Diese Folge beginnt mit einem LeserInnenbrief und
beschäftigt sich u.a. mit anarchistischem Wirtschaften
Sehr geehrter Herr Pfannenstiel,
ich habe mit Interesse Ihren Artikel „Was ist eigentlich
Anarchismus?“ (Alligator 11/2000) gelesen. Ich glaube auch,
dass alternative Lebensformen zu wünschen sind, bin
allerdings skeptisch, dass Anarchismus eine brauchbare
Alternative sei. Wenn ein „jeder nach seinem Sinn lebt“,
dann ist leider Tür und Tor zum Missbrauch geöffnet. Zum
Beispiel, jeder fährt über eine rote Ampel, wenn es ihm
Spass macht, egal, ob andere dabei gefährdet sind oder
nicht. Deswegen sind gewisse Spielregeln notwendig. Auch
wollen die meisten Menschen vor willkürlichem Ausschmiss
aus der Wohnung oder einem von ihnen mühsam
bearbeiteten Kleinbetrieb geschützt werden. Deswegen wird
Besitz so vehement verteidigt. Im kleinen ist es legitim. Und
die meisten Menschen gehen leider nicht so rücksichtsvoll
miteinander um, wie eine Gesellschaft ganz ohne Hierarchie
es verlangt.
Auch bei komplizierteren Projekten geht nichts
voran, wenn nicht ab und zu eine Entscheidung getroffen
wird, auch wenn nicht alle Feuer und Flamme dafür sind.
Bisher hat der traditionelle Anarchismus keine Lösung für
diese Fälle geboten. Deswegen finde ich die Wahl des
Wortes für den Begriff „alternative Lebensformen“ etwas
unglücklich. Es bleibt dann die schwierige Frage, welches
Ausmass die Autorität annimmt. Hierfür habe ich auch keine
Antwort.
Bezüglich der Verknüpfung mit der Wirtschaft empfehle ich
das Buch „When Corporations Rule the World“ von David
Korten (Buchbesprechung im Alligator 5/1996).
Dr. Edith Borie
Karlsruhe, 10.12.2000
Sehr geehrte Frau Dr. Borie,
vielen Dank für Ihr Interesse an meinem Artikel. Sie haben in
Ihrem Leserbrief einige wichtige Fragen aufgeworfen, die sich
in der Kürze leider nur knapp beantworten lassen. Mit
meiner Trilogie zum Thema Anarchismus geht es mir eben
auch darum, dieses Thema zur Diskussion zu stellen. Was
ich nicht liefern will und kann, sind vorgefertigte Antworten
bezüglich konkreter alternativer Lebensentwürfe.
In meiner Eigenschaft als Politologe bin ich gegenüber
jeglichen Ansätzen sehr kritisch eingestellt, die den
Menschen alles auf einmal versprechen. Ich denke, viele
Wege führen nach Rom. Einer davon mag der Anarchismus
sein. Unser jetziges Gesellschaftssystem hat sich für mich
als unbrauchbar erwiesen; es wird uns in spätestens 60-100
Jahren (laut aktuellen Aussagen von Steven Hawking) in eine
soziale und ökologische Katastrophe führen, die schon
längst ihre Anfänge hinter sich hat. Wir haben innerhalb von
knapp 200 Jahren Industriegesellschaft das geschafft, was
vor uns die Menschheit nicht in 10.000 Jahren vollzogen hat:
keine andere Gesellschaftsform hat den Planeten und damit
sich selbst dermaßen zerstört. Es ist erforderlich, nach
alternativen Wegen zu suchen, seien sie noch so
beschwerlich.
Die Organisierung von Macht und Wirtschaft sind zentrale
Aspekte, die verändert werden müssen. Das hat sich der
Anarchismus zur Aufgabe gemacht. Deshalb erachte ich es
für wichtig, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Ob bzw. an
welchen Stellen er sich als „brauchbar“ im Sinne einer sozial
gerechten, ökologisch verträglichen Gesellschaft erweist,
kann letztendlich nur die Praxis zeigen.
Der Anarchismus kann zweifelsohne als „alternative
Lebensform“ gesehen werden, da er historisch in
unterschiedlichen Regionen – meist in gesellschaftlichen
Umbruchphasen – „ausprobiert“ wurde, sei es in der Pariser
Commune, in „befreiten Gebieten“ während des spanischen
Bürgerkrieges (1934-36), in der deutschen Räterepublik
1919, in der Ukraine zwischen 1918 und 1921
(Machno-Bewegung), in Kronstadt 1919 oder in den
unzähligen Kommuneprojekten, die bis heute weltweit
existierten und immer noch bestehen. In diesen aufgrund
militärischer Interventionen teilweise kurzlebigen Phasen
haben die Menschen viel herumexperimentiert. Letztendlich
drehte es sich um die Fragen der gesellschaftlichen
Machtverteilung, der Mitbestimmung, Güterverteilung und
auch der Ethik. Ihre Aussage, dass „jeder nach seinem
Sinne lebt“, d.h. egoistische Motive verfolgt, um u.U.
anderen damit zu schaden, konnte ich bisher der
anarchistischen Literatur oder den libertären Projekten nicht
entnehmen.
Ebensowenig, dass der Anarchismus eine verbindliche
Organisierung von gesellschaftlich notwendiger Arbeit
ablehnen würde. Egoistisches, aneignendes Verhalten liegt
dem Anarchismus zufolge nicht in der Natur des Menschen,
sondern ist ein logisches Resultat unserer Sozialisation. Es
ist weiterhin ein weit verbreitetes Missverständnis, das Wort
Anarchie mit „Chaos“ oder „Gesetzlosigkeit“ zu übersetzen.
Es heißt wörtlich „Abwesenheit von Herrschaft“. Dass dieser
Zustand durchaus eine gesellschaftliche Ordnung und
verbindliche Struktur beinhalten kann, ist ein zentraler
Aspekt der anarchistischen Theorie.
Der Dichter und Anarchist Erich Mühsam schreibt in diesem
Zusammenhang:
„Wo Zentralismus, also die Regelung der Dinge nach
obrigkeitlichen Anweisungen, waltet, unterliegen die
Gesichtspunkte des gesellschaftlichen Handelns den
wechselnden Nutzzwecken der Macht (...). Das
Ineinander- greifen der schaffenden Kräfte, die das einzige
Merkmal lebendiger Ordnung sind, wird zur mechanischen
Geschäftigkeit, zum Zwangsdienst zusammenhangsloser
Leistungen verdorben. Zusammenhangslosigkeit ist aber das
Gegenteil von Ordnung, nämlich Unterordnung, Drill, Zucht,
Unfreiheit, Knechtschaft. Eine geordnete Gesellschaft
besteht durch verbundenen Willen der Menschen zur
Erfüllung einheitlich erkannter, gemeinsamer Aufgaben,
setzt also Gleichheit, Gegenseitigkeitsverpflichtung und
soziales Verantwortungsbewußtsein jedes einzelnen voraus.
Mit einem Wort: Ordnung im Sinne anarchistischer
Auffassung kann nur wachsen aus der Selbstbestimmung
derer, die Ordnung halten sollen. Ordnung aus
Selbstbestimmung ist gleichbedeutend mit gesellschaftlicher
Freiheit.“ (aus: „Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat“)
Je mehr Verantwortung die Menschen an andere delegieren,
umso unmündiger werden sie, Selbstbestimmung über ihr
Leben zu praktizieren. Letztendlich entscheiden die
Bürokratie und der Markt über wichtige Bereiche unseres
Lebens. Wir geben „freiwillig“ Macht an uns fremde
Institutionen ab, ohne dass wir gefragt werden. Wir können
lediglich eine politische Partei wählen, nicht aber, ob wir mit
dem ganzen System zufrieden sind. Das legt der
Gesellschaftsvertrag („Contract sociale“) fest, auf dem
unsere Gesellschaft basiert. Der Anarchismus versucht
jenseits dieses Gesellschaftsvertrages nach Alternativen zu
suchen. Ein derartiges Bestreben verlangt ein kritisches
Bewusstsein gegenüber dem Bestehenden, von gewohnten
Denk- und Verhaltensweisen loslassen zu können und offen
zu sein für Veränderungen.
Ich hoffe, Frau Dr. Borie, einigermaßen auf Ihre Kritik
eingegangen zu sein. Einiges vom bereits Angesprochenen
wird im Fortfolgenden thematisiert.
Der Untergang der Spaßkultur
In diesem Teil will ich im knappen Umfang auf die Frage
eingehen, ob der Anarchismus mit seinen
Wirtschafts- konzepten im Zeitalter von Internet, Gentechnik
und Cyberspace zeitgemäße Lösungen anbietet. Wir leben
in hochtechnisierten westlichen Industriestaaten, in denen
jeden Tag durch eine enorme Arbeitsleistung Berge von
Konsumgütern produziert werden, die nicht nur das (Über-)
Leben sichern, sondern dazu beitragen sollen, ihm einen
„Sinn“ zu geben. Wer sich bereits ein eigenes Haus gebaut,
ein schickes Auto gekauft bzw. einen entsprechenden
materiellen Wohlstand verschafft hat, weiß, „wofür er/sie
gearbeitet hat“.
Erich Fromm spricht in diesem Zusammenhang von einer
Kultur des Habens anstatt des Seins. Herbert Marcuse,
auch ein Theoretiker der Frankfurter Schule (er ist wie
Fromm kein Anarchist), hat dieses Phänomen
folgendermaßen erklärt: „Die sogenannte
Konsumentenökonomie und die Politik des korporativen
Kapitalismus haben eine zweite Natur der Menschen
erzeugt, die sie libidinös und aggressiv an die Warenform
bindet. Das Bedürfnis, technische Gebrauchs- artikel,
Apparate, Instrumente und Maschinen zu besitzen, zu
konsumieren, zu bedienen und dauernd zu erneuern, Waren,
die den Leuten angeboten und aufgedrängt werden, damit
sie diese selbst bei Gefahr ihrer eigenen Zerstörung
gebrauchen, ist zu einem "biologischen" Bedürfnis im
soeben definierten Sinn geworden. Die zweite Natur des
Menschen widersetzt sich jeder Veränderung, welche diese
Abhängigkeit der Menschen von einem immer dichter mit
Handelsartikeln gefüllten Markt sprengte oder vielleicht
abschaffte – seine Existenz als Konsument aufhöbe, der
sich im Kaufen und Verkaufen selbst konsumiert. Die von
diesem System geschaffenen Bedürfnisse sind deshalb
stabilisierende, konservative Bedürfnisse: die
Konterrevolution ist in der Triebstruktur verankert.“ (aus:
„Versuch über die Befreiung“)
Offensichtlich verbinden wir unterschiedliche Bedürfnisse,
die besser getrennt betrachtet werden sollten: die
Bedürfnisse der notwendigen Konsumgüter, um das Leben
abzusichern und angenehm zu gestalten und die sozialen
Bedürfnisse nach Glück, Sicherheit, Anerkennung (oder
Selbstbestätigung), menschlicher Nähe und Liebe. Unser
Wirtschaftssystem hat es „geschafft“, beide Bedürfnisse
miteinander zu koppeln. Das setzt eine enorme Dynamik
frei, da der Kapitalismus durch seine gesellschaftlichen
Bedingungen die Bedürfnisse freisetzt, die der Mensch
durch ihn befriedigt haben will. Beispiel Internet: die
Menschen vereinsamen durch die (post-) modernen
Lebensbedingungen immer mehr und durch ihre
Beschäftigung am PC. Dadurch entsteht das Bedürfnis, mit
anderen in Kontakt zu treten, um eine Vereinsamung zu
verhindern. Beispiel Auto: viele Menschen kaufen sich ein
Auto, um damit mobil, d.h. „frei“ zu sein. Der Preis, den sie
dafür zahlen, ist die überwiegende Zeit ihrer Unfreiheit am
Arbeitsplatz. Dadurch entsteht ein Teufelskreis.
Das Eklatante an diesem Teufelskreis ist der Spaß, mit dem
diese Gesellschaft ihren Untergang zelebriert. Es macht
Spaß, Auto zu fahren, in Urlaub zu fliegen, nach der Arbeit
einen Fernsehabend mit Soap-Operas zu verbringen, im
Internet zu surfen, Produkte aus der Dritten Welt zu
konsumieren, etc. Alles bereitet uns Spaß, was unseren
materiellen Wohlstand und damit uns aufbaut; egal ob auf
Kosten der Menschen in der sog. Dritten Welt, der Umwelt
oder anderen Menschen. Das bekommen wir oftmals nicht
mit oder wir verdrängen es.
Wer es mitbekommt, der/die kann versuchen, mit einem
schlechten Gewissen nur noch im Bioläden einzukaufen und
sich seine ökologischen Nischen in dieser Gesellschaft
suchen. Geht es um individuelle Lösungen? Geht es um
Schuld? Geht es um Schadensbegrenzung? Welche
Alternativen bestehen? Sind sie durchführbar? Der Philosoph
Theodor W. Adorno hat zurecht gefragt: „Gibt es ein
überhaupt richtiges Leben im falschen?“
Anarchistisch wirtschaften
Im Folgenden will ich versuchen, einen groben Überblick
über anarchistisches Wirtschaften zu geben. Es gibt zu
diesem Thema sehr umfangreiche Literatur, so dass es sehr
schwer ist, das alles in der vorgegebenen Kürze
zusammenzufassen. Zur weiteren Lektüre empfehle ich
Kropotkins „Eroberung des Brotes“ oder aktuellere Literatur
z.B. von Horst Stowasser.
AnarchistInnen gehen davon aus, dass zur Befriedigung der
gesellschaftlich „notwendigen“ Bedürfnisse ein
Vier-Stunden-Tag mehr als ausreichend ist. Der große
Knackpunkt liegt in der Definition, welche gesellschaftlichen
Bedürfnisse und Konsumgüter als „notwendig“ erachtet
werden. Die Spannbreite reicht von Wasser und Brot bis
zum Mikrowellenherd, vom Wollpullover zum Familienauto.
Der russische Anarchist Kropotkin hat in seinen Studien
(„Die Eroberung des Brotes“ u.a.) bereits einen möglichen
Weg angedeutet, wie aus einer derartigen scheinbar
unlösbaren „Notwendigkeitsdiskussion“ herauszufinden ist.
Mittels der freien Vereinbarung sollen die Menschen
demnach selbst vor Ort entscheiden, wieviel Arbeitszeit und
-Kraft sie für Dinge investieren, die sie selbst als notwendig
erachten. Während der Kapitalismus tagtäglich neue
Bedürfnisse schafft und sich die Menschen die teilweise
unsinnigsten, nutzlosesten Produkte kaufen, die ökologisch
schädlich und vom Produktionsaufwand enorm sind, setzt
der Anarchismus am anderen Ende an. Im konreten Beispiel
würde das heißen: wenn es das Bedürfnis gibt,
Mikrowellenherde zu produzieren, dann sollte dem
gegenübergestellt werden, wieviel Arbeitszeit,
Produktionsmittel und Arbeitskräfte zuzüglich nötiger
Infrastruktur dafür aufgewendet werden soll. Zudem sollte
ermittelt werden, in welchen Regionen der Bedarf an den
gleichen Produkten besteht und ob es für die Einzelnen
überhaupt die Mühe wert ist. Sollte das Resultat einer
solchen Kosten-Nutzen-Rechnung im groben Missverhältnis
zu dem stehen, was so ein Mikrowellenherd an Vorzügen
besitzt, können es die Gemeinschaften immer noch
überlegen, ob sich seine Herstellung lohnt. Die Nachfrage
nach Luxusgütern, ökologisch fragwürdigen Produkten und
aufwendigen Technologien würde sich damit relativieren.
Natürlich ist es sinnvoll, wichtige Produktionsstätten im
größeren Rahmen zu teilen und herauszufinden, in welchen
Entfernungen sich ein Tausch-Handel lohnt. Die meisten
Luxusgüter sind deshalb so begehrt, weil sie Statussymbole
sind. Mode ist eine Strategie der Vermarktung und ganze
Industriezweige sind darauf spezialisiert, schlichtweg
unsinnige Produkte herzustellen. Durch deren Wegfall
würden enorme Arbeitskräfte freigesetzt, die andere
wirtschaftliche, soziale, ökologische Bereiche unterstützen
könnten.
Natürlich arbeitet jede/r nach den eigenen Fähigkeiten und
Fertigkeiten und auf „freiwilliger“ Basis. Diejenigen, die sich
der Arbeit verweigerten, zeigen der Gesellschaft ihre
„wunden“ Stellen auf. Kropotkin schreibt hierzu: „Wenn nun
eine freie Gesellschaft die Zahl der Müßiggänger in ihrer
Mitte zunehmen sähe, dann dächte sie deshalb zweifellos
eher daran, die Ursachen der Faulheit zu untersuchen als
auf Strafmassnahmen zu rekurrieren, um sie auszumerzen.
(...) Unterdrücken wir die Ursachen der Faulheit, dann
können wir überzeugt sein, dass es kaum noch Individuen
geben wird, die die Arbeit und vor allem die freiwillige Arbeit
wirklich hassen, und es wird nicht erforderlich sein, ein
Arsenal von Gesetzen gegen die Faulheit aufzufahren.“
Miete, Steuern, Versicherungen etc. entfallen in der
anarchistischen Wirtschaft, da es kein Privat-Eigentum an
Produktionsmitteln gibt. Die Altersversorgung wird ebenso
von der Gemeinschaft gesichert wie die Versorgung von
Kranken und „Pflegefällen“. Geld würde abgeschafft werden,
da es ein abstrakten Wert besitzt und es als
Macht- bereicherungsmittel eingesetzt wird. Wenn ohnehin
alle Menschen das (kostenlos) zur Verfügung gestellt
bekommen, was sie zum täglichen Leben benötigen, dann
hat Geld sowieso keine Bedeutung.
In Deutschland bestehen Kommunen, die eine
Alters- absicherung für alle ihre Mitglieder in Aussicht stellt,
so z.B. die Kommune Niederkaufungen, die ihren Ansatz
beim Halbjahrestreffen der GRÜNEN LIGA vorgestellt hat. Im
Falle von Warentausch mit fernen Gegenden ist es die Frage
der Wertigkeit, der ethischen Vorsätze, ob man den
Menschen etwas vom eigenen Überfluss abgibt - also im
Miteinander denkt, als dafür im Gegenzug etwas haben zu
wollen - also im Gegeneinander denkt.
Diese Denkstruktur ist gar nicht so abwegig, da die meisten
von uns im privaten Rahmen auch dazu bereit sind, zu
geben (sei es in Spendenform, Geschenken oder aus
Hilfs- bereitschaft). Ferner bestehen hierzulande eine Reihe
von halböffentlichen Tauschbörsen, die ohne Geld
auskommen und unter dem Gedanken der gegenseitigen
Hilfe stehen. Kropotkin ist der Meinung, dass sich die
Menschen ohnehin ohne hierarchische Strukturen
organisieren. Ein Beweis dafür liege in den zahlreichen
sozialen Einrichtungen, die auf ehrenamtlicher, „freiwilliger“
Basis gegründet wurden. Auf unsere Situation als
Umweltverband übertragen ist die GRÜNE LIGA in dieser
Denktradition zu sehen. Wer sich die Grundsätze durchliest,
entdeckt in dieser Struktur hierarchiefreie, gemeinschaftliche
Ansätze.
Die Wege...
Während orthodoxe KommunistInnen über eine Diktatur des
Proletariats zu einer befreiten Gesellschaft gelangen wollten,
haben AnarchistInnen stets davor gewarnt. Der russische
anarchistische Theoretiker und Weltenbummler Michail
Bakunin (1814-76) kritisierte am marxschen Kommunismus:
„ich verabscheue den Kommunismus, weil er die Negation
der Freiheit ist, und weil ich mir nichts menschenwürdiges
ohne Freiheit vorstellen kann.“ Während und nach der
russischen Revolution sowie dem spanischen Bürgerkrieg
sind viele AnarchistInnen wegen ihrer Kritik am
Leninismus/Stalinismus in Arbeitslagern verschwunden und
umgebracht worden. Der Zusammenbruch des real
existierenden Sozialismus hat ihnen letztendlich Recht
gegeben. Peter Kropotkin schrieb dazu „die Bolschewiki
haben demonstriert, wie man die Revolution nicht machen
soll.“
AnarchistInnen vertreten die Ansicht, Veränderungen im Hier
und Jetzt zu beginnen und gesellschaftliche
Umbruch- situationen dafür zu nutzen, die Menschen für
libertäre Ansätze zu gewinnen. Dafür ist es notwendig,
schon vorher Strukturen zu bilden, in denen anarchistische
Ansätze (vor-) gelebt und vermittelt werden. Eine Form der
Organisierung sind die Räte, die – entgegen dem
sowjetischen Modell – nicht staatsabhängig sondern „von
unten“ gebildet und zurück „nach unten“
rechenschaftspflichtig sind. Historisch gesehen waren
AnarchistInnen an der „Revolution“ von 1848 beteiligt (der
Anarchist Michail Bakunin war militärischer Leiter der
„provisiorischen Revolutionsregierung“ und als solcher
verhaftet und verurteilt), sie organisierten Streiks und
Aufstände, wie den der Pariser Commune, etc. Es waren
beispielsweise in Spanien vor dem Bürgerkrieg über eine
Millionen Menschen Mitglieder in der anarchistischen
Gewerkschaft CNT (die kommunistische Partei zählte 3.000
Mitglieder). Während des spanischen Bürgerkrieges
kontrollierte die CNT weite Teile des Landes, bevor sie
militärisch unterlag.
Die bäuerliche anarchistische Machno-Bewegung in der
Ukraine (1917-22) kontrollierte eine Region, in der mehr als
sieben Millionen Menschen lebten. Sie richtete Räte ein,
publizierte Zeitungen und das Privateigentum an
Produktionsmitteln wurde aufgehoben. Anders als vor dem
Zweiten Weltkrieg besitzen die europäischen Länder heute
keine anarchistische „Tradition“ mehr, die sich hätte im
größeren Maßstab fortentwickeln können. Die totalitären
Regierungen haben die anarchistischen Bewegungen
zerstört und die meisten ihrer ProtagonistInnen eingesperrt
bzw. umgebracht. Prominente AnarchistInnen sind u.a.
Wassily Kandinski, Leo Tolstoi, Oscar Wilde, William
Blake, Edvard Munch und Franz Kafka.
Anarchistische Ansätze sind in der weltweiten
StudentInnen- bewegung von 1968 aufgegriffen worden und im
„kleinen Rahmen“ in der Kommunebewegung ausprobiert
worden. Die Idee, gemeinsam zu wirtschaften, libertäre
Strukturen (vor-) zu leben und das Eigentumsdenken in
Frage zu stellen, wird auch heute noch in zahlreichen
Kommunen weitergeführt. Die anarchistische Bewegung
(sofern von einer „Bewegung“ zu sprechen ist) ist heutzutage
vielfältig und heterogen. Es gibt AnarchosyndikalistInnen, die
in der anarchistischen Gewerkschaft FAU organisiert sind;
Bibliotheken und Infozentren; es gibt Jugendliche in bunter
Coleur, die sich AnarchistInnen nennen; ferner existiert eine
Graswurzel- bewegung, die einen pazifistisch-gewaltfreien
Ansatz praktiziert; es gibt autonome AnarchistInnen, die
innerhalb der autonomen Szene agieren und Menschen in
Kommunen, die sich als anarchistisch einstufen... Genauso
heterogen wie die Bewegung sind ihre Ansätze. Während
die FAU ihren Schwerpunkt auf gewerkschaftliche
Tätigkeiten legt, setzt sich die Graswurzelbewegung für
antimilitaritische Projekte ein, autonome AnarchistInnen
propagieren die direkte Aktion vor Ort und es bestehen an
vielen Orten anarchistische Infoblätter, Veranstaltungen und
Aktionen zu tagespolitischen Auseinandersetzungen (z.B.
Internationalismus, Castor, Mietpolitik, Gentechnik,
Totalverweigerung, Rassismus, Geschlechterpolitik, etc.).
Die Außenwirkung ist sehr verhalten. In den Medien wird
dieser Ansatz nur sehr wenig wahrgenommen. Viele
AnarchistInnen kommen aus „ihren Kreisen“ wenig heraus
an die Öffentlichkeit. Der Begriff Anarchismus lässt sich
zudem schwer „vermarkten“, da er in der öffentlichen
Diskussion durch Irreführungen und Anfeindungen
diskreditiert wurde. Es ist sicherlich nicht die Absicht dieser
Bewegung, die Menschheit zu „bekehren“ oder zu
„agitieren“; das widerspricht ihrem freiheitlichen Ansatz der
individuellen Selbstbestimmung. Vielmehr versucht sie sich
in tagespolitische Diskussionen einzumischen, Strukturen
aufzubauen und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Die
Erfahrungen aus der Vergangenheit haben gezeigt, dass in
Krisenzeiten Chancen für eine Offenheit in der Bevölkerung
bestehen. Ob die anarchistische Bewegung (zahlenmäßig
und qualitativ) stark genug sein wird, sie zu nutzen, bleibt
offen. Darauf und auf ihre möglichen Anknüpfungspunkte
werde ich u.a. im dritten Teil dieser Trilogie eingehen.
Oliver C. Pfannenstiel
von der Redaktion des 'Alligator'
Zeitung der Grünen Liga: www.grueneliga.de
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