Der dritte und letzte Teil dieser Trilogie beschäftigt
sich mit der Frage, ob Anarchismus ein zeitgemäßer
Ansatz ist
“Die Aufgabe einer herrschaftslosen Gesellschaft ist es,
allen aus verschiedenen Formen von Unterdrückung
entstandenen Wünschen, Hoffnungen und Utopien Raum
nebeneinander zu geben. Eine herrschaftslose Gesellschaft
wird - und das sei auch in aller Deutlichkeit gesagt - mit
einem Paradies auf Erden nicht viel zu tun haben: Sie kann
erkennbare, fassbare, greifbare Widersprüche auflösen, sie
kann Unterdrückung, egal welcher Art, die viele Menschen
erfahren und ausformulieren, beseitigen. Und nur das. Sie ist
keine Lizenz und schon gar keine Garantie zum
Glücklichsein. Das ist nicht alles? Das mag sein. Es ist
aber das, was möglich und machbar scheint.” (Aus: 'trend' -
onlinezeitung für die alltägliche Wut Nr. 6/1998)
Konkrete Entwürfe, die sich auf die jetzige gesellschaftliche
Situation anwenden lassen, gibt der Anarchismus nur wenig
her. Das ist auch nicht seine Absicht, da die betreffenden
Menschen vor Ort selbst entscheiden sollen, wie sie
bestimmte herrschaftsfreie Ansätze umsetzen wollen und
können. Die entsprechenden “Vorgaben” -
Hierarchielosigkeit, Gemeinschaftlichkeit bei gleichzeitiger
Autonomie des/der Einzelnen, ökologisch sinnvolles
Handeln, Abschaffung des Staates, des Geldes, des Militär,
der Nation, des Privateigentums an Produktionsmitteln
sowie der Bürokratie und ein vier-Stunden-Arbeitstag zur
Produktion “sinnvoller” Produkte (siehe Teil 1 & 2 dieser
Trilogie) - sollen als anarchistische Prinzipien Einzug in die
Köpfe und in den Alltag der Menschen bekommen. Starre
“Konstruktionspläne” einer herrschaftsfreien Gesellschaft
wären demnach ein Widerspruch in sich selbst: zu
unterschiedlich sind die Menschen und die Bedingungen, in
denen wir in den jeweiligen Regionen leben. Der
Anarchismus ist deshalb als eine Art Prinzip zu begreifen,
das einem die Möglichkeit verschaffen kann, “anders” zu
wirtschaften, hierarchiefrei miteinander umzugehen und
andere Lebewesen zu respektieren. Er ist nicht (wie der
“realexistierende Sozialismus”) im Übergang eines
absterbenden Staates und einer “Diktatur des Proletariats”
zu begreifen, sondern versucht, ohne “Übergangsphasen”
eine herrschaftslose Gesellschaft zu errichten. Das alles ist
dem Anarchismus sicherlich gutzuhalten. Doch der Weg
dorthin wirft viele Fragen auf.
Wie kommt der Knochen zum Hund?
Es stellt sich die Gretchenfrage, wie so ein Bewußtsein
“unter die Leute zu bringen” ist. Ansätze dazu gibt es in der
anarchistischen Bewegung viele. Sehr fruchtbar sind sie
jedoch nicht. Es gibt Kommunen, die versuchen
anarchistische Prinzipien umzusetzen und “vorzuleben”.
Manche von ihnen veranstalten Infotouren durch die BRD
oder diskutieren auf dem Halbjahrestreffen der GRÜNEN
LIGA. Anarchistische Publikationen wie die
“Graswurzelrevolution” oder der “Schwarze Faden” erreichen
nur wenige Menschen. Die anarchistische Literatur kennen
die wenigsten. George Orwells “Mein Katalonien” und H.M.
Enzensbergers “Der kurze Sommer der Anarchie” sind
gerade noch geläufig. Andere haben vielleicht Ken Loachs
Film “Land and Freedom” im Kino gesehen oder die
Anarcho-Brit-Pop-Band Chumbawamba im Radio gehört. Im
Internet gibt es neben www.anarchismus.de Webseiten wie
www.anarchie.de, die der Seriösität der Inhalte mehr
schaden als dass sie ihr nützen. Der Begriff Anarchismus ist
von Punks stark vereinnahmt worden. Nach anarchistischen
Prinzipien leben die allerwenigsten von ihnen. Die
anarchistische Subkultur mit ihren Anarcho-Punkbands,
Infoläden in (ehemals) besetzten Häusern und eigenen
Verhaltensregeln ist ein hilfloser Versuch meist
Jugendlicher, etwas Konstruktives aufzubauen. Wen spricht
diese Subkultur denn an? Der Anarchismus hat
Schwierigkeiten, über eine sehr eingleisige
Jugend- Protestbewegung hinauszukommen. Zwar gibt es in
vielen gesellschaftlichen Bereichen alte und junge
Menschen, die sich AnarchistInnen nennen, doch ist ihr
Aktionsradius gering.
Ein Ansatz wie der Anarchismus sollte für alle Menschen
zugänglich sein; egal ob für Reiche, Arme, Dicke, Dünne,
Schwarze, Weiße, Professorinnen, Punker oder
Klavierlehrer. Diese Offenheit - insofern sie denn vorhanden
ist - sollte nach außen getragen werden. Lediglich
gesellschaftlich ausgegrenzte Menschen anzusprechen,
grenzt den Aktionsradius ein und erhebt die anarchistische
Bewegung zu einer elitären (wenn auch marginalisierten)
Avantgarde. Das Schema arm-reich als alles erklärendes
Motiv für politisch-emanzipatorisches Handeln ist spätestens
seit der “Diktatur des Proletariats” längst überholt. Sich auf
soziale Konfliktfelder zu beziehen ist immer richtig. Das
alleine ist jedoch sehr einseitig und ausgrenzend gegenüber
anderen gesellschaftlichen Gruppen. Es bestehen weitaus
mehr soziale Schnittpunkte, als die Orientierung auf Geld,
Wohlstand und Armut.
Abschied vom Proletariat
Der traditionelle Anarchismus ist in einer Zeit aufgewachsen,
als die Grenzen zwischen oben und unten, zwischen
Industrieproletariat und der Oberschicht klar definiert waren.
Die Menschen waren auf der Straße und während der Arbeit
besser ansprechbar als heute. Die Individualisierung und das
Konsumverhalten waren lange nicht so ausgeprägt. Den
Menschen in Deutschland ging es wirtschaftlich gesehen
schlechter als heute. Ihre “Bedürfnisstrukturen” waren längst
nicht so komplex wie 100 bis 200 Jahre später.
Es war damals keine Seltenheit, dass sich Menschen nach
der Arbeit zusammensetzten, um
anarchistische/sozialistische Publikationen zu lesen und zu
diskutieren. Die materielle Not und ein gewisses Interesse
trieb ArbeiterInnen in solche Gruppen und Organisationen.
Sie erkämpften in Streiks und anderen Aktionen viele
Verbesserungen, die wir heute als selbstverständlich
betrachten. Ohne die Aktivitäten der sozialen Bewegungen
(Gewerkschaften, Jugendbewegungen, Frauenbewegung,
1968er Revolte, etc.) würden wir heute wahrscheinlich die
gesetzlich vorgeschriebene 60-Std. Woche arbeiten, hätten
keine gesetzliche Kranken- und Sozialversicherung, Frauen
hätten viel weniger Zugang zu Bildungseinrichtungen und
bestimmten Jobs, usw. Das sind alles keine
Selbstverständlichkeiten unserer Industriegesellschaft,
sondern wurde zäh “von unten” durchgesetzt.
Bezüglich der ungerechten Eigentumsverhältnisse und der
sinnstiftenden Frage, wofür die Leute eigentlich arbeiten,
entstanden Anknüpfungspunkte an anarchistische Ideen
bzw. einer politischen Praxis. Doch auch die Solidarität war
ein Motiv, sich dem anzuschließen. Gerade die
“anarchistischen Köpfe” Kropotkin und Bakunin kamen aus
wohlhabenden adligen Verhältnissen und entschieden sich
für ein “armes aber ehrliches” Leben auf der Seite der
Marginalisierten (im Russland des späten 19. Jahrhunderts
taten das viele junge Adlige und Bürgerliche im Zuge der
nihilistischen Bewegung).
Wer zu den einkommensschwachen Menschen gehört, will
i.d.R. einen Stück vom großen Kuchen abhaben. Armut gibt
es auch in den Industriestaaten wie der BRD. Sie ist aber
lange nicht so existentiell wie in der sogenannten Dritten
Welt. Der anarchistische Slogan “Wohlstand für alle” zielt
knapp an dem vorbei, was sich die meisten Menschen
erträumen. Der Proletarier, insofern es ihn heute noch gibt,
träumt vom Einfamilienhaus, vom schnellen Auto und von
anderen Verheißungen der bunten Konsum- und Plüschwelt,
egal, welche Konsequenzen das für die Umwelt hat. (Die
größten Energieverschwender sind nach einer Studie der
Heinrich-Böll-Stiftung im privaten Bereich die
Einfamilienhäuser; insbesondere der Bauart bis in die 70er
Jahre.) In den heutigen Zeiten, in denen der Druck von unten
stark nachgelassen hat, werden die sozialen Bedingungen
ungleicher und an vielen Stellen verschlechtert. Das macht
sich nicht nur ökonomisch bemerkbar.
Aber: sind die Menschen trotz oder aufgrund ihres
materiellen Wohlstandes glücklich? Wer sich die
wohlhabendere Seite der Gesellschaft näher ansieht,
dem/der fällt auf, dass auch hier grundsätzliche
Unzufriedenheiten bestehen. Unsere Gesellschaft ist schwer
drogenabhängig (Medikamente, Alkohol, Nikotin, Zucker,
Koffein, etc.), gewalttätig (öffentliche, private, verbale oder
tätliche Gewalt gegen Kinder, Frauen, Andersdenkende,
MigrantInnen, etc.), “verkopft” (Körper als Tragevorrichtung
für den Kopf - krankheitsanfällig und physisch unbewußt),
neigt zur Depression (im Jahre 1999 haben sich in der BRD
11.100 Menschen umgebracht - mehr als Verkehrsopfer)
und mit mangelndem inneren Bezug zur Umwelt (Natur als
großer Freizeitpark für den Menschen). Der einzelne
Mensch verschwindet immer mehr in der
Bedeutungslosigkeit. Er wird austauschbar und das, was er
sagt, besitzt nicht mehr die Relevanz, wie vielleicht vor 30
Jahren. In der Diskussion um die sogenannte Postmoderne
spricht der kanadische Philosoph Jean Lyotard vom “Tod
des Individuums”. Die Bedeutung des eigenen Handelns
relativiert sich vor der Komplexität der gesellschaftlichen
Möglichkeiten und deren Vielfalt.
Der Anarchismus hätte die Möglichkeit, dem Individuum eine
Perspektive anzubieten, die dem/der Einzelnen eine
Aufwertung des eigenen Handeln innerhalb eines intakten
Sozialgefüges verschafft. Der Mensch und nicht nur seine
Arbeitsleistung steht hier im Mittelpunkt, auch wenn er sich
gemäß der anarchistischen Theorie nicht als Mittelpunkt der
Natur begreift. Doch die meisten der Aktionsformen der
anarchistischen Bewegung sind nicht mehr zeitgemäß.
Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit
Bestimmte Ansätze, andere Menschen anzusprechen, um
mit ihnen gemeinsam Politik zu machen, sind veraltet.
Aktionsformen, die vor 100-200 Jahren die Aufmerksamkeit
der Massen auf sich gezogen haben, sind heute längst
überholt.
Wer liest sich denn noch Flugblätter durch und identifiziert
sich mit deren Inhalten? Wer fühlt sich heute angesprochen,
wenn es darum geht, den eigenen Wohlstand in Frage zu
stellen? Wer will sich gerne zu den einkommensschwachen
Schichten zählen? Wer sucht - ganz aus Eigenantrieb -
eine anarchistische Gruppe auf, um sich ihr anzuschließen?
Aktionsformen wie die üblichen Demonstrationen, Infotische,
Flugblätter erreichen heute kaum noch Menschen. Wo
liegen heute die Anknüpfungspunkte von AnarchistInnen und
dem “Rest der Gesellschaft”? Diese Frage ist nicht nur
hinsichtlich des Anarchismus interessant. Auch die GRÜNE
LIGA sollte sich fragen, ob ihre Aktionsformen noch
“zeitgemäß” sind und wen sie damit erreicht.
Politische Aktionsformen sind heute ohne ausgereiftes
PR-Konzept (siehe z.B. Greenpeace, die Berliner
Anti-Olympia-Kampagne, Aktion Notausgang gegen rechts)
relativ erfolglos. Wer seine Botschaften bekannt machen
will, muss sich den (subtilen) Mitteln der Werbung bedienen
(beispielsweise beim Spendenmailing der GRÜNEN LIGA
erfährt mensch so etwas). Zudem werden wir heutzutage von
Informationen überflutet - im Fernsehen, Internet, im
Briefkasten, etc. Das Internet als Plattform “gleichberechtigt”
miteinander vernetzter User bietet zudem Möglichkeiten des
Austausches. Will der Anarchismus die ganze Bevölkerung
auf einmal erreichen? Welche Wirkung haben “plakative”,
symbolische Aktionen in der Öffentlichkeit? Welche Macht
und wieviel finanzielle Mittel werden benötigt, um politische
Botschaften an die “breite Masse” zu transportieren?
Nach PR-Grundsätzen funktioniert ein Konzept nur, wenn es
auf vielen Ebenen gleichzeitig einen Synergieeffekt
beinhaltet, egal, ob lediglich im regionalen oder
bundesweiten Rahmen. Hinzu kommen Kriterien wie
Kontinuität, Aktualität, (Fach-) Information und Exklusivität.
Wer wie die anarchistische Bewegung seine Ideen
verbreitern will, kommt um ein ganzheitliches PR-Konzept
nicht herum.
Dieses ist bis auf wenige Ausnahmen in der anarchistischen
Bewegung nicht zu erkennen. Es stellt sich hierbei die
Frage, ob es den Prinzipien des Anarchismus entspricht,
mit den Mitteln zu kommunizieren, mit denen die Menschen
“verblödet” werden. Aber: “verblödet” werden kann mensch
mit allem, was er/sie zu lesen bzw. zum Konsumieren
bekommt. Die Frage nach einem zeitgemäßen PR-Konzept
ist nicht das einzige Problem der anarchistischen
Bewegung, in der Öffentlichkeit Gehör zu finden.
AnarchistInnen leben gefährlich
Wer nach außen hin offen seine/ihre “anarchistische
Gesinnung” trägt, begibt sich in Gefahr, von Rechtsextremen
überfallen zu werden. Z.B. ist in Schweden letzten Herbst
der 41-jährige Anarchosyndikalist Björn Söderberg von drei
Neonazis erschossen worden. Er hatte die Behörden auf
neonazistische Aktivitäten hingewiesen. In der
ost- schwedischen Stadt Gävle wurde zeitgleich auf ein Büro
der anarchistischen Organisation SAC ein
Sprengstoffanschlag verübt. Diese Fälle erstrecken sich
nicht nur auf Schweden, sondern sind in allen Ländern
anzutreffen - wenn auch in unterschiedlicher
Gewaltschwelle. Historisch gesehen standen AnarchistInnen
an vorderster Front gegen faschistische Organisationen.
Gleich nach der Macht- übernahme der Nazis waren die
AnarchistInnen neben den KommunistInnen die ersten, die
ermordet wurden. Der Schriftsteller Erich Mühsam wurde wie
viele andere Mitglieder anarchistischer oder
kommunistischer Organisationen mit als erste verschleppt
und hingerichtet. Ähnliche Schicksale ereilten viele
AnarchistInnen in den Diktaturen in Italien, Spanien,
Sowjetunion, Griechenland, Türkei und anderswo.
Der wachsende Rechtsextremismus zeigt eine Schwäche
der Linken. Er ist einerseits Ausdruck einer sozialen
Unzufriedenheit, andererseits eine Gefahr für
eman- zipatorische Ansätze. Doch nicht nur der
Rechtsextremismus macht den AnarchistInnen zu schaffen.
Der Staat sieht es zudem nicht gerade als “demokratisch”,
von AnarchistInnen abgeschafft zu werden. Alles, was im
Sinne der “Freiheitlich Demokratischen Grundordnung” der
BRD als “demokratiefeindlich” eingestuft wird, unterliegt dem
Paragraphen 129a, StGB (Bildung, Unterstützung und
Werbung einer “terroristischen Vereinigung”). Anarchistische
Gruppen, auch wenn sie sich “gewaltfrei” nennen, stehen
zumindest unter Beobachtung des Staatsschutzes (zu
Ostzeiten hat die Stasi über sie gewacht). Es gibt
hierzulande zwar relative Pressefreiheit, jedoch auch
ausreichend Fälle von politischer Pressezensur (im Westen
wie im Osten ebenso vor 1990). Das ist alles wichtig, um
einzuschätzen, unter welchen Bedingungen in der BRD
Soziale Bewegungen Politik machen können.
Anarchistische Gruppen bewegen sich ständig in einer Art
Grauzone zwischen demokratisch garantierter
Meinungsfreiheit und Überwachung sowie Verfolgung durch
den Staatsschutz u.a. auf Grundlage des Paragraphen 129a,
StGB. Das alles sollte jedoch nicht abschrecken, seine
Meinung kundzutun und sich politisch zu betätigen. Wie
heißt es in diesem Zusammenhang: “wer sich nicht bewegt,
spürt auch seine Fesseln nicht”.
Bookchins Öko-Anarchismus
Zum Schluss dieser Trilogie will ich dort enden, wo die
Umweltbewegung bzw. Menschen innerhalb der GRÜNEN
LIGA zu diskutieren beginnen. Dazu ziehe ich den
us-amerikanischen Anarchisten und Philosophen Murray
Bookchin heran. Er diskutiert in seinen Büchern u.a. die
Umweltbewegung aus anarchistischer Sicht. Bookchin
gehört zu den Theoretikern, die sich mit zeitgemäßen
ökologischen Fragen auseinandersetzen.
Er schreibt: “Mit dem endlosen Palaver über eine mögliche
ökologische Apokalypse - sei es aufgrund der
Ver- schmutzung, der industriellen Expansion oder des
Bevölkerungswachstums - wird die eigentliche Krise der
Menschheit verschleiert, die nicht allein technologischer
oder ethischer, sondern von tiefgreifender gesellschaftlicher
Art ist. Statt mich mit dem Ausmaß der Umweltkrise zu
befassen oder mich mit der oberflächlichen Denunzierung
‘Umwelt- verschmutzung bringt Profite’ zu begnügen, anstatt
zu behaupten, dass irgendein abstraktes ‘Wir’ dafür
verantwortlich ist, wenn zu viele Kinder geboren werden oder
eine Industrie zuviele Gebrauchsgüter herstellt, möchte ich
fragen, ob die Wurzeln der Umweltkrise nicht bis an die
Grundfesten unserer Gesellschaft reichen und ob die
Veränderungen, die nötig sind, um ein neues Gleichgewicht
von Natur und Gesellschaft herzustellen, nicht vielmehr von
einem grundlegenden Wiederaufbau der Gesellschaft entlang
ökologischer Linien abhängen. (...) ‘Umweltschutz’
hinterfragt nicht das grundlegende Selbstverständnis der
gegenwärtigen Gesellschaft, dass der Mensch die Natur
beherrschen müsse; im Gegenteil: sie versucht diese
Herrschaft durch die Entwicklung von Techniken zu
erleichtern, die die Risiken der Naturbeherrschung
verringern.”
Weiterhin führt Bookchin aus: “Wenn wir die ökologische
Katastrophe meistern wollen, müssen wir dezentralisieren,
die bioregionalen Formen der Produktion und des Anbaus
von Nahrungsmitteln wieder einführen, unsere Technologien
differenzierter gestalten, sie wieder auf menschliche Maße
zurecht schneiden und überschaubare demokratische
Formen entwickeln. (...) Für mich liegt die Bedeutung
alternativer Technologien nicht nur in der Erneuerbarkeit ihrer
Energiequellen; unendlich mehr beschäftigt mich die
Vorstellung, dass diese Technologien einen erneuten
Kontakt des Menschen zum Boden, zur Tier- und
Pflanzenwelt, zur Sonne und zum Wind ermöglichen, kurz:
dass sie zu einer neuen Sensibilität für die gesamte
Biosphäre führen.”
Sogenannte Öko-AnarchistInnen wie Janet Biehl oder
Murray Bookchin kritisieren, dass die Menschen die Umwelt
nach Profitinteressen und Machtstreben gestalten. Sich
selbst als Teil vom großen Ganzen wahrzunehmen, ist durch
die Bedingungen der Industriegesellschaft weitgehend
verloren gegangen. Der Anarchismus ist ein Weg, der die
Menschen zu einem schonenden Umgang mit sich selbst
und der Umwelt führt. Anstatt sich zusehr an kleinen
Problemen den Kopf zu zerbrechen und ihre Kraft auf
langfristig aussichtslose Reformprojekte zu setzen, sollten
die Menschen mit alternativen Lebensweisen anfangen.
Schließlich soll Veränderung auch für den Einzelnen Spaß
und Sinn bringen. Murray Bookchin formulierte es 1981 so:
“1968 schrieben französische Studenten jenen Wahlspruch
‘Seid realistisch - tut das Unmögliche’ an die Mauern in
Paris; ich füge diesem Slogan ein weiteres Wort hinzu:
‘Wenn wir nicht das Unmögliche zuwege bringen, wird das
Undenkbare eintreten.” Ist das zeitgemäß?
Oliver C. Pfannenstiel
von der Redaktion des 'Alligator'
Zeitung der Grünen Liga: www.grueneliga.de
Zum ersten Teil
Zum zweiten Teil