16.03.2003

Artikel

Sozialstaat
unterm Messer

Zu Schröders Regierungserklärung vom 14. März 2003

Während die Metapher von den Schnitten, die in Zeiten der Not bei den sozialen Errungenschaften angesetzt werden müßten, bisher noch an einen verfetteten, unflexibel gewordenen Körper denken ließ, dem vielleicht entsprechend mittelalterlicher Medizin ein paar Schröpfköpfe verpaßt werden, legt die aktuelle wirtschaftspolitische Rede von Bundeskanzler Schröder ganz andere Assoziationen nahe: Medicus Schröder wetzt das Messer für Amputationen und dem "Patienten" Sozialstaat winkt das Schicksal auszubluten...

In seiner (mal wieder) als historisch angekündigten Regierungserklärung hat Bundeskanzler Schröder zum 120. Todestag von Karl Marx im Berliner Reichstag uns das angedroht, was eines Sozialdemokraten (historisch) würdig ist: Sozialabbau. Arbeitslosengeld und Sozialhilfe sollen zusammen gelegt werden - "in der Regel auf dem Niveau der Sozialhilfe". Noch letzten Herbst hatte er den Gewerkschaften die Zustimmung zum Hartz-Konzept mit dem Versprechen abgehandelt, die Arbeitslosenhilfe nicht abzusenken. Sahra Wagenknecht nennt Schröder ganz zu Recht einen Betrüger und darin einen Wiederholungstäter ('junge welt' vom Wochenende). Daß Schröder immer und immer wieder betrügt, hätten die Gewerkschaften wissen können und deshalb billigt sie Schröder augenzwinkernd mildernde Umstände zu.

Betrugsfall Arbeitslosenhilfe, Betrugsfall Rente,...

Im Jahr 2001 ließen sich die Gewerkschaften die Zustimmung zur Rister-Rente und damit die Zerstörung der paritätisch beitragsfinanzierten Rente mit dem Versprechen abkaufen, das "Eckrentenniveau" von 67 Prozent im Jahr 2030 bliebe unangetastet. Schnee von gestern.

Doch nicht alle lassen sich beliebig oft betrügen - empirisches Material1 hierzu liefert beispielsweise Allensbach. Dieses Institut hatte einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung im Oktober 1998 nach den Erwartungen gefragt, wem die Reformen der neuen "rot-grünen" Regierung nutzen werden: Bei den Antworten standen "Familien mit Kindern" (63%) an der Spitze, gefolgt von"Geringverdienenden" (43%) sowie "Arbeitnehmer, Angestellte, Arbeiter" (42%). 35% erwarteten Verbesserungen für "Arbeitslose" und 33% für "Die Armen". Die gleiche Frage - jetzt allerdings nicht mehr nach der Erwartung, wer profitieren wird, sondern nach der Bewertung, wer profitiert hat - wurde 2002 noch einmal gestellt. Die Einschätzung hat sich nunmehr grundlegend gewandelt: An der Spitze der Profiteure werden jetzt "Die Unternehmer" (43%) genannt, gefolgt von "Die Reichen" (39%). Daß "Familien mit Kindern" von SPD-Grün profitiert haben, glauben noch 30%. Vorteile für "Arbeitnehmer" sehen gerade noch 12%, für Geringverdiener" 9% für "Arme" 6%. Wer Allensbach nicht traut: Es gibt Umfragen SPD-naher Institute, die gleiches besagen. (Z.B. die Studie von Manfred Güllner in "Sicherheit im Wandel - neue Solidarität im 21. Jahrhundert", die den massiven Vertrauensverlust der SPD bei den unteren Einkommensgruppen beschreibt.)

Als die folgenschwerste Amputation dürfte sich noch die "Flexibilisierung des Tarif- und Arbeitsrechts" herausstellen, die auf Abschaffung der Flächentarifverträge hinausläuft. Damit wird die Kampfkraft der Gewerkschaften und letztlich die Solidarität der Arbeiterschaft untergraben. Flächentarifverträge werden in Zukunft musealen Charakter haben. Billigste Hire-and-Fire-Job nach US-amikanischem Vorbild sollen etabliert werden (wer über die Folgen Bescheid wissen will, lese beispielsweise den Artikel 'Barbara Ehrenreich: Arbeit poor'.

Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes soll auf 18 Monate herabgesetzt werden - für unter 55-jährige sogar auf nur 12 Monate. Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen soll ausgedünnt und für das bisherige Krankengeld eine Zusatzversicherung vorgeschrieben werden. Rentenerhöhungen sollen geringer ausfallen und der Kündigungsschutz durchlöchert werden. Der Meisterbrief, Zeichen ehemals "deutscher Qualitätsarbeit" und letzter Rest jahrhundertealter Zunft-Tradition, wird auf die Müllhalde der Geschichte entsorgt.

Für "Rot-grün" scheint jetzt der Zeitpunkt günstig zu sein, den Sozialabbau forciert voranzutreiben. In der letzten Legislaturperiode wurde das neoliberale Klima bereitet und die Gewerkschaftsführung ist weitgehend eingebunden und läßt alles mit sich machen - allenfalls medienwirksame verbalradikale Drohkulissen, hinter denen nicht die geringste Kraft zur Durchsetzung steht, werden von Bsirske und Co. aufgebaut. Was von der Linken übrig ist, wird momentan durch den Irak-Konflikt absorbiert und von der PDS geht sowieso keine Gefahr mehr aus, seit sie einerseits durch den inszenierten Lager-Wahlkampf der letzten Bundestagswahl dezimiert und andererseits über Koalitionsbeteiligungen in Landtagen und in Berlin "in die Pflicht" eingebunden wurde...

Es bleibt die geringe Hoffnung, daß in dem durch die vielen Einschnitte gefühllos gewordenen Körper sich doch noch Widerstandskräfte zu regen beginnen, sobald es ans Mark geht. In der Friedensbewegung könnte sich die Erkenntnis ausbreiten, daß "Öl" nur ein Aspekt des Kapitalismus ist, und es solange Kriege geben wird, solange diese Wirtschaftsform weiter besteht. Es bleibt noch die geringe Hoffnung, daß die globalisierungskritische Bewegung von einer oberflächlichen Kritik und systemimanenten Verbesserungsvorschlägen wie dem einer Tobin-Steuer sich zu einer grundsätzlichen Analyse durchringt.

 

Harry Weber

 

Anmerkung:
1 die Angaben von Allensbach verdanken wir ebenfalls einem Text von Sahra Wagenknecht

 

neuronales Netzwerk