineinander- greifen der schaffenden Kräfte, die das einzige Merkmal lebendiger Ordnung sind, wird zur mechanischen Geschäftigkeit, zum Zwangsdienst zusammenhangsloser Leistungen verdorben. Zusammenhangslosigkeit ist aber das Gegenteil von Ordnung, nämlich Unterordnung, Drill, Zucht, Unfreiheit, Knechtschaft. Eine geordnete Gesellschaft besteht durch verbundenen Willen der Menschen zur Erfüllung einheitlich erkannter, gemeinsamer Aufgaben, setzt also Gleichheit, Gegenseitigkeitsverpflichtung und soziales Verantwortungsbewußtsein jedes einzelnen voraus. Mit einem Wort: Ordnung im Sinne anarchistischer Auffassung kann nur wachsen aus der Selbstbestimmung derer, die Ordnung halten sollen. Ordnung aus Selbstbestimmung ist gleichbedeutend mit gesellschaftlicher Freiheit.“ (aus: „Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat“)

Je mehr Verantwortung die Menschen an andere delegieren, umso unmündiger werden sie, Selbstbestimmung über ihr Leben zu praktizieren. Letztendlich entscheiden die Bürokratie und der Markt über wichtige Bereiche unseres Lebens. Wir geben „freiwillig“ Macht an uns fremde Institutionen ab, ohne dass wir gefragt werden. Wir können lediglich eine politische Partei wählen, nicht aber, ob wir mit dem ganzen System zufrieden sind. Das legt der Gesellschaftsvertrag („Contract sociale“) fest, auf dem unsere Gesellschaft basiert. Der Anarchismus versucht jenseits dieses Gesellschaftsvertrages nach Alternativen zu suchen. Ein derartiges Bestreben verlangt ein kritisches Bewusstsein gegenüber dem Bestehenden, von gewohnten Denk- und Verhaltensweisen loslassen zu können und offen zu sein für Veränderungen.

Ich hoffe, Frau Dr. Borie, einigermaßen auf Ihre Kritik eingegangen zu sein. Einiges vom bereits Angesprochenen wird im Fortfolgenden thematisiert.

Der Untergang der Spaßkultur

In diesem Teil will ich im knappen Umfang auf die Frage eingehen, ob der Anarchismus mit seinen Wirtschafts- konzepten im Zeitalter von Internet, Gentechnik und Cyberspace zeitgemäße Lösungen anbietet. Wir leben in hochtechnisierten westlichen Industriestaaten, in denen jeden Tag durch eine enorme Arbeitsleistung Berge von Konsumgütern produziert werden, die nicht nur das (Über-) Leben sichern, sondern dazu beitragen sollen, ihm einen „Sinn“ zu geben. Wer sich bereits ein eigenes Haus gebaut, ein schickes Auto gekauft bzw. einen entsprechenden materiellen Wohlstand verschafft hat, weiß, „wofür er/sie gearbeitet hat“.
Erich Fromm spricht in diesem Zusammenhang von einer Kultur des Habens anstatt des Seins. Herbert Marcuse, auch ein Theoretiker der Frankfurter Schule (er ist wie Fromm kein Anarchist), hat dieses Phänomen folgendermaßen erklärt: „Die sogenannte Konsumentenökonomie und die Politik des korporativen Kapitalismus haben eine zweite Natur der Menschen erzeugt, die sie libidinös und aggressiv an die Warenform bindet. Das Bedürfnis, technische Gebrauchs- artikel, Apparate, Instrumente und Maschinen zu besitzen, zu konsumieren, zu bedienen und dauernd zu erneuern, Waren, die den Leuten angeboten und aufgedrängt werden, damit sie diese selbst bei Gefahr ihrer eigenen Zerstörung gebrauchen, ist zu einem "biologischen" Bedürfnis im soeben definierten Sinn geworden. Die zweite Natur des Menschen widersetzt sich jeder Veränderung, welche diese Abhängigkeit der Menschen von einem immer dichter mit Handelsartikeln gefüllten Markt sprengte oder vielleicht abschaffte – seine Existenz als Konsument aufhöbe, der sich im Kaufen und Verkaufen selbst konsumiert. Die von diesem System geschaffenen Bedürfnisse sind deshalb stabilisierende, konservative Bedürfnisse: die Konterrevolution ist in der Triebstruktur verankert.“ (aus: „Versuch über die Befreiung“)

Offensichtlich verbinden wir unterschiedliche Bedürfnisse, die besser getrennt betrachtet werden sollten: die Bedürfnisse der notwendigen Konsumgüter, um das Leben abzusichern und angenehm zu gestalten und die sozialen Bedürfnisse nach Glück, Sicherheit, Anerkennung (oder Selbstbestätigung), menschlicher Nähe und Liebe. Unser Wirtschaftssystem hat es „geschafft“, beide Bedürfnisse miteinander zu koppeln. Das setzt eine enorme Dynamik frei, da der Kapitalismus durch seine gesellschaftlichen Bedingungen die Bedürfnisse freisetzt, die der Mensch durch ihn befriedigt haben will. Beispiel Internet: die Menschen vereinsamen durch die (post-) modernen Lebensbedingungen immer mehr und durch ihre Beschäftigung am PC. Dadurch entsteht das Bedürfnis, mit anderen in Kontakt zu treten, um eine Vereinsamung zu verhindern. Beispiel Auto: viele Menschen kaufen sich ein Auto, um damit mobil, d.h. „frei“ zu sein. Der Preis, den sie dafür zahlen, ist die überwiegende Zeit ihrer Unfreiheit am Arbeitsplatz. Dadurch entsteht ein Teufelskreis.

Das Eklatante an diesem Teufelskreis ist der Spaß, mit dem diese Gesellschaft ihren Untergang zelebriert. Es macht Spaß, Auto zu fahren, in Urlaub zu fliegen, nach der Arbeit einen Fernsehabend mit Soap-Operas zu verbringen, im Internet zu surfen, Produkte aus der Dritten Welt zu konsumieren, etc. Alles bereitet uns Spaß, was unseren materiellen Wohlstand und damit uns aufbaut; egal ob auf Kosten der Menschen in der sog. Dritten Welt, der Umwelt oder anderen Menschen. Das bekommen wir oftmals nicht mit oder wir verdrängen es.

Wer es mitbekommt, der/die kann versuchen, mit einem schlechten Gewissen nur noch im Bioläden einzukaufen und sich seine ökologischen Nischen in dieser Gesellschaft suchen. Geht es um individuelle Lösungen? Geht es um Schuld? Geht es um Schadensbegrenzung? Welche Alternativen bestehen? Sind sie durchführbar? Der Philosoph Theodor W. Adorno hat zurecht gefragt: „Gibt es ein überhaupt richtiges Leben im falschen?“

Anarchistisch wirtschaften

Im Folgenden will ich versuchen, einen groben Überblick über anarchistisches Wirtschaften zu geben. Es gibt zu diesem Thema sehr umfangreiche Literatur, so dass es sehr schwer ist, das alles in der vorgegebenen Kürze zusammenzufassen. Zur weiteren Lektüre empfehle ich Kropotkins „Eroberung des Brotes“ oder aktuellere Literatur z.B. von Horst Stowasser.

AnarchistInnen gehen davon aus, dass zur Befriedigung der gesellschaftlich „notwendigen“ Bedürfnisse ein Vier-Stunden-Tag mehr als ausreichend ist. Der große Knackpunkt liegt in der Definition, welche gesellschaftlichen Bedürfnisse und Konsumgüter als „notwendig“ erachtet werden. Die Spannbreite reicht von Wasser und Brot bis zum Mikrowellenherd, vom Wollpullover zum Familienauto.

Der russische Anarchist Kropotkin hat in seinen Studien („Die Eroberung des Brotes“ u.a.) bereits einen möglichen Weg angedeutet, wie aus einer derartigen scheinbar unlösbaren „Notwendigkeitsdiskussion“ herauszufinden ist. Mittels der freien Vereinbarung sollen die Menschen demnach selbst vor Ort entscheiden, wieviel Arbeitszeit und -Kraft sie für Dinge investieren, die sie selbst als notwendig erachten. Während der Kapitalismus tagtäglich neue Bedürfnisse schafft und sich die Menschen die teilweise unsinnigsten, nutzlosesten Produkte kaufen, die ökologisch schädlich und vom Produktionsaufwand enorm sind, setzt der Anarchismus am anderen Ende an. Im konreten Beispiel würde das heißen: wenn es das Bedürfnis gibt, Mikrowellenherde zu produzieren, dann sollte dem gegenübergestellt werden, wieviel Arbeitszeit, Produktionsmittel und Arbeitskräfte zuzüglich nötiger Infrastruktur dafür aufgewendet werden soll. Zudem sollte ermittelt werden, in welchen Regionen der Bedarf an den gleichen Produkten besteht und ob es für die Einzelnen überhaupt die Mühe wert ist. Sollte das Resultat einer solchen Kosten-Nutzen-Rechnung im groben Missverhältnis zu dem stehen, was so ein Mikrowellenherd an Vorzügen besitzt, können es die Gemeinschaften immer noch überlegen, ob sich seine Herstellung lohnt. Die Nachfrage nach Luxusgütern, ökologisch fragwürdigen Produkten und aufwendigen Technologien würde sich damit relativieren. Natürlich ist es sinnvoll, wichtige Produktionsstätten im größeren Rahmen zu teilen und herauszufinden, in welchen Entfernungen sich ein Tausch-Handel lohnt. Die meisten Luxusgüter sind deshalb so begehrt, weil sie Statussymbole sind. Mode ist eine Strategie der Vermarktung und ganze Industriezweige sind darauf spezialisiert, schlichtweg unsinnige Produkte herzustellen. Durch deren Wegfall würden enorme Arbeitskräfte freigesetzt, die andere wirtschaftliche, soziale, ökologische Bereiche unterstützen könnten.

Natürlich arbeitet jede/r nach den eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten und auf „freiwilliger“ Basis. Diejenigen, die sich der Arbeit verweigerten, zeigen der Gesellschaft ihre „wunden“ Stellen auf. Kropotkin schreibt hierzu: „Wenn nun eine freie Gesellschaft die Zahl der Müßiggänger in ihrer Mitte zunehmen sähe, dann dächte sie deshalb zweifellos eher daran, die Ursachen der Faulheit zu untersuchen als auf Strafmassnahmen zu rekurrieren, um sie auszumerzen. (...) Unterdrücken wir die Ursachen der Faulheit, dann können wir überzeugt sein, dass es kaum noch Individuen geben wird, die die Arbeit und vor allem die freiwillige Arbeit wirklich hassen, und es wird nicht erforderlich sein, ein Arsenal von Gesetzen gegen die Faulheit aufzufahren.“

Miete, Steuern, Versicherungen etc. entfallen in der anarchistischen Wirtschaft, da es kein Privat-Eigentum an Produktionsmitteln gibt. Die Altersversorgung wird ebenso von der Gemeinschaft gesichert wie die Versorgung von Kranken und „Pflegefällen“. Geld würde abgeschafft werden, da es ein abstrakten Wert besitzt und es als Macht- bereicherungsmittel eingesetzt wird. Wenn ohnehin alle Menschen das (kostenlos) zur Verfügung gestellt bekommen, was sie zum täglichen Leben benötigen, dann hat Geld sowieso keine Bedeutung.

In Deutschland bestehen Kommunen, die eine Alters- absicherung für alle ihre Mitglieder in Aussicht stellt, so z.B. die Kommune Niederkaufungen, die ihren Ansatz beim Halbjahrestreffen der GRÜNEN LIGA vorgestellt hat. Im Falle von Warentausch mit fernen Gegenden ist es die Frage der Wertigkeit, der ethischen Vorsätze, ob man den Menschen etwas vom eigenen Überfluss abgibt - also im Miteinander denkt, als dafür im Gegenzug etwas haben zu wollen - also im Gegeneinander denkt.
Diese Denkstruktur ist gar nicht so abwegig, da die meisten von uns im privaten Rahmen auch dazu bereit sind, zu geben (sei es in Spendenform, Geschenken oder aus Hilfs- bereitschaft). Ferner bestehen hierzulande eine Reihe von halböffentlichen Tauschbörsen, die ohne Geld auskommen und unter dem Gedanken der gegenseitigen Hilfe stehen. Kropotkin ist der Meinung, dass sich die Menschen ohnehin ohne hierarchische Strukturen organisieren. Ein Beweis dafür liege in den zahlreichen sozialen Einrichtungen, die auf ehrenamtlicher, „freiwilliger“ Basis gegründet wurden. Auf unsere Situation als Umweltverband übertragen ist die GRÜNE LIGA in dieser Denktradition zu sehen. Wer sich die Grundsätze durchliest, entdeckt in dieser Struktur hierarchiefreie, gemeinschaftliche Ansätze.

Die Wege...

Während orthodoxe KommunistInnen über eine Diktatur des Proletariats zu einer befreiten Gesellschaft gelangen wollten, haben AnarchistInnen stets davor gewarnt. Der russische anarchistische Theoretiker und Weltenbummler Michail Bakunin (1814-76) kritisierte am marxschen Kommunismus: „ich verabscheue den Kommunismus, weil er die Negation der Freiheit ist, und weil ich mir nichts menschenwürdiges ohne Freiheit vorstellen kann.“ Während und nach der russischen Revolution sowie dem spanischen Bürgerkrieg sind viele AnarchistInnen wegen ihrer Kritik am Leninismus/Stalinismus in Arbeitslagern verschwunden und umgebracht worden. Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus hat ihnen letztendlich Recht gegeben. Peter Kropotkin schrieb dazu „die Bolschewiki haben demonstriert, wie man die Revolution nicht machen soll.“

AnarchistInnen vertreten die Ansicht, Veränderungen im Hier und Jetzt zu beginnen und gesellschaftliche Umbruch- situationen dafür zu nutzen, die Menschen für libertäre Ansätze zu gewinnen. Dafür ist es notwendig, schon vorher Strukturen zu bilden, in denen anarchistische Ansätze (vor-) gelebt und vermittelt werden. Eine Form der Organisierung sind die Räte, die – entgegen dem sowjetischen Modell – nicht staatsabhängig sondern „von unten“ gebildet und zurück „nach unten“ rechenschaftspflichtig sind. Historisch gesehen waren AnarchistInnen an der „Revolution“ von 1848 beteiligt (der Anarchist Michail Bakunin war militärischer Leiter der „provisiorischen Revolutionsregierung“ und als solcher verhaftet und verurteilt), sie organisierten Streiks und Aufstände, wie den der Pariser Commune, etc. Es waren beispielsweise in Spanien vor dem Bürgerkrieg über eine Millionen Menschen Mitglieder in der anarchistischen Gewerkschaft CNT (die kommunistische Partei zählte 3.000 Mitglieder). Während des spanischen Bürgerkrieges kontrollierte die CNT weite Teile des Landes, bevor sie militärisch unterlag.
Die bäuerliche anarchistische Machno-Bewegung in der Ukraine (1917-22) kontrollierte eine Region, in der mehr als sieben Millionen Menschen lebten. Sie richtete Räte ein, publizierte Zeitungen und das Privateigentum an Produktionsmitteln wurde aufgehoben. Anders als vor dem Zweiten Weltkrieg besitzen die europäischen Länder heute keine anarchistische „Tradition“ mehr, die sich hätte im größeren Maßstab fortentwickeln können. Die totalitären Regierungen haben die anarchistischen Bewegungen zerstört und die meisten ihrer ProtagonistInnen eingesperrt bzw. umgebracht. Prominente AnarchistInnen sind u.a. Wassily Kandinski, Leo Tolstoi, Oscar Wilde, William Blake, Edvard Munch und Franz Kafka.

Anarchistische Ansätze sind in der weltweiten StudentInnen- bewegung von 1968 aufgegriffen worden und im „kleinen Rahmen“ in der Kommunebewegung ausprobiert worden. Die Idee, gemeinsam zu wirtschaften, libertäre Strukturen (vor-) zu leben und das Eigentumsdenken in Frage zu stellen, wird auch heute noch in zahlreichen Kommunen weitergeführt. Die anarchistische Bewegung (sofern von einer „Bewegung“ zu sprechen ist) ist heutzutage vielfältig und heterogen. Es gibt AnarchosyndikalistInnen, die in der anarchistischen Gewerkschaft FAU organisiert sind; Bibliotheken und Infozentren; es gibt Jugendliche in bunter Coleur, die sich AnarchistInnen nennen; ferner existiert eine Graswurzel- bewegung, die einen pazifistisch-gewaltfreien Ansatz praktiziert; es gibt autonome AnarchistInnen, die innerhalb der autonomen Szene agieren und Menschen in Kommunen, die sich als anarchistisch einstufen... Genauso heterogen wie die Bewegung sind ihre Ansätze. Während die FAU ihren Schwerpunkt auf gewerkschaftliche Tätigkeiten legt, setzt sich die Graswurzelbewegung für antimilitaritische Projekte ein, autonome AnarchistInnen propagieren die direkte Aktion vor Ort und es bestehen an vielen Orten anarchistische Infoblätter, Veranstaltungen und Aktionen zu tagespolitischen Auseinandersetzungen (z.B. Internationalismus, Castor, Mietpolitik, Gentechnik, Totalverweigerung, Rassismus, Geschlechterpolitik, etc.).

Die Außenwirkung ist sehr verhalten. In den Medien wird dieser Ansatz nur sehr wenig wahrgenommen. Viele AnarchistInnen kommen aus „ihren Kreisen“ wenig heraus an die Öffentlichkeit. Der Begriff Anarchismus lässt sich zudem schwer „vermarkten“, da er in der öffentlichen Diskussion durch Irreführungen und Anfeindungen diskreditiert wurde. Es ist sicherlich nicht die Absicht dieser Bewegung, die Menschheit zu „bekehren“ oder zu „agitieren“; das widerspricht ihrem freiheitlichen Ansatz der individuellen Selbstbestimmung. Vielmehr versucht sie sich in tagespolitische Diskussionen einzumischen, Strukturen aufzubauen und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit haben gezeigt, dass in Krisenzeiten Chancen für eine Offenheit in der Bevölkerung bestehen. Ob die anarchistische Bewegung (zahlenmäßig und qualitativ) stark genug sein wird, sie zu nutzen, bleibt offen. Darauf und auf ihre möglichen Anknüpfungspunkte werde ich u.a. im dritten Teil dieser Trilogie eingehen.

 

Oliver C. Pfannenstiel
von der Redaktion des 'Alligator'
Zeitung der Grünen Liga: www.grueneliga.de

 

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