Auch 32 Jahre nach dem Radikalenerlaß keine Entschädigung
für Opfer
Es war einmal eine Regierung in Deutschland, die mit dem Slogan "Mehr Demokratie wagen" Begeisterung auslöste. Viele der in den späten sechziger Jahren anpolitisierten Menschen nahmen den Slogan für bare Münze - vielleicht auch der erste SPD-Kanzler der Republik selbst. Benötigt wurde eine SPD-Regierung für Deutschland allerdings, um - ganz im Gegenteil - die geweckten Demokratiegelüste wieder "in geordnete Bahnen", ins Prokrustesbett des Parlamentarismus, zu lenken. Die Sorge der Herrschenden in West und Ost war groß, daß die "mündigen Staatsbürger"Innen - einmal auf den Geschmack gekommen - tatsächlich die von ihnen "ausgehende" Staatsmacht in die eigenen Hände nähmen. Und das würde nichts anderes bedeuten, als die Verfügung über die Produktionsmittel zu demokratisieren. Kaum je zuvor oder danach war dies so zum Greifen nahe wie in den späten 60er und frühen 70er Jahren. Das Schreckgespenst - nein: schon lange nicht mehr das des Kommunismus - der Beispiele in der CSSR und in Chile versetzte die Herrschenden in Ost und West in Panik...
Ein "Studentenführer" namens Rudi Dutschke rief - ganz unmarxistisch und in Unkenntnis des realen Machtzentrums - in Deutschland den "Marsch durch die Institutionen" aus. Und der deutsche Oberdemokrat und Kommunistenhasser Willy Brandt mißverstand dies als reale Bedrohung. In selten so unverstellt dargebotener Einheitsfront mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer antwortete er mit dem Radikalenerlaß. Aus heutiger Sicht gesehen mutet dies alles als Farce an. Denn unsere "rot-grüne" Bundesregierung ist der beste Beweis, welch überangepaßte Spießbürger, Krieger und Umweltfeinde beim "Marsch durch die Institutionen" aus den "68ern" geworden wären.
Ja, sind die Schröders und Schilys, Fischers und Trittins denn keine "68er"? Wer sich die Biographien dieser "Führungsriege" einmal anschaut, wird leicht erkennen, daß dies ebenso pure Propaganda ist wie fast alles andere, was aus deren Mündern kommt. Aber auch ohne Marsch durch die Institutionen hat sich der weit überwiegende Teil derer, die damals demonstrierten, im SDS engagierten oder eine Zeit lang in Kommunen lebten, spätestens während der 16 Jahre des Kohl-Regimes bis zur Unkenntlichkeit angepaßt. Von Äußerlichkeiten, einer Vorliebe für schwarze Hemden unterm Jackett oder einem nach Feierabend abrufbaren Jargon, der an die Frankfurter Schule erinnern soll, einmal abgesehen. Die Reminiszenzen an die Zeit ihrer Lebendigkeit erinnern oft fatal an die Kriegserinnerungen ihrer Vätergeneration. Von der 68er Zeit ist nichts als Folklore geblieben.
Nein, nicht ganz. Die kleine Minderheit derer, die sich hierzulande in Verkennung des realen Charakters der Ostbockstaaten zum "Kommunismus" bekannten - oder auch nur dessen verdächtigt wurden, kam unter die Räder. Sie wurden unter einer "sozial-liberalen" Bundesregierung mit einer Härte verfolgt, die in vielen anderen europäischen Ländern bis in konservative Kreise ein Schaudern verursachte. Nicht umsonst ging der Begriff "Berufsverbot" als geläufiges Fremdwort in den Wortschatz der meisten europäischen Sprachen ein. Einfache Briefträger oder Lokführer wurden verfolgt, LeherInnen mit Inquisitions-ähnlichen Verfahren gequält und auf die Straße gesetzt, ganze Lehrergenerationen zur Ableistung formelhafter "fdGO"-Demutsfloskeln genötigt und durch jahrelange Bespitzelung einer scheibchenweisen Amputation des Rückgrades unterzogen.
Der von Willy Brandt und den Ministerpräsidenten der Bundesländer ausgebrütete Radikalenerlaß kam zunächst ganz harmlos formuliert daher: "Die Einstellung in den öffentlichen Dienst setzt nach den genannten Bestimmungen voraus, daß der Bewerber die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt. Bestehen hieran begründete Zweifel, so rechtfertigen diese in der Regel eine Ablehnung." Da sich nun die "Verfassungsfeinde" in der Regel nicht an der Form ihrer Nase erkennen ließen und die geringe Zahl beispielsweise an bekennenden DKP-Mitgliedern als Opfer offensichtlich zu unbefriedigend gewesen wäre, setzten die Herren ein gigantisches bürokratisches Räderwerk in Gang. Mit der sogenannten Regelanfrage wurden die Verfassungsschutzämter 3,5 Millionen mal mit der Verfertigung von Dossiers beauftragt und zu Spitzenleistungen angetrieben. Auch bereits beamtete Lokführer, Postboten oder LehrerInnen konnten nicht vor der "Durchleuchtung" sicher sein. Ergebnis waren rund 10.000 Berufsverbots-Verfahren, 1.250 Ablehnungen von BewerberInnen und 265 Entlassungen. Die Betroffenen hatten damit keine oder kaum eine Möglichkeit mehr, den gelernten Beruf auszuüben.
Dabei suchten die "Verfassungsschützer" außerordentlich gründlich. Die Mitgliedschaft in einer kommunistischen (oder sich selbst so bezeichnenden) Organisation war keineswegs alleiniges Kriterium. Um in die Mühlen des Berufsverbots-Verfahrens zu kommen, genügte schon die Mitgliedschaft bei der VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes), der DFG/VK (Deutsche Friedensgesellschaft/Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen) oder der Vereinigung demokratischer Juristen.
Doch nicht nur bei Linken, auch bei Liberalen oder konservativen Juristen geriet der Radikalenerlaß in die Kritik. Als allzu willkürlich erwies sich die staatstragende Gesinnungsschnüffelei. Und das Kriterium, als Beamtin oder Beamter jederzeit "aktiv für die freiheitlich-demokratische Grundordnung" einzutreten, war beliebig dehnbar. In vielen Städten gründeten sich Bürgerinitiativ-ähnliche Anti-Berufsverbots-Komitees, die Betroffene betreuten und durch Pressearbeit und vielfältige Aktionen das Thema in die öffentliche Debatte hievten. So sahen sich bald auch Zeitschriften wie der 'spiegel' oder der 'stern' gezwungen, das Wort Berufsverbot nicht länger zu ignorieren.
Früh meldete sich Heinrich Böll in der öffentlichen Diskussion zu Wort und behandelte das Thema beispielsweise in seiner Erzählung 'Du fährst zu oft nach Heidelberg'. Auch Alfred Andersch mischte sich ein und löste 1976 heftige Reaktionen mit einem polemischen Gedicht zur Praxis der Berufsverbote aus. Erst Jahre später erkannte Willy Brandt den Radikalen-Erlaß als "Irrtum". Im Verlauf der achziger Jahre stiegen immer mehr Bundesländer möglichst geräuschlos aus dem Verfahren aus und die "Regelanfrage" wurde nur noch in Baden-Württemberg und Bayern praktiziert. Doch Konsequenzen in Form einer Rehabilitierung oder Entschädigung der Opfer lassen immer noch auf sich warten. Das Thema Berufsverbote geriet zudem mehr und mehr in Vergessenheit. Und auch zum dreißigsten Jahrestag des Radikalen-Erlasses im Jahr 2002 wurde es in der Öffentlichkeit kaum mehr wahrgenommen. Dabei hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im "Fall Vogt gegen Deutschland", bei dem es um die Entlassung der Deutsch- und Französisch-Lehrerin Dorothea Vogt aus dem Staatsdienst ging, gegen "Deutschland" entschieden. In seinem Urteil kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zum Ergebnis, daß mit der deutschen und in diesem Fall insbesondere niedersächsischen Berufsverbots- Praxis die Artikel 10 (Meinungsfreiheit) und 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) der Europäischen Menschenrechts-Konvention verletzt wurden.
Klaus Schramm
Anmerkung:
Siehe auch unsere
Dokumentation eines Aufrufs mit der Forderung nach Rehabilitierung