Gedanken zu einem nicht ganz widerspruchsfreien Verhältnis.
Teil 2: "National"-Sprache, Dialekte und die ArbeiterInnenbewegung
Nicht zuletzt in den Debatten um die so genannte "Integration" von ImmigrantInnen kehrt ein
Argument immer wieder: die Sprache als "Integrationsmarker". ImmigrantInnen, so wird wie
selbstverständlich konstatiert, hätten in Deutschland die deutsche Sprache zu erlernen. Hier
feiert unbemerkt eine Annahme fröhliche Urständ, die vor einhundert bis zweihundert Jahren und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in verschiedenen Ländern Europas noch zu Krieg, Vertreibung und Unterdrückung geführt hat; es wurde und wird wie selbstverständlich unterstellt, die BewohnerInnen eines einheitlichen "National"-Staats sollten eine einheitliche "National"-Sprache sprechen.
Dieser zweite Teil der Artikelserie "Politik, "Nation" und Sprache" widmet sich der Durchsetzung der deutschen "National"-Sprache gegenüber den Dialekten. Obwohl diese Auseinandersetzungen lange vor dem 19. Jahrhundert begannen, fanden sie mit Kapitalismus und Industrialisierung einen die Entwicklung faktisch abschließenden Höhepunkt. Die ArbeiterInnenbewegung war dabei ein Akteur, der die Verbreitung der deutschen Standardsprache unter den ArbeiterInnen vorantrieb. - Die folgenden Teile der Artikelserie werden sich mit der Entwicklung in anderen europäischen Staaten und mit der Sprachpolitik der Europäischen Union befassen. Der erste Teil der Artikelserie hat die Zusammen- hänge zwischen der Entstehung moderner "National"-Staaten und "National"-Sprachen beschrieben und die Folgen für sprachliche Minderheiten skizziert.
Die "National"-Staaten mussten bei ihrem Bemühen, sich einheitliche "National"-Sprachen als
Kommunikationsmittel und als verbindende Symbole der entstehenden "Nationen" zu schaffen, nicht bei Null ansetzen. Sprachliche Vereinheitlichungstendenzen lassen sich im Deutschen seit mindestens den höfischen Gesellschaften des Mittelalters beobachten, in der frühen Neuzeit wurde die Auseinander- setzung zwischen Protestanten und Katholiken auch als Auseinandersetzung zwischen dem lutheranischen Deutsch und dem "katholischen" Deutsch Süddeutschlands geführt. Es blieb aber den europäischen "National"-Staaten der Moderne vorbehalten, den Prozess sprachlicher Vereinheitlichung weitgehend zu vollenden und die so entstandenen Standardsprachen (Hochsprachen) auf alle Regionen, Schichten und Klassen zu verbreiten. Hierzu wurden, unter staatlicher Aufsicht oder aber zumindest mit staatlicher Unterstützung, Zeichensetzung und Orthografie einheitlich geregelt, ein offizieller Wortschatz festgelegt und eine verbindliche Grammatik geschaffen.
Für jede der heutigen europäischen Standardsprachen kamen bei der Auswahl einer zu
standardisierenden Sprachform grundsätzlich mehrere Dialekte und Soziolekte in Frage. In Folge dessen kam es zu sprachlichen Konflikten, die oft als Konflikte zwischen Peripherie und Zentrum oder zwischen mehreren Zentren in Erscheinung traten. Im schon in der frühen Neuzeit stark zentralistisch geprägten Frankreich beispielsweise wurde der Pariser Dialekt und Soziolekt der dortigen Oberschicht als Standardsprache durchgesetzt, geradezu idealtypisch lässt sich die französische Sprachgeschichte als Konflikt zwischen Peripherie und Zentrum beschreiben. In England war die Londoner Varietät die maßgebliche, in Italien die in der frühen Neuzeit politisch bedeutsame toskanische. Die deutsche Standardsprach- entwicklung basierte nicht direkt auf einem bestimmten Dialekt, weist aber deutliche Einflüsse der lutherischen Sprache sowie des "Meißnischen" auf.
Bei der Auswahl einer Varietät kamen stets nicht nur regionale, sondern auch soziale Kriterien zum Tragen. Die europäischen "National"-Sprachen basieren auf Sprachformen, die zum Zeitpunkt der Nationalstaatsgründung von den sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Eliten gesprochen wurden. Nur sie verfügten über das notwendige Prestige, nur sie versprachen in Zeiten einer zunehmenden sozialen und territorialen Mobilität Aufstiegsmöglichkeiten, weshalb auch nur sie für eine größere Zahl von Menschen attraktiv sein konnten. Politische und ökonomische Herrschaft spiegelt sich auf diese Weise in der Sprache, soziale Sicherheit und die berufliche Existenz waren (und sind) für die Mehrheit der Menschen an das Beherrschen der jeweiligen Standard- sprache gebunden, die zugleich die Sprache der Herrschenden ist.
Der Erziehung in der Schule kam (und kommt) eine besondere Bedeutung bei der Durchsetzung der deutschen Standardsprache zu. Einheitliche "National"-Sprachen sind ohne einen weitgehend einheitlichen Schulunterricht undenkbar. Erst wenn eine Sprache unter der Bevölkerung verbreitet ist, kann sie "National"-Sprache sein, denn eine Varietät, die nur von einem Bruchteil der Bevölkerung gesprochen wird, kann nur schwerlich als die "Nation" einendes Symbol dienen. Als Schulsprache erhält eine Sprache nicht nur ein enormes Prestige, sondern kann auch allen SchülerInnen in gleicher Weise vermittelt werden. Noch im 18. Jahrhundert konnten die Sprachen in allen Ländern Europas nur einen Bruchteil der Bevölkerung erreichen. Erst die im Laufe des 19. Jahrhunderts fast überall eingeführte allgemeine, staatlich durchgesetzte Schulpflicht ermöglichte Sprachunterricht für alle Kinder (zugleich verdrängten die "National"-Sprachen das Lateinische als Unterrichtssprache und das Französische als Sprache der Bildung). In Deutschland lag die Analphabetismus-Rate 1800 noch bei etwa 50 Prozent, hundert Jahre später war sie auf ein Prozent gefallen.
Deutscher Sprachunterricht sorgte aber nicht nur für eine weite Verbreitung der deutschen Sprache, sondern auch der staatlich-nationalistischen Ideologien. Die Erziehung zum "Staatsbürger" umfasste nicht nur die sprachliche An-Erziehung einer einheitlichen Sprache (und Ab-Erziehung der Dialekte), sondern vermittelte besonders nach der Reichsgründung 1870/71 auch vermeintliche Tugenden wie Stillsitzen, Unterwürfigkeit und Nationalchauvinismus. Sprachunterricht im gesamten 19. Jahrhundert war äußerst autoritär; sprachliche Normen unhinterfragt zu akzeptieren, verband sich mit einem Verständnis von Menschsein, für das soziale Unterordnung und Passivität am wichtigsten war. Die "Nation" war dabei als Aufsatzthema und im Geschichts- und Literaturunterricht präsent. Das moderne Schulwesen und das moderne Staatswesen hängen historisch und ideologisch auf das Engste zusammen.
Eine weitere wesentliche Ursache für den Schwund der Dialekte im 19. und 20. Jahrhundert war die zunehmende Binnenmobilität der Gesellschaft. Die Entstehung großer industrialisierter Städte (z.B. in den Regionen Berlin, Frankfurt, Stuttgart und im Ruhrgebiet) ließ Menschen verschiedenster Herkunft und verschiedenster Dialekte zusammenkommen, die sich in der neuen Umgebung sprachlich verständigen mussten. Es bildeten sich städtische Umgangssprachen, die ganz wesentlich auf Sprachformen der Ober- und Mittelschichten basierten und sich zunächst auch weitgehend auf diese beschränkten. Die Umgangssprachen glichen sich über weite Regionen hinweg immer stärker einander an, unterstützt durch die zunehmende Alphabetisierung und durch die immer weiteren Verbreitung von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern.
Dieser Prozess war allerdings verbunden mit starken sprachlichen und sozialen Unterschieden
innerhalb der Städte. Das städtische Industrieproletariat, das sich im 19. Jahrhundert bildete, war aufgrund seiner Herkunft aus vielen Regionen und Ländern von einer großen dialektalen Vielfalt und generell von einem stärkeren Dialektgebrauch geprägt. Dies benachteiligte es gegenüber den alteingesessenen kleinbürgerlichen Schichten, die schon länger an den sprachlichen Ausgleichsprozessen in den Städten teilgenommen hatten. Die soziale Zugehörigkeit war sprachlich deutlich erkennbar - ein Zustand, der sich zwar heute deutlich gemindert hat, der aber bei Weitem nicht verschwunden ist. Die Unterschichten waren und sind vor diesem Hintergrund gezwungen, sich sprachlich der Ober- und Mittelschicht- sprache anzupassen, woll(t)en sie ihre soziale Situation verbessern.
Das zentrale sprachbezogene Problem der ArbeiterInnen- bewegung des 19. Jahrhunderts war das Fehlen einer eigenen Arbeitersprache. Die oben beschriebenen Sprachformen der Unterschichten und des Industrieproletariats waren untereinander äußerst verschieden. Politische Aufklärung der ArbeiterInnen war unter diesen Umständen nur schwer möglich. Auf das sprachliche Niveau und die sprachlichen Unterschiede konnte keine Rücksicht genommen werden. Sprachlich orientierte sich die ArbeiterInnenbildung deshalb an der sich entwickelnden Standardsprache der Ober- und Mittelschichten und der Universitäten. Sprach- und Rednerschulung wurde aktiv gefördert - besonders nachdrücklich von August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Neben der Vermittlung von Inhalten diente dies auch dazu, Personal für die politischen und sozialen Auseinander- setzungen mit der Bourgeoisie auszubilden. (Möglicherweise kann das Entstehen einer eigenen antibürgerlichen Arbeiterkultur in den 1920er Jahren als verspätete Reaktion auf diese notwendige sprachliche Anpassung interpretiert werden).
Für die politischen und sozialen Kämpfe der ArbeiterInnen- bewegung war jedoch nicht nur das
geeignete Personal, sondern auch ein geeigneter Wortschatz notwendig. Hierzu griff man zunächst auf Vorbilder aus dem französischen utopischen Sozialismus und aus der englischen Ökonomietheorie des Industriekapitalismus zurück; erst im Laufe der Zeit wurden die eigenen Erfahrungen mit Arbeitskämpfen und mit politischer Unterdrückung zu wichtige Quellen eigener Wortschöpfung. Erst in den 1890er Jahren, nach dem Ende der Sozialistengesetze, wurde der politische Wortschatz der ArbeiterInnenbewegung zum Teil der öffentlichen und politischen Gemeinsprache. Erst ab diesem Zeitpunkt wurden Begriffe wie "Proletariat", "Ausbeutung" oder "Lohnsklaverei" Bestandteil breiter politischer Debatten.
Die Entstehung einer einheitlichen "National"-Sprache auf Kosten der Dialekte vollzog also auch die ArbeiterInnen- bewegung nach. Dies verweist darauf, dass trotz aller ideologischen und nationalistischen Gehalte der "National"-Sprachen-Idee einheitliche Sprachen letztlich auch Zeichen und Ergebnisse gesellschaftlicher Modernisierung sind: zeigt sich doch gerade an der ArbeiterInnenbewegung, dass die notwendige politische Selbstorganisation und Artikulation ohne eine einheitliche Sprache und einen einheitlichen theoretisch-agitatorischen Wortschatz nicht möglich war.
Patrick Schreiner
Anmerkung:
Teil 1 - "National"-Staat und "National"-Sprache
erschien hier am 10.04.04