Sie ist es, die in Weihnachtsliedern besungen wird und mehr als jeder andere Baum von der Kaltherzigkeit solcher Sentimentalität zu berichten weiß: die Weißtanne. Sie ist es auch, die - wenn wir bereit sind, ihren Schrei zu hören - darüber zu klagen weiß, was Gedenktage und ganze Gedenkjahre bedeuten: die Ersetzung von Denken durch Gedenken. Denn sie, die Weißtanne (Abies alba) wurde zum Baum des Jahres 2004 gekürt und im Grunde wissen wir alle: Es wird ihr nichts nützen.
Nach wie vor ist die Weißtanne in vielen Gebieten weiter auf dem "absteigenden Ast". Frech schallt ihr selbst von Fachleuten entgegen, sie sei "mimosenhaft". Tatsächlich reagiert sie empfindlicher auf Luftverschmutzung als andere Baumarten. Sie wies dadurch aber in einer Art Wächterinfunktion - die allerdings vergeblich war - schon Jahre bevor das Wort vom Waldsterben kreiert wurde durch das "Tannensterben" auf die menschengemachten Ursachen hin. Inzwischen ist sie vielerorts vom Aussterben bedroht und im Jahr 2003, als Greenwash-Ministerin Künast wie zum Hohn das Ende des Waldsterbens verkündete1, beschleunigte sich ihre Agonie. Die Statistiken beweisen, daß die Zerstörung in den Wäldern inzwischen sogar schlimmer ist als in der ersten Hälfte der achtziger Jahre.
Die Weißtanne ist die Baumart mit dem stärksten Rückgang ihrer Vorkommen in den letzten 200 Jahren. 90 Prozent der ursprünglichen Fläche sind verloren. In Sachsen, wo 1955 noch rund 60.000 ausgewachsene Weißtannen gezählt wurden, finden sich heute nur noch 1.600 Exemplare mit über 60 Jahren. In vier der 16 deutschen Bundesländer steht die Weißtanne auf der roten Liste der vom Aussterben bedrohten Pflanzenarten.
Dabei ist die Weißtanne keineswegs eine Mimose. Die Weißtanne ist mit bis zu 65 Metern der höchste Baum Europas und kann eine Stärke von zwei Meter im Durchmesser erreichen. Sie kann rund 600 Jahre alt werden und ist - im Gegensatz zur Fichte - eine Tiefwurzlerin. Nach den Sturmschäden von 1990 und 1999 wurde sie in der Forstwirtschaft als Stabilisatorin des Waldes wiederentdeckt. Lange Zeit ungeliebt, wird sie vermehrt für "Windmäntel" angepflanzt, da die Unwetter immer heftiger werden und Stürme und Regenfälle ganze Waldflächen umgelegt und Muren oder Schnee- und Steinlawinen ausgelöst haben.
Die Weißtanne hat ihren Namen von ihrer auffallend hellgrauen Rinde und kann daher eigentlich nicht mit dem gewöhnlichen Fichten-Tannenbaum verwechselt werden. Anders als fast alle übrigen Nadelbäume haben Weißtannen keine hängenden, sondern stehende Zapfen. Sie sind nicht nur anfällig gegen Luftverschmutzung, sondern auch gegen Wildverbiß. Nicht zuletzt dies ist der Grund, weshalb sie bei deutschen Förstern nicht sonderlich beliebt war.
Überhaupt haben es ihre Nachkommen schwer, die ersten Lebensjahre zu überstehen. Eichhörnchen machen sich über die Zapfen her, der Zünzler, ein Käfer, mag sie ebenfalls zum Fressen gern, sobald sie als Samen aus den Zapfen fallen. Gelangen sie mit viel Glück auf den Waldboden, wenige von vielen Tausend, tummeln sich dort zahllose Mäuse, die sogar noch im Winter unterm Schnee nach den schmackhaften, recht großen Samen suchen. Es dürfte ein großer Zufall sein, wenn schließlich der eine oder andere Same nicht gefunden und auch von einer Pilzkrankheit verschont geblieben im Frühjahr zu keimen beginnt. Ragt dann das zarte Pflänzchen aus dem Boden, wird es auch schon vom Wild als bevorzugter Leckerbissen gesucht. Wird sie nicht eingezäunt, hat eine junge Weißtanne kaum eine Chance, nicht entdeckt zu werden. Ohne solchen Schutz wird sie mit ziemlicher Sicherheit bevor sie eine sichere Höhe von 3 Metern erreicht hat, vom Reh- und Gamswild jährlich mehrfach verbissen, vom Bock gefegt und vom Rotwild am Leittrieb gekürzt.
Am Heiligen Abend 1971 schreckte der TV-Journalist und Buchautor Horst Stern die Deutschen zur besten Sendezeit aus ihrer weihnachtlichen Gemütlichkeit hoch. Mit seinen "Bemerkungen über den Rothirsch", einem im Bayerischen Wald gedrehten abendfüllenden Film, machte er ein Förster- und Jäger-Tabu zum Thema einer öffentlichen Debatte. Jägerei und Forstzunft gerieten in Panik, hatte doch bereits wenige Wochen zuvor Deutschlands oberster TV-Tierschützer Grzimek in seiner überaus populären Sendung "Ein Platz für Tiere" gefordert, es müßten neun von zehn Hirschen sterben, damit im Bayerischen Wald ein richtiger Nationalpark entstehen könne.
Das jahrhundertelang streng gehütete Geheimnis der Förster und Jäger wurde im grellen Licht der Öffentlichkeit zum allgemeinen Ärgernis: Jagdliche Schalenwildhege und neofeudalistischer Trophäenkult ruinieren den deutschen Wald. Daß Horst Stern diesen Skandal ausgerechnet im Bayerischer Wald enthüllte, wo Forstleute so entschieden behauptet hatten, das plante Naturschutzkonzept werde den Wald vernichten, erschütterte deren Glaubwürdigkeit
und Ansehen zutiefst.
Alle in den Jahren seither erreichten Verbesserungen der Jagdgesetzgebung zugunsten der Wälder, wie Einschränkung der Fütterung, Vegetationsgutachten als Grundlage der Abschußplanung und Bewegungsjagden auf Rehwild mußten gegen den erbitterten Widerstand eines uneinsichtigen Jagdschutzverbandes durchgesetzt werden. Doch nach wie vor sind die Bestände an Reh und Hirsch zu hoch.
Doch auch bei Schreinern und Zimmerleuten war die Weißtanne bis in die jüngste Zeit nicht sonderlich beliebt. Der Holzhändler machte gar einen Preisabschlag, wenn in dem Holzganter der Anteil von Tanne etwas höher war. Es mußten erst die Japaner kommen, um ihnen zu sagen, daß sich die Tanne vorzüglich für den Holzhausbau in Erdbebengebieten eigne, für den Innenausbau, ja auch für Möbel.
Die Tannenbaum-Sentimentalität zur Weihnachtszeit ist übrigens historisch eine recht junge Angelegenheit. So stand der erste urkundlich erwähnte Weihnachtsbaum 1539 im Straßburger Münster. Vermutlich ist dieses emotionale Placebo eine Reaktion auf die Brutalität und Verrohung durch die beginnenden Industrialisierung, die über die relativ stabile Welt des Mittelalters hereinbrach. Es wäre sicherlich interessant zu untersuchen, ob es nicht ähnliche Rituale in der Antike gab, während ums Mittelmeer herum für den Kahlschlag der Wälder gesorgt wurde.
Adriana Ascoli
Anmerkungen:
1 Siehe auch unsere Artikel
'Künast zum Haartest ?' v. 15.07.03
und
'Waldsterben trotzt Künast' v. 23.10.03